Alzheimer oder Lewy-Körperchen-Demenz?

Halluzinationen und Panikattacken? Leichte motorische Defizite? Ein überraschend kleiner Hippocampus? Klagen Patienten über Gedächtnisstörungen, zählt jedes Detail, um die richtige Diagnose zu ermitteln. Im Folgenden werden vier unterschiedliche Fälle und ihre diagnostischen Herausforderungen vorgestellt. Forscher haben heute viele Möglichkeiten, um die Ursache einer Demenz klar zu bestimmen, etwa ein Amyloid-, Tau- oder FDG-PET, auch Liquoranalysen auf Tauprotein, Beta-Amyloid, Neurofilament und andere Neurodegenerationsmarker. Für die Praxis sind diese Methoden aber oft zu teuer oder zu aufwändig, Ärzten bleibt daher zunächst meist nur der Blick auf einen MRT- oder CT-Scan in Kombination mit einer gründlichen Anamnese, einer sorgfältigen neurologischen Untersuchung und einer Beobachtung des weiteren Verlaufs. Damit lässt sich aber schon viel erreichen, erläuterten Experten auf dem virtuellen Kongress der amerikanischen Neurologenvereinigung AAN. Kleiner Hippocampus im MRT In einer Fallpräsentation verwies Professor Gregory Day von der Mayo Clinic in Jacksonville zunächst auf Probleme beim Kurzzeitgedächtnis einer 69-jährigen ehemaligen Krankenschwester, die sich recht einfach auf eine beginnende Alzheimerdemenz zurückführen ließen. Die Patientin gab an, oft Dinge zu verlegen, beim Kartenspiel die Trümpfe zu vergessen und Probleme mit anspruchsvollen Kochrezepten zu haben. Seit einem Jahr fiel auf, dass sie Fragen oft mehrfach wiederholte, weil sie die Antworten schnell wieder vergaß. Der Mini-Mental-Status-Test (MMST) war mit 29 Punkten unauffällig, ebenso die neurologische Prüfung. Die Mutter der Patientin war bereits mit 64 Jahren an Alzheimer erkrankt. Im MRT sahen die Ärzte eine Leukoaraiose, diese war jedoch nicht sehr ausgeprägt, dafür fiel eine globale kortikale Atrophie mit klar erweiterten und vertieften Sulci auf. Von der Atrophie überproportional betroffen war der Hippocampus: Der Volumenwert lag deutlich unter der altersgemäßen 10. Perzentile. Dies veranlasste die Neurologen zur Diagnose einer leichten kognitiven Einschränkung (MCI), wahrscheinlich bedingt durch eine Alzheimerdemenz. Fünf Jahre später erreichte die Frau im MMST noch 23 Punkten und das Hippocampusvolumen befand sich unter der 1. Perzentile. Die Frau wurde in ein Alzheimerstudienprogramm aufgenommen, die Diagnose dort per Amyloid- und Tau-PET bestätigt. 52-Jähriger scheitert im Uhrentest Fälle wie dieser dürften in der Praxis überwiegen, kniffliger waren für Day schon die Gedächtnisprobleme bei einem 52-jährigen Buchhalter, der kaum noch rechnen konnte und deswegen seinen Job verlor. Die Anamnese ergab keine familiäre Belastung, dafür massive Probleme bei der Alltagsfunktion: Der Mann fand sich nur noch schlecht in der vertrauten Umgebung zurecht, schaffte es nicht mehr, die Mikrowelle zu bedienen, weil er, wie er sagte, die richtigen Knöpfe nicht mehr fand. Im Uhrentest konnte er zwar noch die Ziffern in der richtigen Reihenfolge eintragen, aber die Orientierung stimmte nicht, auch war er nicht in der Lage, eine Uhrzeit korrekt einzuzeichnen. Als sehr aufschlussreich erwies sich erneut das MRT: Die Ärzte fanden eine sehr ausgeprägte parietale und teilweise auch okzipitale Atrophie mit noch gut erhaltenen frontalen Strukturen und veranlassten ein FDG-PET: Das Signal war parietal und okzipital fast komplett verschwunden. Sie diagnostizierten eine leichte Demenz infolge einer posterioren kortikalen Atrophie mit Verdacht auf eine atypische Alzheimererkrankung. In Amyloid-PET-Scans sei bei solchen Patienten meist eine enorme parietale und okzipitale Beta-Amyloid-Akkumulation zu beobachten, erläuterte Day. Fluktuierende Kognition und Halluzinationen Für Alzheimer recht untypisch war der Verlauf bei einem 78-jährigen Mann: Seine Gedächtnisprobleme fluktuierten sehr stark, mal waren sie kaum bemerkbar, ein anderes Mal gab sich der Patient nach Angaben seiner Frau stark verwirrt mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen. So behauptete er, es befänden sich Würmer im Essen oder Kinder würden die Trauben vom Weinstock im Garten