Der Zentralen Notaufnahme (ZNA) kommt in der Versorgung von COVID-19-Patienten in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bedeutung zu [
2]. Im Vordergrund steht die primäre Erkennung und Behandlung von akuten Erkrankungen als Folge einer SARS-CoV-2-Infektion. Die ZNA stellt darüber hinaus einen Filter für COVID-19-Patienten für das gesamte Krankenhaus dar, denn deren frühzeitige Identifikation ist eine Grundvoraussetzung für die Einleitung von Schutzmaßnahmen für Mitarbeiter und Patienten. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei den Patienten mit Risikofaktoren (u. a. Alter, Immundefizienz, Lungen‑, Herz‑, Nierenerkrankungen, Malignome). Diese sog. vulnerable Gruppe muss vor nosokomialen Infektionen in allen Bereichen eines Krankenhauses geschützt werden.
Zur Einführung einer strukturierten Lenkung der Patientenströme im Kontext der COVID-19-Pandemie wurde in dieser Arbeit in der ZNA eines Krankenhauses der Grund- und Regelversorgung ein Modell für die Risikostratifizierung von COVID-19-Fällen entwickelt und organisatorisch umgesetzt. Hierbei wurde das Ziel verfolgt, durch die Veränderungen der Prozessabläufe einerseits eine schnellstmögliche optimale Diagnostik und Therapie der COVID-19-Fälle umzusetzen und andererseits den bestmöglichen Infektionsschutz für Mitarbeiter und Patienten zu gewährleisten.
Methoden
Das Evangelische Krankenhaus Göttingen-Weende ist ein Krankenhaus der Grund- und Regelversorgung und gleichzeitig ein akademisches Lehrkrankenhaus der Universitätsmedizin Göttingen. Das Krankenhaus verfügt über 601 Betten an 3 Standorten mit 15 Fachabteilungen. In der Zentralen Notaufnahme (ZNA) werden pro Jahr ca. 30.000 Notfälle behandelt.
Zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie wurden in der ZNA des Krankenhauses zahlreiche Maβnahmen ergriffen mit dem Ziel, die Prozessabläufe in der ZNA zu beschleunigen und den Infektionsschutz für Mitarbeiter und Patienten zu gewährleisten. Dabei wurden die 3 Säulen der Virusbekämpfung [
3] des Robert-Koch Institutes (RKI) berücksichtigt:
1.
Erhöhung der Behandlungskapazitäten,
2.
Schutz der vulnerablen Gruppen,
3.
Eindämmung der Ausbreitung.
Hierzu wurde neben einer Änderung der räumlichen Strukturierung der ZNA ein neues Modell für die Risikostratifizierung von SARS-CoV-2-Verdachtsfällen und COVID-19-Patienten implementiert: Das Modell wurde auf der Basis der epidemiologischen Kriterien des RKI entwickelt und um interne Falldefinitionen ergänzt. Es umfasst 5 Risikokategorien (RK):
1.
RK I – bestätigte SARS-CoV-2-Infektion,
2.
RK II – begründeter Verdacht,
3.
RK III – differenzialdiagnostische Abklärung,
4.
RK IV – geringe Wahrscheinlichkeit,
Der Behandlungspfad wurde für jede Risikokategorie mit spezifischen Hygienemaßnahmen und definierten Behandlungsorten in der ZNA sowie in der stationären Versorgung verknüpft (Tab.
1).
Tab. 1
COVID-19-Risikokategorien. Zur Risikostratifizierung von SARS-CoV-2-Verdachts- und bestätigten COVID-19-Fällen wurden auf der Basis der RKI-Kriterien 5 Risikokategorien (RK I–V) festgelegt. Jede Risikokategorie ist über spezifische Kriterien definiert und jeweils verknüpft mit definierten Hygieneschutzmaßnahmen, primärem Behandlungsort in der ZNA und Kennzeichen der stationären Versorgung
I | Bestätigte SARS-CoV-2-Infektion | Nasen-Rachen-Abstrich (extern) RT PCR positiv | ZNA-Mitarbeiter: PSA Vollschutza Patient: MNSb Scheuer-Wisch-Desinfektion | Raum Kategorie I | COVID-19-Station |
II | COVID-19 Begründeter Verdacht | Akute respiratorische Symptome oder Fieber plus Kontakt zu bestätigtem COVID-19-Fall in den letzten 14 Tagen oder Übernahme aus Pflegeheim/KH mit und ohne Ausbruchsituation | ZNA-Mitarbeiter: PSA Vollschutz Patient: MNS Scheuer-Wischdesinfektion | Raum Kategorie II | COVID-19 Verdachtsstation |
III | COVID-19 Differenzialdiagnostische Abklärung | Unspezifische Allgemeinsymptome oder Fieber plus Tätigkeit in med. Beruf oder Zugehörigkeit Risikogruppe plus Keine wahrscheinliche Alternativdiagnose | ZNA-Mitarbeiter: PSA Vollschutz Patient: MNS Kontakt-Flächendesinfektion | Raum Kategorie III | COVID-19 Verdachtsstation |
IV | COVID-19 Geringe Wahrscheinlichkeit | Unspezifische Allgemeinsymptome oder Fieber plus Tätigkeit in med. Beruf oder Zugehörigkeit Risikogruppe plus wahrscheinliche Alternativdiagnose | ZNA-Mitarbeiter: MNS, Face Shield Patient: MNS Kontakt-Flächendesinfektion | Raum Kategorie IV | Vorisolation Barrieremaßnahmen |
V | COVID-19 Kein Verdacht | Weder anamnestischer noch klinischer Verdacht | ZNA-Mitarbeiter: MNS, Face Shield Patient: MNS Kontakt-Flächendesinfektion | Raum Kategorie V | Vorisolation Barrieremaßnahmen |
In einer retrospektiven Studie wurde nachfolgend eine Analyse aller stationären Aufnahmen der ZNA durchgeführt zur Beurteilung der Effizienz der getroffenen Maßnahmen und Güte der Risikostratifizierung in der vierwöchigen Hauptphase der COVID-19-Pandemie (26.03. bis 26.04.2020).
