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Erschienen in: Gynäkologische Endokrinologie 4/2021

Open Access 20.09.2021 | Kontrazeption | Leitthema

Möglichkeiten der Kontrazeption bei Übergewicht und Adipositas

Grundlagen für eine differenzierte Entscheidungsfindung

verfasst von: Dr. med. Samia El-Hadad, Charlene Insam, Katharina Unterhuber, Gabriele Susanne Merki-Feld, Brigitte Leeners

Erschienen in: Gynäkologische Endokrinologie | Ausgabe 4/2021

Zusammenfassung

Die weltweit steigende Prävalenz von Übergewicht und Adipositas betrifft zunehmend Frauen im fertilen Alter. Ungewollte oder ungeplante Schwangerschaften treten bei Frauen mit Übergewicht häufiger auf, was sowohl auf die mangelnde Anwendung einer effektiven Kontrazeption als auch auf die pathophysiologischen Besonderheiten, die mit einem erhöhten Körperfettanteil einhergehen, zurückzuführen ist. Eine adäquate Kontrazeptionsberatung adipöser Frauen ist daher essenziell für ihre Gesundheit und Lebensqualität. Unter den kombinierten Kontrazeptiva stellen orale Präparate, die Ethinylestradiol und Levonorgestrel (LNG) enthalten, eine effiziente Option dar, vorausgesetzt, es bestehen zusätzlich zum erhöhten Body-Mass-Index (BMI) keine weiteren Risikofaktoren für kardiovaskuläre oder thrombembolische Ereignisse. Rein gestagene Präparate zeichnen sich durch ihre geringen gesundheitlichen Risiken aus. Die Angst vor einer weiteren Gewichtszunahme ist ein häufiger Grund für das Sistieren der Einnahme, wobei dieser Zusammenhang außer für Depot-Medoxyprogesteronacetat für die meisten Präparate wissenschaftlich nicht belegt wurde. Die Wirksamkeit intrauteriner Kontrazeptiva entfaltet sich unabhängig vom Körpergewicht. Als Notfallkontrazeption ist die Einlage eines kupferhaltigen Intrauterinpessars die sicherste Methode, jedoch erheblich aufwendiger und teurer als eine orale Notfallkontrazeption. Die orale Einnahme von Ulipristalacetat 30 mg ist aufgrund der potenteren Ovulationshemmung und der stärkeren Reduktion unerwünschter Schwangerschaften gegenüber LNG 1,5 mg zu bevorzugen.
Hinweise

Redaktion

Sibil Tschudin, Basel
Brigitte Leeners, Zürich
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Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization, WHO) hatte Europa im Jahr 2014 den zweithöchsten Anteil an übergewichtigen oder fettleibigen Menschen nach Amerika. Weltweit sind etwa 40 % der Frauen über 18 Jahre übergewichtig, wobei schätzungsweise 23 % aller Frauen von Adipositas betroffen sind. Steigendes Alter und ein niedriger sozioökonomischer Status stellen Risikofaktoren für die Entwicklung von Übergewicht dar. Schätzungsweise sind 44 % aller Schwangerschaften weltweit ungeplant, wobei ein erhöhter Body-Mass-Index (BMI) mit einer erhöhten Rate an ungewollter Konzeption assoziiert ist [1]. Dies kann sowohl auf das Versagen als auch auf die fehlende Anwendung einer sicheren Kontrazeption zurückzuführen sein, da adipöse Frauen häufig eine vermeidende Haltung gegenüber der Einnahme hormoneller Kontrazeptiva aus Angst vor weiterer Gewichtszunahme zeigen. Hinzu kommt eine zurückhaltende Verschreibung insbesondere hormoneller Kontrazeptiva aufgrund assoziierter gesundheitlicher Risiken, welche durch einen erhöhten BMI potenziert werden. Der Zusammenhang zwischen Adipositas und Anovulation sowie polyzystischem Ovarialsyndrom und Insulinresistenz führt häufig dazu, dass die Fertilität adipöser Frauen unterschätzt wird. Da Schwangerschaft und Geburt bei adipösen Patientinnen vermehrt mit Komplikationen wie z. B Präeklampsie, Gestationsdiabetes, schwangerschaftsinduzierter Hypertonie und Entbindung per Sectio caesarea einhergehen, ist gerade in dieser Bevölkerungsgruppe eine zuverlässige Verhütung wichtig [2].
Die Datenlage zu Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener Kontrazeptiva für übergewichtige und adipöse Frauen ist spärlich, da Frauen mit einem BMI über 35 kg/m2 ein Risikokollektiv darstellen und selten in große Studien zur Untersuchung des Pearl-Index eingeschlossen wurden. Basierend auf dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial, hat die WHO die Anwendung der verschiedenen Kontrazeptiva bezüglich ihres Risikos bei adipösen Patientinnen in die von ihr definierten Kategorien eingestuft (WHO Medical Eligibility Criteria for Contraceptive Use; [3]). Darauf aufbauend, hat die Expertengruppe der European Society of Contraception and Reproductive Health (ESCRH) ein Statement mit Empfehlungen zur Kontrazeption bei Adipositas publiziert [4], welches eine wichtige Grundlage für die hier aufgeführten Empfehlungen darstellt.

