Macht Narkose dumm?

Täglich werden tausende Menschen für operative Eingriffe narkotisiert. Welchen Gefahren werden die Patienten dabei ausgesetzt? Bezahlen sie mit ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit dafür? G. Schneider vom Helios Klinikum Wuppertal gab auf dem DAC 2011 den aktuellen Kenntnisstand wieder. Untersuchungen bei Kindern Eine Anästhesie gilt bei Kindern als ein signifikanter Risikofaktor für spätere Lernschwierigkeiten - sofern mehrere Anästhetika eingesetzt wurden. Dabei ist unklar, ob die Anästhesie als Marker dient oder andere, unbekannte Faktoren zu den Lernproblemen führen [1]. Hintergrund Bis zum zweiten Lebensjahr bilden sich beim Menschen Synapsen aus. Die Modulation dieser Nervenzell-Verbindungen erfolgt über den Zelltod, „abbrechen“ von Dendriten und Axonen sowie die Verkürzung und Verdickung der Spines. Untersuchungen an Tieren Untersuchungen am Kortex von spät fetalen bzw. früh neonatalen Ratten zeigten, dass die Blockade der hypersensitiven NMDA-Rezeptoren durch Anästhetika oder Ethanol apoptotische Neurodegeneration induziert [2]. Sieben Tage alte Ratten wurden mit Midazolam, N2O und Isofluran narkotisiert. Die Nachuntersuchung erfolgte in drei Gruppen: Histopathologie, Verhaltenstest, LTP (Hirnschnitte des Hippocampus) [3]. Ergebnisse Es war ein apoptotischer Zelluntergang nach Isofluran, Isofluran-Midazolam und Isofluran-Midazolam-N2O nachweisbar. Hippocampale synaptische Mechanismen des Lernens waren beeinträchtigt. Die Tiere konnten schlechter räumlich Lernen, was noch bis ins Erwachsenenalter nachweisbar war. Limitationen Kritisch anzumerken ist, dass während der Anästhesie Hypoxie herrschte. Der Zellschaden war jedoch auf Apoptose, nicht auf Hypoxie zurückzuführen. Zudem spricht eine nicht vergleichbare Expositionsdauer gegen das Experiment: Aufgrund der unterschiedlichen neuronalen Entwicklung entspricht einer Expositionsdauer von sechs Stunden bei der Ratte einem Monat beim Menschen. Unterschiedliche Effekte zeigten sich zudem zwischen den Spezies Ratte/Maus, Rhesusaffe und Schwein/Schaf. Neurodegnerative Substanzen Als neurodegenerativ gelten [4]: Alkohol, Barbiturate, Inhalationsanästhetika, Midazolam – N2O – Inhalationsanästhetika Propofol Opioide? Verschiedene Untersuchungen an Kindern, die sich wegen einer Operation einer Anästhesie unterziehen mussten, ergeben ein uneinheitliches Bild: Bei 54 Frühgeborenen (früher als die 27. Woche) und einem Geburtsgewicht unter 100 g, die sich einem chirurgischen Eingriff unterziehen mussten, zeigte knapp die Hälfte der Kinder (49 Prozent) nach fünf Jahren kein sensorineurales Defizit. 23 Prozent waren leicht behindert; 15 Prozent moderat und 13 Prozent waren schwer behindert [5]. Bei 314 Kindern im Alter von 0 bis 6 Jahren, die sich urologischen Eingriffen unterziehen mussten, zeigte sich nach weniger als 24 Monaten signifikant auffälligere Verhaltensstörungen [6]. Es lässt sich also festhalten, dass neuronale Schäden durch Alkohol, Barbiturate und Anästhetika entstehen. Die Mechanismen neuronaler Schädigung sind im Tiermodell nachgewiesen, eine Übertragbarkeit auf den Menschen ist jedoch limitiert. Die Dosis-Wirkungs-Beziehung bleibt unklar. Patientendaten sind kaum vorhanden und belegen bislang nicht eine frühe oder späte neuronale Schädigung und/oder kognitive Leistungseinschränkung. Die ISPOCD1-Studie In diese Studie schlossen Moller et al. 1218 Patienten ein, die sich mit 60 oder mehr Jahren großen, nicht-kardiochirurgischen Eingriffen unterzogen [7]. Drei Tage wurden NIBD und der Sauerstoffpartialdruck gemessen. Neuropsychologische Untersuchungen folgten 1 Woche und 3 Monate nach der Operation. Jeder Vierte zeigte eine Woche nach dem Eingriff eine postoperative kognitive Dysfunktion (POCD), bei jedem Zehnten war sie auch drei Monate danach vorhanden. Risikofaktoren für die Frühfolgen lauteten hohes Alter, ein langer Eingriff, niedriger Bildungsgrad, ein Zweiteingriff, postoperative Infektionen, respiratorische Komplikationen. Risikofaktoren für die Spätfolgen waren ausschließlich hohes Alter. Hypoyämien und Hypotension erwiesen sich als unproblematisch. Die ISPOCD2-Studie Die Folgestudie analog zur ISPOCD1 aufgebaut, mit dem Unterschied, dass 580 Patienten im Alter von 40 bis 60 Jahren untersucht wurden [8]. 19 Prozent der Patienten entwickelte eine frühe POCD, keiner eine späte. Es zeigte sich ein Zentrumseffekt; als Risikofaktoren erwiesen sich Periduralanästhesie und Alkoholabstinenz. Die Pufferfunktion der kognitiven Reserve Je größer die kognitive Reserve, desto größer muss der pathologische Effekt sein, um funktionale Beeinträchtigungen auslösen zu können [9]. Die ISPOCD1+2-Studien zeigen zudem, dass die Folgen einer POCD nach nicht-kardiochirurgischen Eingriffen in einer erhöhten Mortalität, dem Risiko vorzeitiger Arbeitsunfähigkeit und der Abhängigkeit von Sozialhilfe bestehen [10]. Schlussfolgerung Macht Narkose also dumm? Es gibt zumindest Risikofaktoren: Dazu gehören chirurgische Komplikationen und Revisionen. Besonders junge und ältere Patienten sind gefährdet. Einen gewissen Schutz bietet die kognitive Reserve. Zu bedenken gilt jedoch, dass eine Anästhesie nie Selbstzweck ist, sondern Schutz vor chirurgischem Trauma und Traumatisierung bietet. Mehr zum Thema Im Artikel "Gedächtnisverlust durch Narkose?" finden Sie weitere Informationen zum Thema POCD. Weitere aktuelle Beiträge finden Sie im Dossier zum Deutschen Anästhesiecongress 2011. Literatur 1. Anesthesioloy 2009; 110: 796-804 2. Ikonomidou C et al.: Science 1999; 283: 70-4 3. Jevtovic-Todorovic V et al.: J Neurosci 2003; 23: 876-82 4. Moller JT et al.: Lancet 1998; 351: 857-61 5. Victorian Infant Collaborative Study Group: J Paediatr Child Health 1996; 32: 167-72 6. Kalkman CJ et al.: Anesthesiology 2009; 110: 805-12 7. Moller JT et al.: Lancet 1998; 351: 857-61 8. Johnson T et al.: Anesthesiology 2002; 96: 1351-7 9. Richards et al.: Ann Neurology 2005 10. Steinmetz J et al.: Anesthesiology 2009; 110:548-55

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