Begutachtung der Schuldfähigkeit
Für die gutachterliche Arbeit ist es hilfreich, dass der Stellenwert der allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung bei der Überarbeitung der diagnostischen Vorgaben betont wurde. Die fehlende Berücksichtigung dieser Grundvoraussetzungen für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung stellte nämlich einen häufigen Fehler bei der Begutachtung dar (Habermeyer
2004). Nach Einführung der ICD-11 wird man zukünftig bei der Diagnostik Stellung zu Selbstbild, Selbstwert, Selbsteinschätzung und der Fähigkeit, Ziele und Pläne umzusetzen bzw. in Kontakt mit anderen zu treten und Konflikte zu bewältigen, nehmen müssen. Weiterhin ist zu begrüßen, dass in der ICD-11 neben kognitiven Verzerrungen und Einschränkungen der Impulskontrolle insbesondere auch emotionale Auffälligkeiten für die Diagnosestellung zu berücksichtigen sind. Schließlich kommt der entweder hohen emotionalen Reagibilität bzw. dem Empathiemangel im forensischen Kontext eine große Bedeutung zu (Habermeyer und Herpertz
2008; Herpertz
2018b), was zu den im engeren Sinne forensisch-psychiatrischen Fragestellungen überleitet.
Dabei ist zunächst relevant, dass der differenzierte dimensionale Klassifikationsansatz der ICD-11 im Bereich der Schuldfähigkeitsbegutachtung nicht konsequent umgesetzt und praktiziert werden kann, denn hier geht es um die Beantwortung dichotomer Fragen, nämlich darum, ob 1) die Diagnose der Persönlichkeitsstörung dem Merkmal der schweren anderen seelischen Abartigkeit zugeordnet werden kann, und ob diese 2) die ansonsten vorausgesetzte Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert hat oder nicht.
Im ersten forensisch-psychiatrischen Arbeitsschritt bedarf es also weiterhin einer präzisierenden Einordnung hinsichtlich des Schweregrades. Zu beachten ist dabei, dass es nach den Vorgaben der ICD-11 schon um Merkmale und Entwicklungen gehen kann, die sich innerhalb eines Zeitraums von 2 Jahren gezeigt bzw. ergeben haben. Ist dies der Fall, kann die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung auch dann gestellt werden, wenn keine Auffälligkeiten im Jugend- oder im jungen Erwachsenenalter bestanden. Dadurch wird die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung erleichtert, weshalb nochmals dringlicher vor einem Automatismus hinsichtlich Diagnose und Eingangsmerkmal zu warnen ist.
Die Möglichkeit der Schweregradeinteilung in der ICD-11 kann ferner zu dem aus hiesiger Sicht voreiligen Schluss verführen, dass nur schwere Persönlichkeitsstörungen eine Einordnung als schwere andere seelische Abartigkeit rechtfertigen (können). Dies mag für den Großteil der Fälle zutreffen, jedoch wird auch bei einer schweren Persönlichkeitsstörung stets differenziert zu diskutieren und zu begründen sein, warum diese als schwere andere seelische Abartigkeit bezeichnet wird oder nicht. Es bleibt also auch nach Einführung der ICD-11 dabei, dass im Kontext der Schuldfähigkeitsbegutachtung eine möglichst umfassende Darstellung der Persönlichkeit anhand der biografischen Entwicklung zwingend ist. Diese basale Aufgabe wird durch die neuen diagnostischen Vorgaben eher erleichtert, denn entsprechende Auffälligkeiten können nun anhand der vorab beschriebenen Merkmalskategorien dargestellt und in ihren Auswirkungen auf das Verhalten gewichtet werden. Dabei kann bzw. muss auch zukünftig auf biografische Kenntnisse von Reaktionsweisen unter konflikthaften Belastungen und Veränderungen infolge der natürlichen Reifungs- und Alterungsschritte sowie eingeleiteter therapeutischer Maßnahmen Bezug genommen werden.
Nach wie vor sind dafür in Anlehnung an Boetticher et al. (
2005) erhebliche Auffälligkeiten der affektiven Ansprechbarkeit bzw. der Affektregulation, Einengung der Lebensführung bzw. Stereotypisierung des Verhaltens, durchgängige oder wiederholte Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und psychosozialen Leistungsfähigkeit durch affektive Auffälligkeiten, Verhaltensprobleme sowie unflexible, unangepasste Denkstile sowie durchgehende Störung des Selbstwertgefühls und deutliche Schwäche von Abwehr- und Realitätsprüfungsmechanismen entscheidend. Von diesen Punkten lassen sich z. B. affektive Auffälligkeiten und Störungen des Selbstwertgefühls gut in Bereichen der negativen Emotionalität abbilden, während sich eine gestörte Affektregulation in Kombination mit eingeschränkter Impulskontrolle unter dem Gesichtspunkt Enthemmung darstellen lässt.