Pharmakokinetik und Dynamik

Ein erhöhter Körperfettanteil verursacht physiologische und metabolische Veränderungen auf renaler, hepatischer und endokriner Ebene mit Einfluss auf die pharmakokinetischen Parameter systemisch verabreichter Medikamente. Die physiologischen Mechanismen, die der veränderten Pharmakokinetik zugrunde liegen, sind in Abb. 1 zusammengefasst. Der potenzielle Einfluss dieser Veränderungen auf Absorption, Verteilung, Metabolisierung und Eliminierung von Medikamenten kann die Wirkung und Sicherheit hormoneller Kontrazeptiva beeinträchtigen. Bei der Einnahme oraler Kontrazeptiva kann bei adipösen Frauen die Absorption durch den Darm aufgrund einer erhöhten Darmperfusion (als Folge eines erhöhten Herzzeitvolumens) und einer verlängerten Magenentleerungszeit erhöht sein. Es resultiert eine Erhöhung des Basalmetabolismus und der renalen Arzneimittel-Clearance mit entsprechender Fluktuation des Plasmalevels der Hormone. Weiterhin bestimmt der hepatische First-pass-Effekt den Anteil des therapeutisch wirksamen Medikaments erheblich mit. Zudem ist Adipositas mit einer verminderten Aktivität des Leberenzyms Cytochrom P450 3A4 (CYP3A4) assoziiert, welches hauptsächlich für den Metabolismus kontrazeptiver Steroide verantwortlich ist [5]. Alternative Applikationswege wie der transdermale, der transvaginale oder der intramuskuläre Weg umgehen den First-pass-Effekt und verbessern die Bioverfügbarkeit des Wirkstoffs [4].

Kontrazeptionsmethoden

Für adipöse Frauen ergeben sich für die verschiedenen Kontrazeptionsmethoden die im Folgenden dargestellten Besonderheiten.