Die statistische Analyse erfolgte unter Verwendung von SAS 9.4 und Microsoft Excel mit Bestimmung der absoluten und relativen Häufigkeiten sowie Sensitivität und Spezifität. Für den Gruppenvergleich des Alters wurde der Zweistichproben-t-Test für unabhängige Stichproben eingesetzt. Ein p-Wert von <0,05 wurde als signifikant betrachtet.
Diskussion
Die frühzeitige Erkennung aller Patienten, die mit SARS-SoV‑2 infiziert sind, stellt eine große Herausforderung für eine ZNA dar, wie die Arbeiten von Cho et al. aus dem Jahr 2016 anhand eines Ausbruchs von MERS-CoV („middle east respiratory syndrome-related coronavirus“) durch lediglich einen erkrankten Patienten in der ZNA belegen [
11]. Auch kann ein Krankheitsausbruch unter den Mitarbeitern weitere Patienten gefährden und zu einem erheblichen Ausfall hoch qualifizierten Personals führen [
12].
Für die Diagnostik der floriden SARS-CoV-2-Infektion wird als Goldstandard der molekularbiologische Virusnachweis mittels Reverse-Transkriptase-Polymerase-Kettenreaktion (RT-PCR; [
13‐
15]) eingesetzt. Dieser Test ist jedoch in der Regel zeitintensiv und auch nicht jederzeit und überall verfügbar. Die aktuelle Entwicklung von Point-of-Care und automatisierten Testverfahren [
16,
17] hat hier zu einer erheblichen Beschleunigung der diagnostischen Prozessabläufe geführt. Dennoch gelingt der Nachweis der SARS-CoV-2-Infektion nur in der replikativen Phase der viralen Infektion, da die Kopienzahl im Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion sinkt [
18]. Auch können durch die RT-PCR nicht alle Erkrankten identifiziert werden [
12], wie die klinische Studie bei 138 hospitalisierten COVID-19-Patienten in Wuhan gezeigt hat. In einer weiteren Studie wurde die Sensitivität der RT-PCR sogar mit 71 % signifikant geringer bestimmt als pathologische Veränderungen, die mittels CT-Untersuchung der Lunge detektiert wurden [
19].
Neben den molekularbiologischen Testverfahren stehen mittlerweile auch serologische Verfahren zur Antikörperdiagnostik gegen SARS-CoV‑2 zur Verfügung. Trotz einer hohen Spezifität liegt die Sensitivität dieser Verfahren, u. a. bedingt durch Kreuzreaktivität mit anderen Coronaviren, IgM-Rheumafaktoren, jedoch nur zwischen 70 und 90 % [
20,
21]. Darüber hinaus sind Antikörpertests gerade in der Frühphase der Infektion nicht zur Detektion der COVID-19-Erkrankung in der Notaufnahme geeignet, da eine Serokonversion in der Regel erst in der zweiten Woche der Infektion zu erwarten ist [
15].
Die offiziellen Falldefinitionen des RKI sind für die umfassende Erkennung der an COVID-19 erkrankten Patienten in der Notaufnahme nicht ausreichend. Sie stellen in erster Linie eine Grundlage dar, gezielte Testungen auf COVID-19 durch eine RT-PCR zu initiieren und gleichzeitig die Gesundheitsbehörden bei begründeten Verdachtsfällen zu informieren. Frühzeitig wurde hier in dieser Arbeit somit ein Modell für eine eigene Risikostratifizierung entwickelt und umgesetzt, die eine höhere Sensitivität in der Erkennung der Verdachtsfälle erreicht (88 %). Ein gleicher Ansatz findet sich auch in den Arbeiten von Wee Le et al. [
22] aus Singapur. Hier konnte gezeigt werden, dass die zusätzlichen Falldefinitionen zu einer Steigerung der Sensitivität von 49 auf 84 % in der Identifikation von COVID-19-Fällen geführt hat.