Eine Merkmalskombination mit negativer Emotionalität und Enthemmung könnte zusätzlich mit dem Borderline-Qualifizierungsmerkmal versehen werden und damit, bei z. B. gegebener Dissozialität, eine Persönlichkeitsstörung charakterisieren, die durch eine bei emotionaler Belastung hohe situativ-impulsive und dann auch aggressive Reaktionsbereitschaft gekennzeichnet ist. Hier würde sich die Einordnung als schwere andere seelische Abartigkeit eher anbieten als im Fall einer Dissozialität, die nicht mit negativer Emotionalität, stattdessen aber mit Distanziertheit verbunden ist. Diese Kombination charakterisiert nämlich einen dissozialen Persönlichkeitstypus, der nicht impulsiv, sondern distanziert-emotionsarm, letztlich auch strategisch vorgeht.
Die Beispiele machen deutlich, dass es auch mittelgradige Symptomausprägungen geben kann, bei denen, eine enge Bindung zwischen Persönlichkeitsproblematik und Deliktbegehung vorausgesetzt, die Annahme einer schweren anderen seelischen Abartigkeit gerechtfertigt sein kann. Zu denken wäre hier z. B. an Selbstwertkrisen mit einer zeitlich umschriebenen hohen Ausprägung negativer Emotionalität und impulsiver Aggressivität bei primär gegebener psychosozialer Leistungsfähigkeit.
Betreffs den im zweiten Schritt erforderlichen Aussagen zur Steuerungsfähigkeit bei einer Persönlichkeitsstörung, die unter die rechtliche Kategorie der schweren anderen seelischen Abartigkeit eingeordnet werden kann, ist unabhängig von kategorialen oder dimensionalen Störungskonzepten entscheidend, ob die Tat überhaupt und, wenn ja, in welchem Ausmaß in Bezug zur Persönlichkeitsstörung steht. Wenn das Tatgeschehen nicht auf spezifische Problembereiche (z. B. Kränkbarkeit) und Defizite (z. B. eingeschränkte Impulskontrolle) der Persönlichkeitsstörung zurückgeführt werden kann, ist die in anderen Kontexten durchaus begründete und auch relevante Diagnose nämlich für die Schuldfähigkeit nicht von Bedeutung.
Nur wenn der Symptomcharakter der Tat bejaht werden kann, ist in einem letzten Schritt zu beurteilen, ob durch die Persönlichkeitsstörung die Steuerungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt erheblich beeinträchtigt oder gar aufgehoben gewesen ist. Diese Frage wird von der Verwendung eines dimensionalen bzw. kategorialen Störungsmodells wenig tangiert. Auch nach Einführung der ICD-11 bleibt es dabei, dass bei Persönlichkeitsstörungen nicht per se von einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden kann (Boetticher et al.
2005). Die Tathintergründe und -umstände sowie die störungsbedingten Funktionsbeeinträchtigungen im Moment der Tat sind weiterhin abzuklären. Um Aussagen betreffs der zum Tatzeitpunkt bestehenden bzw. fehlenden Freiheitsgrade erfassen zu können, bleibt die detaillierte Analyse der Ausgangsbedingungen eines Delikts, des Tatablaufs, der handlungsleitenden Motive, der Täter-Opfer-Beziehung und des Nachtatverhaltens entscheidend (Sass und Habermeyer
2007; Dressing et al.
2021). In diesem Kontext hat Kröber (
2016,
2020) mit guten Argumenten vor einer einseitigen Orientierung an der exekutiven Steuerungsfähigkeit gewarnt, denn in Anlehnung an Janzariks Begriff der Einsichtssteuerung (
2020) können nicht zuletzt bei im Beziehungskontext begangenen Straftaten eine gedankliche Einengung auf den emotional hoch besetzten Konflikt und weitere motivationale Aspekte eine verminderte Steuerungsfähigkeit bedingen. In diesem Kontext gibt das überarbeitete Konzept der Persönlichkeitsstörungen, wie vorab beispielhaft dargestellt, allerdings die Möglichkeit, entsprechende Einbußen hinsichtlich ihres Schweregrades zu erfassen und bestimmten Problembereichen zuzuordnen (z. B. der Enthemmung hinsichtlich der exekutiven oder der negativen Emotionalität bezüglich der motivationalen Steuerungsfähigkeit).