Kombinierte hormonale Kontrazeptiva

Die aktuell verfügbaren kombinierten hormonellen Kontrazeptiva (KHK) unterscheiden sich hinsichtlich Art und Dosis des Wirkstoffs sowie der Verabreichungswege. Während die Gestagenkomponente für die Ovulationshemmung verantwortlich ist, führt die estrogene Komponente zu einem akzeptableren Blutungsprofil, erhöht gleichzeitig die empfängnisverhütende Wirksamkeit und potenziert die Wirkung des Gestagens auf die Gonadotropine. Das natürliche Östrogen Estradiol und sein Derivat Estradiolvalerat haben geringere metabolische und thromboembolische Wirkungen als das synthetische Ethinylestradiol (EE; [4]). Dieses zeichnet sich durch eine potentere Hemmung der Gonadotropine aus, wodurch sich die kontrazeptive Wirkung bei niedrigeren Dosen entfalten kann und subsequent die estrogenen Nebenwirkungen geringer ausgeprägt sind [6]. Die synthetischen Gestagene unterscheiden sich insbesondere in ihrer androgenen Aktivität. Eine proandrogene Aktivität vermindert das östrogeninduzierte Risiko von Thromboembolien, während es aufgrund der Abnahme der SHBG(„sex hormone-binding globulin“)-Synthese zu unerwünschten androgeninduzierten Effekten (Akne, Anstieg des Gesamtcholesterin- und Triglyzeridspiegels) kommen kann [5]. Zu den nichtkontrazeptiven Nutzen der KHK gehören die Zyklusregulierung und die signifikante Reduktion des Risikos für Endometrium- und Ovarialkarzinome, wobei Adipositas ein Risikofaktor für Zyklusstörungen und die Inzidenz des Endometriumkarzinoms ist [4]. Eine Gewichtszunahme scheint durch die Einnahme von KHK nicht hervorgerufen zu werden. Dennoch ist die Anwendung bei adipösen Patientinnen aufgrund der Assoziation mit einem erhöhten Risiko für thromboembolische und kardiovaskuläre Ereignisse limitiert. Da Adipositas per se das Thromboserisiko verdoppelt, stellt das Bestehen von weiteren Risikofaktoren wie Alter ab 35 Jahre, arterielle Hypertonie von 160/100 mm Hg oder mehr, Migräne mit Aura, Thrombose oder arteriellen Ereignissen in der Eigen- oder Familienanamnese eine absolute Kontraindikation dar [5].

Kombinierte orale Kontrazeptiva

Die bisherige Datenlage zeigt keine Hinweise für eine reduzierte Wirksamkeit von kombinierten oralen Kontrazeptiva (KOK) bei erhöhtem BMI, ein geringer Wirkungsverlust bei einem BMI von 35 kg/m2 oder mehr wird aber nicht ausgeschlossen. Pharmakokinetische Studien zum Plasmaspiegel von KOK liegen bei Frauen mit einem BMI von 30–39,9 kg/m2 nur für Präparate mit dem Gestagen Levonorgestrel (LNG) vor und ergaben im Vergleich zu normalgewichtigen Frauen, dass die LNG-Konzentration im Plasma vergleichbar, die EE-Konzentration jedoch vermindert ist. Das Erreichen des Steady-state-Plasmaspiegels von LNG dauert nach dem Anwendungsstart bei adipösen Frauen länger, weshalb bei höhergradiger Adipositas eine zusätzliche Barrieremethode in den ersten beiden Anwendungswochen zu erwägen ist. Zur Verbesserung der Verhütungseffizienz sind KOK mit 30 µg EE statt mit 20 µg zu empfehlen. Hier ist das Thromboserisiko zu beachten, welches parallel zur Erhöhung der EE-Dosis zunimmt. [6]. Adipöse Frauen haben ein Baseline-Thromboserisiko von 6–11/10.000 „women years“, welches 2‑ bis 4‑fach erhöht ist im Vergleich zu Normalgewichtigen (1–5/10.000 „women years“). Die Einnahme von KOK führt zusätzlich bei allen Frauen zu einer 2‑ bis 3‑fachen Erhöhung des Thromboserisikos. Das Risiko für Apoplex und Myokardinfarkt ist gering und beträgt bei KOK-Einnahme 21,4/100.000 respektive 10,1/100.000 Personenjahre [4] Da kardiovaskuläre Risikofaktoren mit dem Alter generell ansteigen, sollten KOK bei adipösen Frauen ab einem Alter von 35 Jahren nur nach sorgfältiger Abwägung von Nutzen und Risiko eingesetzt werden [3]. Ein 2014 veröffentlichter Cochrane-Review zeigte, dass das Risiko einer Venenthrombose für KOK mit Zunahme der EE-Dosis progressiv ansteigt. Gestodenhaltige KOK zeigten ein signifikant höheres Risiko in Formulierungen mit 30 μg EE im Vergleich zu solchen mit 20 μg. Darüber hinaus zeigten KOK mit 30 μg EE in Kombination mit Gestoden, Desogestrel oder Drospirenon im Vergleich zu Nichtkonsumenten ein höheres Risiko als in Kombination mit LNG. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine höhere EE-Dosis bei KOK mit einem höheren Risiko für Venenthrombosen verbunden ist; unter den Gestagenen ist LNG bei gleicher EE-Dosis (30 μg) am sichersten [7]. Es wird angenommen, dass LNG durch seine androgene Aktivität der fördernden Wirkung von EE auf thrombotische Faktoren in der Leber entgegenwirkt.