Als Erweiterung hierzu wurde in dieser Arbeit die COVID-Risikokategorie I–V eingeführt. Hierdurch soll erreicht werden, dass besondere Risikogruppen mit chronischen Erkrankungen (COVID-Risikostatus IV, wahrscheinliche Alternativdiagnose) nicht regelhaft mit Patienten zusammen behandelt werden, die ein höheres Risiko (COVID-Risikostatus II und III) haben, an COVID-19 erkrankt zu sein. Diese Patienten stellen zum einen die Risikopersonen für COVID-19 dar (Bewohner aus Pflegeheimen, chronisch Lungenerkrankte etc.), gleichzeitig benötigen sie zur Vermeidung einer nosokomialen Transmission jedoch besondere Isolationsmaßnahmen (Schutz der vulnerablen Gruppen).
Über die Falldefinitionen als Grundlage für die COVID-Risikokategorien können die hieran gekoppelten Maßnahmen in Abhängigkeit der lokalen, regionalen und überregionalen Lage risikobasiert gesteuert und dementsprechend die Sensitivität und die Spezifität des Verfahrens verändert werden. Wee LE et al. [
22] empfehlen in ihrer Arbeit eine balancierte Falldefinition, denn je mehr Patienten durch die Falldefinitionen die COVID-Risikostatus I–IV erhalten, desto höher wird der logistische Aufwand für die ZNA. Zur Bewältigung der gesteigerten Anforderungen wurden, wie in den Arbeiten aus Singapur ebenfalls beschrieben, die räumlichen Ressourcen der ZNA daher erweitert [
22].
Darüber hinaus wurde insbesondere für Patienten mit der COVID-Risikostatus II, III und IV ein Flussschema zur Optimierung der Abläufe in der ZNA erarbeitet. Dieses Vorgehen wurde in ähnlicher Weise in sog. Fieber Kliniken in Wuhan (China; [
7]), aber auch in Universitätsklinika in Deutschland [
8,
23] implementiert. Ziel dieser Maßnahmen ist es, eine Überlastung der ZNA zu vermeiden, um entsprechende Schutz- und Isolationsmaßnahmen aufrechthalten zu können [
2]. Zusätzlich wird hierdurch die Gefahr vermindert, vital bedrohliche Erkrankungen verspätet zu behandeln. So konnten Tam CF et al. bereits negative Einflüsse der COVID-19-Pandemie auf die Versorgung von ST-Hebungsinfarkten in Hong Kong nachweisen [
24].
Bei der retrospektiven Untersuchung des eigenen Patientenguts von 25 Patienten mit COVID-19-gesicherter Erkrankung konnte hier gezeigt werden, dass 3 (12 %) Patienten primär nicht in der ZNA erkannt wurden (Abb.
4). Auch diese Ergebnisse decken sich mit den Arbeiten von Wee LE et al. [
22], in der 16 % der COVID-19-positiven Patienten nicht in der Notaufnahme identifiziert werden konnten. Als Konsequenz hieraus werden auch COVID-Risikokategorie‑V Fälle bis zum Erhalt des PCR-Ergebnisses vorisoliert, und es wurde der Personalschutz in der ZNA in Anlehnung an die Empfehlung der DEGAM [
5] um das Tragen eines Face Shields erweitert.
Durch die Einführung des COVID-Risikostatus basierten Hygieneplans und die Durchführung der hier beschriebenen Maßnahmen zum Personalschutz, zur Isolation der Patienten und zur hygienischen Aufbereitung der Arbeitsbereiche konnte dementsprechend erreicht werden, dass im Rahmen des umfassenden Personalscreenings kein einziger positiver Befund in der SARS-CoV‑2 RT-PCR im Rachenspülwasser nachweisbar war. Auch wurde bis dato keine Übertragung auf andere Patienten in der ZNA nachgewiesen.
Zusammenfassend ermöglicht die Einführung des hier beschriebenen Modells der Risikostratifizierung von SARS-CoV-2-Verdachts- und COVID-19-Fällen eine zentrale Steuerung der krankenhaushygienisch relevanten Prozesse einer ZNA im Kontext der COVID-19-Pandemie. Durch eine stetige Reevaluation der Falldefinitionen im Modell können darüber hinaus kurzfristig lokale Ausbruchssituationen in den Risikokategorien berücksichtigt werden. Die COVID-19-Risikostratifizierung ermöglicht auf diese Weise eine strikte Trennung von COVID-19- und Non-COVID-19-Notfällen und stellt so die nosokomiale Infektionsprävention sowohl für Mitarbeiter als auch für Patienten in der ZNA sicher.
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