Warum die Gehirne von Hundertjährigen kaum altern

Hundertjährige sehen oft 20 Jahre jünger aus, als sie tatsächlich sind. Das gilt auch für ihre Gehirne. Wer weiß, weshalb, kann neurodegenerative Erkrankungen besser verstehen – und künftig besser behandeln. Die 100-plus-Studie liefert erste Hinweise. Hendrikje van Andel-Schipper war eine bemerkenswerte Frau: Im Alter von 82 Jahren versprach sie, der Universität von Groningen nach ihrem Tod ihr Gehirn zu überlassen. 30 Jahre später rief sie dort an, ob denn noch Interesse bestehe, das Angebot sei ja schon etwas alt und sie immer noch am Leben. Die Universität versicherte ihr, sie sei nicht nur an einer Post-mortem-Analyse interessiert, man würde sie gerne auch schon vor ihrer Spende untersuchen. Mit 113 Jahren unterzog sie sich dem Mini-Mental-Status-Test und erreichte die maximale Punktzahl. Sie zeigte in ihrem biblischen Alter nicht das geringste Zeichen eines kognitiven Abbaus. Als sie zwei Jahre später verstarb und das Gehirn tatsächlich der Wissenschaft überließ, staunten die Forscherinnen und Forschern nicht schlecht: keinerlei Atrophie, keine Amyloidplaques, keine vaskuläre Pathologie, minimale Tau-Ablagerungen, keine Hippocampussklerose, keine Atherosklerose – weder im Gehirn noch sonst irgendwo. Es schien, als habe sich ihr Denkorgan dem Altern auf wundersame Weise entzogen. Könnte ihr Gehirn uns mitteilen, auf welche Weise, würden wir viel lernen über Hirnalterung, Neurodegeneration und die Möglichkeiten, Krankheiten wie Alzheimer zu verhindern. Das Altern um 20 bis 30 Jahre verzögert Professorin Henne Holstege vom Medizinischen Zentrum der Universität Amsterdam sieht genau darin eine Chance: In die Gehirne hochbetagter Menschen zu schauen, die geistig fit geblieben sind, und genau zu erfassen, was sie uns erzählen. Das erfordert einen ganzheitlichen Ansatz – über den Lebensstil bis zur Proteom- und Genanalyse. Holstege, die auf der Alzheimer’s Association International Conference (AAIC) in Philadelphia die Geschichte der Hendrikje van Andel-Schipper erzählte, hat sich mittlerweile rund 120 Gehirne von geistig fitten Menschen angesehen, die mit über 100 Jahren gestorben sind. Hinzu kommen Befragungen, Kognitionstests, Serum- und Bildgebungsuntersuchungen von insgesamt 480 Menschen im Alter von über 100 Jahren, welche die Neurowissenschaftlerin für die Studie 100-plus gewinnen konnte, rund 70% davon sind Frauen. „Begegnet man solchen Menschen auf der Straße, schätzt man ihr Alter in der Regel auf Anfang 80“, erläuterte sie. Und damit liege man, was das biologische Alter betrifft, ziemlich richtig. Denn nicht nur das äußere Erscheinungsbild gleicht 80-Jährigen, auch die Organe, einschließlich des Gehirns, ähneln eher Menschen, die 20 bis 30 Jahre jünger sind. Wer nun glaubt, das liege an einem besonders guten Lebensstil, wird enttäuscht: Zwar wirkt sich ein solcher bei Gemeinsterblichen erheblich auf das Demenzrisiko aus – das legen mittlerweile unzählige Studien nahe – für die superfitten Superalten ist er aber weniger relevant: Sie haben ähnlich häufig geraucht, ähnlich viel Alkohol getrunken und auch sonst nicht viel anders gelebt als die meisten Menschen ihrer Geburtskohorte – und genießen noch immer gerne ihren Kuchen und Kekse, erläuterte Holstege. Auffallend waren lediglich das etwas höhere Bildungsniveau und ein höherer sozialer Status, auch haben sie nie groß über die Stränge geschlagen und blicken etwas optimistischer als ihre Mitmenschen in die Welt. Am Lebensstil liegt’s nicht Letztlich können solche Abweichungen beim Lebensstil ein derart biblisches Alter nicht erklären. Vieles spricht eher dafür, dass Hundertjährige besondere Schutzfaktoren aufweisen, sodass ihnen auch ein ungünstiger Lebensstil weniger anhaben – wie etwa dem Altkanzler Helmut Schmidt, der mit 95 Jahren noch kettenrauchend in Talkshows seine politischen Analysen zum Besten gab, oder wie Jeanne Calment, die erst mit 119 Jahren das Rauchen aufgab, nachdem sie zunehmend blind und fast taub nicht mehr in der Lage war, sich ohne fremde Hilfe eine Zigarette anzuzünden. Analysiert man nun die Gehirne der geistig gesunden Superalten, wirken diese zwar nicht alle so jugendhaft wie das der 115-jährigen van Andel-Schipper, besitzen aber zumeist recht wenig Tau- und Beta-Amyloid-Ablagerungen. Liegt eine relativ hohe Amyloid-Last vor, dann haben solche Personen in der Regel auch schon kognitive Defizite. Etwas komplizierter ist die Situation für Tau-Protein. Manche der fitten Superalten zeigen eine Tau-Verteilung, die einem Braak-Stadium III oder IV entspricht und daher eher bei Alzheimerkranken zu finden ist. Eine genaue Untersuchunug des Tau-Proteins deutet hier aber auf eine geringe Aggregationsneigung. Proteinanalysen zufolge ist die Mikrotubuli-Binderegion bei solchen Menschen deutlich kleiner als bei Alzheimerkranken, auch