Kombinierter Vaginalring

Pharmakokinetische Analysen des kombinierten Vaginalrings (EE/Etonogestrel) zeigten vergleichbare Serumlevel von Etonogestrel bei normalgewichtigen und übergewichtigen Frauen. Somit ist die Wirkung durch einen erhöhten BMI nicht beeinträchtigt [5]. Das Thromboserisiko entspricht dem der Pillen der 3. Generation und liegt höher als das EE/LNG-haltiger Präparate [8]. Der Vaginalring sollte daher bei adipösen Frauen nur angewandt werden, wenn weitere Risikofaktoren, die ein kardiovaskuläres oder thromboembolisches Ereignis begünstigen, ausgeschlossen sind.

Transdermales Verhütungspflaster

Ohne verfügbare pharmakokinetische Daten zur Anwendung des transdermalen Verhütungspflasters (EE/Norelgestromin) bei Adipositas zeigen klinische Studien eine reduzierte Wirksamkeit ab einem Körpergewicht von 90 kg bzw. einem BMI von 30 kg/m2. Daher wird von dessen Anwendung bei einem Körpergewicht von 90 kg oder mehr abgeraten [5]. Bezüglich des Risikos für thromboembolische und kardiovaskuläre Ereignisse gelten dieselben Richtlinien wie für den kombinierten Vaginalring.

Gestagenhaltige Monopräparate

Der Wirkmechanismus der gestagenhaltigen Monopräparate besteht in der Ovulationshemmung und in der Herstellung einer lokalen Barriere für den Spermientransport durch Erhöhung der Viskosität des zervikalen Mukus. Zu den reinen Gestagenkontrazeptiva gehören reine Gestagenpillen („progestin-only pills“, POP), LNG-freisetzende Intrauterinsysteme (LNG-IUS), Injektionen mit Depot-Medroxyprogesteronacetat (DMPA) und subkutane Implantate, welche Etonogestrel freisetzen. Gestagenhaltige Monopräparate erhöhen das Risiko für thromboembolische Ereignisse nicht und stellen für adipöse Patientinnen eine der sichersten kontrazeptiven Methoden dar [8]. Im Rahmen der Behandlung von Hypermenorrhö, Myomen und Endometriose kommt den LNG-IUS oder der DMPA-Dreimonatsspritze auch ein therapeutischer Stellenwert zu. Die ovulationshemmende Gestagenpille mit Desogestrel 75 μg hat positive Auswirkungen auf menstruationsassoziierte und nicht menstruationsassoziierte Migräne [4]. Anwenderinnen von POC („progestin-only contraceptives“), v. a. von DMPA, berichten häufig über eine Gewichtszunahme und ein unvorhersehbares Blutungsmuster als Nebenwirkung. Dies stellt oftmals den Grund für das Absetzen der Verhütungsmethode dar. Die Datenlage zur Gewichtsdynamik in dieser Gruppe von Kontrazeptiva ist spärlich [9]. Eine sichere Evidenz für eine Gewichtszunahme bei Einnahme reiner Gestagene liegt bisher nicht vor.

Reine Gestagenpillen

Zur Pharmakokinetik der POP bei Adipositas liegen derzeit keine gezielten Studien vor. Beobachtungsstudien ergaben keine Assoziation mit einer Erhöhung der Rate ungewollter Schwangerschaften. Lidegaard et al. konnten belegen, dass kein negativer Einfluss auf das Risiko thromboembolischer oder kardiovaskulärer Ereignisse besteht [8]. In der Schweiz ist nur ein gestagenhaltiges Präparat mit Desogestrel 75 µg zugelassen, während in Deutschland und Österreich zusätzlich die 30-µg-LNG-Pille auf dem Markt erhältlich ist. Die Datenlage zur Gewichtszunahme bei Einnahme von POP ist sehr gering, wobei ein Cochrane-Review 2 Publikationen identifizierte, welche diesen Aspekt untersuchten. Im Vergleich standen Gewicht und Körperzusammensetzung bei perimenopausalen Frauen nach 12-monatiger Einnahme von Desogestrel 75 µg mit einer LNG-IUS-Gruppe und einer Kontrollgruppe ohne Hormonbehandlung. Durchschnittsgewicht und BMI unterschieden sich nach 12 Monaten nicht signifikant innerhalb dieser Gruppen [9].