Therapieplanung
Die Behandlung der jeweiligen Persönlichkeitsstörungen richtet sich an den für die Diagnosestellung relevanten Funktionseinbußen aus. Es geht also primär um die Behandlung von Symptomen, die einen unmittelbaren Leidensdruck sowie Probleme in der sozialen Interaktion begünstigen und weniger um eine Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen. Dieser Ansatz ist nicht nur pragmatisch, sondern dürfte den Betroffenen auch leichter vermittelbar sein, denn er zielt unmittelbarer auf die Beeinträchtigungen ab, die ihnen oder ihrem Umfeld Probleme bereiten.
Allerdings können auch die im letzten diagnostischen Schritt zu berücksichtigenden Persönlichkeitsfaktoren hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz eingeordnet und damit als therapeutisch bedeutsam adressiert werden. Dies betrifft im forensisch-psychiatrischen Kontext aber vorwiegend Aussagen zur Therapieprognose, die in der Schweiz schon im Anlassverfahren gefordert sind und in Deutschland im Verlauf der Unterbringung relevant werden. Schließlich ergeben sich bei ausgeprägter negativer Emotionalität, die sich in pessimistischen und schwankenden Stimmungen äußert, und einem dissozialen, aggressiven und enthemmten Lebensstil, der sich in häufigen Wutausbrüchen, haltlosen Äußerungen und feindseligen bis zu gewalttätigen Reaktionen auf Frustrationen zeigt, andere therapeutische Optionen als bei der Kombination von Dissozialität mit Zwanghaftigkeit und Distanziertheit, denn dieses Erscheinungsbild beschreibt ein unempathisch-manipulatives, selbstsicheres und gleichzeitig perseverierendes, perfektionistisches und planerisches Persönlichkeitsmuster. Von forensisch-psychiatrischer Bedeutung ist in diesem Beispiel, dass das Vorliegen von negativer Emotionalität in Form von Ängsten und depressiven Symptomen auf einen günstigeren Therapieverlauf im Zusammenhang mit dissozialen Persönlichkeitszügen hinweisen kann als eine geringe Ausprägung negativer Affektivität, die einen geringen Leidensdruck und wenig Änderungsmotivation bei einem Patienten oder einer Patientin nahelegt (Hodgins und De Brito
2009).
Im Hinblick auf die Enthemmung kommen außerdem auch medikamentöse Behandlungsoptionen zur Reduktion der Impulsivität oder kognitiv-verhaltenstherapeutische Programme wie die Dialektisch Behaviorale Therapie für forensische Patientinnen und Patienten (DBT‑F, Ivanoff und Marotta
2018) zur Förderung der Emotionsregulation in Betracht. Vor dem Hintergrund des zentralen Therapiewirkfaktors Beziehung (Horvath et al.
2011) lässt das Persönlichkeitsmerkmal der Distanziertheit und Bindungslosigkeit erwarten, dass der für einen erfolgreichen Therapieverlauf entscheidende Beziehungsaufbau schwierig wird. Unabhängig von den vorgenannten Merkmalen bzw. Merkmalsmustern ist das Vorhandensein des Borderline-Merkmals von therapeutischer Bedeutung, da hier mit der DBT und Schematherapie bewährte Behandlungsoptionen existieren.
Somit wird die Therapieplanung durch das neue Konzept der Persönlichkeitsstörungen vereinfacht bzw. individualisiert, denn die Bedingungen des Einzelfalls lassen sich differenzierter abbilden. Hier wird die dimensional ausgerichtete und damit auch komplexere Vorgehensweise in klinisch relevanter Hinsicht zum Vorteil. Wenn, wie in der Schweiz, zur Anordnung einer therapeutischen Maßnahme auch Aussagen zur Therapierbarkeit bzw. den Erfolgsaussichten einer Therapie gefordert werden, bietet die ICD-11-Klassifikation die Möglichkeit, gegebene bzw. fehlende Therapieoptionen und deren Erfolgsaussichten genauer zu skizzieren, als es angesichts der variablen Verläufe und heterogenen Symptomenbilder der einzelnen ICD-10-Persönlichkeitsstörungen möglich war.