bei nicht an Demenz erkrankten 70- bis 80-Jährigen wird dies beobachtet. Proteom-Analysen ergaben schließlich knapp 500 Proteine, die mit unterschiedlichen Braak-Stadien assoziiert sind, davon wurden 64 bei den Hochbetagten anders reguliert als bei Alzheimerkranken. Holstege schließt daraus, dass manche ältere Menschen schlicht besser vor einer Tauaggregation oder deren Folgen geschützt sind. Proteinkonfiguration von 82-Jährigen Die Analyse von 174 Proteinen, deren Konzentration im Laufe des Alterns entweder kontinuierlich zu- oder abnimmt, ergab für 108 Proteine Werte, die denen deutlich jüngerer Menschen entsprechen. Solchen Protein-Uhren zufolge haben die Gehirne der über Hundertjährigen aus der Studie im Mittel ein biologisches Alter von 82 Jahren. Besonders deutlich sind die Unterschiede beim sogenannten TRiC-Komplex*, der für den Abbau abnormer Organelle und Proteine wichtig ist. Er hilft, fehlgefaltete Proteine zu entfalten, neu zu falten und gegebenenfalls abzubauen. Der Proteinkomplex ist bei den Hochbetagten noch besonders aktiv. „Hundertjährige sind besonders gut darin, die Proteinaggregation zu verhindern“, so das Fazit der Forscherin. Entsprechend haben sie weniger verklumptes Tau, weniger Beta-Amyloid und auch kaum andere aggregierte Proteine wie TDP-43 oder Alpha-Synuclein in ihren Gehirnen. Entsprechend gering ist ihr Risiko für neurodegenerative Erkrankungen. Das führt zur nächsten Ebene: Was ermöglicht solche Schutzfaktoren? Hier kann die Genetik weiterhelfen. So hängt die Wahrscheinlichkeit, ein bestimmtes Alter zu erreichen, mit zunehmendem Alter von den Genen ab. Bis zum Alter von 70 Jahren ist der genetische Einfluss eher gering und wird auf rund 20% geschätzt – ein solches Alter kann bei entsprechendem Lebensstil also fast jeder schaffen. Um 100 Jahre zu werden, muss man jedoch die richtigen Gene besitzen – der genetische Beitrag wird hier auf 60% beziffert, erläuterte Holstege. Inzwischen sind etliche Gene bekannt, welche das Neurodegenerationsrisiko steuern. Der Einfluss einzelner Genvarianten ist jedoch meist gering, entscheidender dürfte daher die Summer aller Varianten sein. Wenig überraschend hatten die geistig fitten Hundertjährigen im Schnitt bei 85% der untersuchten Varianten solche mit den günstigsten Auswirkungen auf die Kognition, also bei den Risikovarianten diejenigen mit dem geringsten Demenzrisiko und bei den schützenden Varianten diejenigen mit dem höchsten Schutzeffekt. Ein Beispiel: In einer vergleichenden Analyse wiesen 40% der Alzheimerkranken das Risikoallel ApoE4 auf, von den fitten Hundertjährigen nur etwa 5%. Dagegen war das demenzprotektive ApoE2-Allel bei über 10% der Hundertjährigen vertreten und kam bei den Alzheimerkranken so gut wie gar nicht vor. Der Schlüssel für geistige Fitness: ein aktives endolysosomales System Die Genanalyse weisen aber noch auf andere Unterschiede: So haben fitte Hundertjährige vor allem Genvarianten, die auf ein starkes Immunsystem deuten, und auch solche für ein besonders aktives endolysosomales System, was wiederum die Proteom-Analysen bestätigt: Sie können fehlgefaltete Proteine gut abbauen und damit toxische Proteinaggregate vermeiden. Letzteres hängt aber auch an altersbedingten epigenetischen Phänomenen, etwa einer verstärkten Demethylierung von lysosomalen Schlüsselgenen. Holstege verwies auf recht komplexe Vorgänge, bei denen eine zunehmende Demethylierung Retrotransposons aktiviert, also Elemente, die sich selbst kopieren und anschließend wieder ins Genom integrieren. Diese geistern anschließend in lysosomalen Genen herum und lähmen immer mehr die Funktion der jeweiligen Proteine. Den Hundertjährigen fehlen häufig nicht nur solche Retrotransposons, sie haben auch ihre Genregulation besser im Griff und verhindern deren Aktivierung. All das dürfte dazu beitragen, dass sie mit Beta-Amyloid, Tau und anderen zur Aggregation neigenden Proteinen besser umgehen können. Für die Demenzforschung sind solche Erkenntnisse äußerst wertvoll. So wird schon lange postuliert, dass Korrektur und Abbau fehlgefalteter Proteine Schlüsselmechanismen für eine gesunde Hirnalterung sind. Gelänge es durch neue Therapeutika, solche Prozesse im Alter gezielt anzukurbeln, ließe sich vielleicht nicht nur eine Alzheimerdemenz verhindern, sondern – wie bei Hendrikje van Andel-Schipper – jegliche Form der Neurodegeneration. * TRiC: tailless complex polypeptide 1 (TCP1) ring complex Quelle: Alzheimer's Association International Conference (AAIC), 28. Juli bis 1. August 2024, Philadelphia, USA. Plenary Session: Drug Development. Henne Holstege: From Longevity to Vulnerability: Genomic Pathways Underlying Cognitive Health in Centenarians and Neurodegenerative Disease. Alle Beiträge von der Konferenz der Alzheimer's Association finden Sie im Dossier.

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