Dreimonatsspritze

Der in der Dreimonatsspritze enthaltene Wirkstoff DMPA ist intramuskulär und subkutan applizierbar. Die Tatsache, dass der Plasmaspiegel mit steigendem BMI sinkt, verursachte große Unsicherheit in Bezug auf die Wirksamkeit bei Frauen mit einem BMI von mehr als 35 kg/m2. Der mittlere Plasmaspiegel scheint jedoch stets bei Werten über 200 pg/ml zu liegen, wodurch die effiziente Inhibition der Ovulation gewährleistet ist [5]. Zu bedenken ist eine womöglich erschwerte tiefe intramuskuläre Applikation bei Adipositas. Daher kann eine Applikation am Musculus deltoideus oder eine subkutane Applikation vorteilhaft sein.
Es gibt keine Hinweise für eine Assoziation von DMPA-Applikation und erhöhten thromboembolischen oder kardiovaskulären Risiken [8]. Zudem zeigte sich eine Erhöhung der Insulinresistenz bei adipösen Frauen, wobei die langfristigen Folgen dieser Veränderungen aktuell noch unklar sind. Häufig wird die Anwendung von DMPA innerhalb des ersten Jahres aufgrund einer Gewichtszunahme sistiert. Einige Studien haben gezeigt, dass ein Behandlungsbeginn in jungem Alter mit einer stärkeren Gewichtszunahme während der DMPA-Therapie-Zeit einhergeht. Man geht analog zu den Veränderungen bei einem metabolischem Syndrom von einer Zunahme des viszeralen Fetts bei DMPA-Anwenderinnen aus [9].

Etonogestrelimplantat

Das Etonogestrelimplantat ist unabhängig vom Körpergewicht ein potentes Kontrazeptivum, obwohl die Datenlage vermuten lässt, dass die Pharmakokinetik bei adipösen Frauen verändert ist [4]. Die Serumspiegel von Etonogestrel sind bei Frauen mit BMI ab 30 kg/m2 tendenziell niedriger als bei Normalgewichtigen, liegen jedoch stets über 90 pg/ml, dem erforderlichen Schwellenwert zur Inhibition der Ovulation. Es besteht keine Evidenz für erhöhte Versagerquoten bei adipösen Frauen [5]. Da die Plasmaspiegel mit der Liegedauer abnehmen, könnte bei einem BMI von mehr als 30 kg/m2 ein Austausch des Implantats bereits nach 24 statt nach den üblichen 36 Monaten in Erwägung gezogen werden. Dies gilt insbesondere bei Frauen, die gleichzeitig Leberenzyminduktoren verwenden [4]. Eine Vergleichsstudie von 13 Publikationen zeigte, dass bei etwa 20 % der Patientinnen eine Gewichtszunahme auftritt. Es zeigte sich ein jährlicher Anstieg um 1,5–2 % des ursprünglichen Körpergewichts, wobei dies auch einem physiologischen Vorgang unabhängig von der Kontrazeptionsmethode entsprechen kann. Frauen mit einer nichthormonellen Verhütung wiesen mit einer durchschnittlichen Gewichtszunahme von 2,4 % über 2 Jahre ähnliche Gewichtsveränderungen wie Nutzerinnen des Etonogestrelimplantats mit 2,6 % über denselben Zeitraum auf [10].
Bisher konnten kein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und kein negativer Effekt auf das Gerinnungssystem nachgewiesen werden [8]. In Anbetracht der niedrigen, vom Implantat freigesetzten Gestagendosis ist das Auftreten solcher Ereignisse sehr unwahrscheinlich.