stibitzen, erläuterte Professorin Melissa Armstrong von der Universität in Gainsville. Aufgefallen waren der Ehefrau zudem übertriebene Lenk- und Korrekturbewegungen beim Autofahren, häufige Stürze und eine ausgeprägte Tagesschläfrigkeit. Beim MoCA-Demenztest zeigte der Mann bereits eine ausgeprägte Demenz (8 von 30 möglichen Punkten), die neurologische Untersuchung ergab eine leichte Nackensteifheit, eine leichte beidseitige Bradykinese und eine gewisse posturale Instabilität. Das MRT war dagegen unauffällig. Aufgrund der leichten Parkinsonsymptomatik, der Halluzinationen und der fluktuierenden Kognition gingen die Ärzte von einer Lewy-Körperchen-Demenz (DLB) aus. Alle drei Merkmale gehören nach den 2017 aktualisierten klinischen Diagnostikkriterien zur DLB-Kernsymptomatik, sagte Armstrong. Ein zusätzliches Merkmal wäre eine REM-Schlaf-Verhaltensstörung (RBD). Die Neurologin sah bei diesem Patienten keinen Anlass für eine weitere Diagnostik per FDG-PET oder DAT-Scan, zudem sei die FDG-PET bei DLB oft wenig aussagekräftig. Ausgeprägtes postoperatives Delir Eine DLB vermuteten die Neurologen um Armstrong schließlich auch bei einem Piloten, der sich im Alter von 65 Jahren zunächst mit Gedächtnisproblemen bei seinem Hausarzt vorstellte. Dieser veranlasste ein MRT, entdeckte eine ungewöhnliche Raumforderung, die sich als Subependymom erwies und erfolgreich reseziert wurde. Von der Op. erholte sich der Mann jedoch nicht wieder. Viel mehr fiel er in ein ausgeprägtes postoperatives Delirium mit einer beeinträchtigten räumlichen Wahrnehmung, Panikattacken, gegen die er mit Benzodiazepinen therapiert wurde, sowie einem Bewegungsdrift zur linken Seite. Vor der Op. war der Mann noch voll funktionsfähig und konnte eigenständig leben, anschließend war er auf Pflege angewiesen und wurde in eine Reha-Einrichtung überstellt. In der Reha erhielt er so ziemlich alles, was der neuropsychiatrische Arzneikasten hergab: diverse Antipsychotika, Antidepressiva, Antikonvulsiva und Antidementiva. Trotzdem – oder vielmehr deswegen – blieb er lethargisch, desorientiert und konnte nicht flüssig sprechen, zudem entwickelte sich ein Ruhetremor, eine leichte Rigidität und Bradykinese, was aber zunächst auf die Medikation zurückgeführt wurde. Als sich die Neurologen um Armstrong den Patienten genauer ansahen, veranlassten sie eine umfangreiche diagnostische Untersuchung mit MRT, Blut- und Liquoranalysen, unter anderem auf Krebsbiomarker, letztlich kamen sie damit aber nicht weiter. Dies war der Punkt, an dem sie sich an die Gedächtnisstörungen vor der Op. erinnerten. Sie veranlassten eine umfangreiche Anamnese, danach hatte der Mann auch schon in den Monaten vor der Op. Panikattacken, leichte Halluzinationen und eine RBD. Sie setzten alle ZNS-Medikamente ab, worauf sich die Symptomatik deutlich besserte, der MoCA-Wert nahm um vier Punkte zu (von 22 auf 26 Punkte), ebenso ging die Parkinsonsymptomatik zurück, verschwand aber nicht vollständig. In den folgenden drei bis vier Jahren verschlechterten sich sowohl Kognition als auch Motorik langsam wieder. Armstrong geht davon aus, dass der Mann vor der Op. ein DLB-Prodrom zeigte und der zufällig entdeckte Hirntumor auf eine völlig falsche Fährte führte. Die vorbestehende Halluzinationsneigung hatte zu einem ausgeprägten postoperativen Delir geführt und die dagegen verordneten Antipsychotika seinen Parkinsonismus verstärkt. Es sei gar nicht so selten, dass sich eine DLB zunächst mit psychischen Symptomen bemerkbar macht, erläuterte die Neurologin. Quelle: American Academy of Neurology (AAN) 2022 Annual Meeting Virtual Experience, April 24 – 26. C2 – Neurology Case Conference: Dementia. Empfehlung der Redaktion AAN 2022 Kongressdossier zum Annual Meeting der American Academy of Neurology Die aktuelle Berichterstattung zum 74. Annual Meeting der American Academy of Neurology (AAN) in Seattle finden Sie in unserem Kongressdossier. Darin: Neue Therapieansätze für das Rett-Syndrom, Myasthenia Gravis und MS. Und: Vier Fälle zeigen die diagnostischen Herausforderungen demenzieller Erkrankungen.

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