Evidenzbasierte Medizin als Gefahr für den Patienten

Ist die evidenzbasierte Medizin (EBM) eine Gefahr für die moderne Intensivmedizin und Anästhesie, eine Gefahr für die Patienten? Beim Deutschen Anästhesiecongress in Leipzig wurden erhebliche Zweifel am Wert der EBM laut. „Was wir definitiv nicht mehr brauchen sind pro Woche zwei, drei neue Metaanalysen“, so die Kritik von Prof. Dr. Daniel Reuter vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sie würden komplexen Fragestellungen, gerade in der Intensivmedizin, inhaltlich oft nicht gerecht. Und methodisch schwache Studien würden nicht dadurch besser, dass sie Eingang in Metaanalysen fänden, so der Anästhesiologe. Reuter hält es für gefährlich, wenn Instrumente der EBM benutzt werden, um bewährte anästhesiologische Monitoringmaßnahmen in Frage zu stellen. Er führte dazu zwei Beispiele an. Pulsoxymetrie von „fraglichem Wert“? So waren bereits im Jahre 1993 dänische Autoren auf der Grundlage einer Studie mit 20.800 perioperativen Patienten zu dem Schluss gekommen, dass die Pulsoxymetrie keinen Effekt auf die Prognose von anästhesierten Patienten habe [1]. Zwei dieser Autoren wirkten zwei Jahrzehnte später maßgeblich an einer Metaanalyse der Cochrane Collaboration mit und kamen auf der Grundlage von im Großen und Ganzen denselben Daten zu dem Schluss, die Pulsoxymetrie sei für das perioperative Monitoring von „fragwürdigem Wert“, weil es sich nicht auf die Rate postoperativer Komplikationen, die Morbidität und Mortalität auswirke [2]. Sollte deshalb die Pulsoxymetrie nicht mehr angewendet werden, obwohl damit Hypoxämien und damit verknüpfte Ereignisse erkennbar werden? „Dieser Meinung sind wir nicht“, erklärte Reuter. Eine solche evidenzbasierte Medizin greife zu kurz. Heftiger noch kritisierte er eine aktuell diskutierte Studie zum hämodynamischen Monitoring bei Sepsis-Patienten. „Die zentralvenöse Sauerstoffsättigung ist als erweiterter Monitoring-Parameter bei kritisch kranken Menschen pathophysiologisch sinnvoll“, so Reuter. Dieser Punkt sei im Zusammenhang mit einer frühen zielorientierten Behandlung bei Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock einer der wenigen in der Anästhesie, für den seit dem Jahre 2001 eine randomisierte und kontrollierte Untersuchung vorliege, die bekannte Rivers-Studie. Damals lag in dieser Untersuchung die Mortalitätsrate im Krankenhaus bei Standardtherapie bei knapp 47%, bei früher zielorientierter Behandlung dagegen bei 31% [3]. „Grobe Missinterpretation von Studienergebnissen“ Nachdem inzwischen weltweit die Empfehlungen der „Surviving Sepsis Campaign“ umgesetzt werden, stellten die Autoren der ProCESS-Studie im Februar dieses Jahres bei einem Kongress in Brüssel den Wert der protokoll-basierten Behandlung mit bestimmten hämodynamischen Zielparametern in Frage. Mit der in den USA durchgeführten, sehr aufwendigen Multicenterstudie sollten die Resultate der Rivers-Studie geprüft werden. Das Resultat in kurzen Worten: Die rein klinische Einschätzung von Patienten im septischen Schock sei völlig ausreichend. Das Legen eines zentralen Venenkatheters und das zentrale hämodynamische Monitoring bringe nichts in Bezug auf die Überlebenschancen der Patienten [4]. Reuter hält dies bei genauer Betrachtung der Daten für eine „grobe Missinterpretation der Studienergebnisse“. So hätten in den Standardgruppen mehr als die Hälfte der Patienten in den ersten Stunden entgegen des Studienprotokolls dennoch einen ZVK erhalten. Die Therapie in den drei Gruppen der ProCESS-Studie hatte sich kaum unterschieden. Vor allem jedoch seien die heutigen Therapieerfolge mehr als eine Dekade nach der Rivers-Studie letztlich auf die Fortschritte im Management von Sepsis-Patienten zurückzuführen, betonte Reuter. Bestätigt werde dies durch eine aktuelle Registerstudie mit mehr als 100.000 Sepsis-Patienten aus Australien und Neuseeland, wo sich seit dem Jahr 2000 die Mortalitätsrate fast halbiert hat [5]. Anästhesiologische Blindflüge werden abgelehnt „Hämodynamisches Monitoring und Management ist in meinen Augen eine der Hauptaufgaben, die wir bei kritisch kranken Patienten zu übernehmen haben. Das ist nichts anderes als die Überwachung und Wiederherstellung von Vitalfunktionen“, erklärte Reuter. Es sei „eine Riesengefahr“, wenn die EBM die Bedeutung von Intuition, klinischer Erfahrung und pathophysiologischer Rationale als Grundlage für klinische Entscheidungen verdränge. Dies sähen im Übrigen auch maßgebliche US-amerikanische Experten so. Er zitierte eine offizielle Stellungnahme mehrerer US-Fachgesellschaften. Demnach müsse der Wert von klinischen Studienresultaten bei der Beantwortung von komplexen Fragen zur Versorgung instabiler und schwerkranker Patienten hinterfragt werden. Ein wesentlicher Teil der Intensivmedizin sei das sorgfältige Monitoring physiologischer Variablen [6]. Lesen Sie mehr Weitere Beiträge finden Sie im Dossier zum Deutschen Anästhesiecongress 2014. Literatur [1] Moller JT et al. Anesthesiology 1993;78:445 [2] Pedersen et al. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014; Issue 3 Art. No.: CD002013 [3] Rivers E et al. NEJM 2001;345:1368 [4] Yealy DM et al. N Engl J Med 2014;370:1683 [5] Kaukonen KM et al. JAMA 2014;311:1308 [6] Tonelli MR et al. Am J Resp Crit Care Med 2012;185:1117

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