Intrauterine Verhütungsmethoden (Kupfer-IUS, LNG-IUS)

Das Kupfer-IUS und das LNG-IUS sind sehr sichere Verhütungsmethoden für übergewichtige und adipöse Frauen, da sie ihre kontrazeptive Wirkung über lokale Mechanismen im Uterus entfalten. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass systemische Nebenwirkungen sehr gering sind und ihre Sicherheit unabhängig von der Compliance der Anwenderin ist [5]. Die Hormonspirale wirkt durch die lokal induzierte Endometriumatrophie protektiv auf die Endometriumschleimhaut und senkt das Risiko eines bei adipösen Frauen häufiger auftretenden Endometriumkarzinoms. Auch die Kupferspirale ist mit einem reduzierten Endometriumkarzinomrisiko assoziiert, wobei der kausale Zusammenhang unklar ist [4]. Ein erhöhtes Expositionsrisiko bezüglich sexuell übertragbarer Erkrankungen oder ein deutlich vergrößerter Uterus (> 9 cm Sondenlänge) sollten vor Anwendung einer intrauterinen Verhütungsmethode ausgeschlossen werden [5].

Kupferspirale (Kupfer-IUS)

Die Kupferspirale ist bei übergewichtigen und adipösen Frauen die Methode der Wahl. Aufgrund des lokalen Wirkmechanismus ist die Wirksamkeit nicht beeinträchtigt, und bei Hormonfreiheit besteht kein erhöhtes gesundheitliches Risiko [4].

Levonorgestrelspirale (LNG-IUS)

In der Subgruppenanalyse einer Phase-III-Studie zeigte der BMI keinen Einfluss auf die Sicherheit eines LNG-IUS [2]. Es besteht kein Hinweis auf eine Zunahme gesundheitlicher Risiken. Durch die vermehrte Östrogenproduktion in Adipozyten tritt bei adipösen Frauen häufig ein hormonelles Ungleichgewicht auf, welches Blutungsstörungen wie eine Hypermenorrhö zur Folge haben kann. Hier ist die Anwendung eines LNG-IUS die Kontrazeptionsmethode der Wahl [4].

Notfallverhütung

Die Kupferspirale stellt durch ihre lokale Wirkung für normalgewichtige und adipöse Frauen die effizienteste Methode der Notfallkontrazeption dar. Der BMI hat keinen Einfluss auf die Wirksamkeit. Der Zugang ist jedoch nicht immer gewährleistet, die Kosten sind höher, und die Einlage ist für Frauen unangenehmer als die Einnahme eines oralen Präparats [4]. Orale Notfallkontrazeptiva verhindern eine Schwangerschaft, indem sie den Eisprung hemmen oder verzögern, und sind bei Einnahme kurz nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr am wirksamsten. Das Risiko eines Schwangerschaftseintritts bei Frauen mit einem BMI ab 30 kg/m2 im Vergleich zu normalgewichtigen Frauen ist bei LNG 1,5 mg bis zu 4‑fach und bei Ulipristalacetat 30 mg bis zu 2‑fach erhöht. Während LNG bis zu 72 h postkoital eingenommen werden kann, wirkt Ulipristalacetat bis zu 120 h und ist potenter, auch den Eisprung von 18–20 mm großen Follikeln zu verhindern. Dies entfachte die Diskussion, ob es vertretbar sei, bei adipösen Frauen LNG einzusetzen. Die europäische Arzneimittelkommission (European Medicines Agency, EMA) ist zu dem Schluss gekommen, dass LNG auch bei Adipositas weiterhin als Notfallkontrazeption angewandt werden darf. Dies ist deshalb sinnvoll, da die Gesamtschwangerschaftsrate bei beiden Präparaten gering ist und Ulipristalacetat bisher nur mit Rezept erhältlich ist und somit nicht immer als bessere Option zur Verfügung steht [11].

Besondere Beratungssituationen

Jugendliche

Die Adoleszenz ist gekennzeichnet durch eine Veränderung von Körperform und -zusammensetzung. Oberschenkel‑, Gesäß- und Brustumfang nehmen zu, es erfolgt eine Gewichtszunahme von durchschnittlich 1,14 kg pro Jahr auch ohne Hormoneinnahme [12]. Depot-Gestagene führen auch bei Jugendlichen im Vergleich zu den anderen verfügbaren Kontrazeptionsmethoden häufig zu einer Gewichtszunahme. Jugendliche mit Übergewicht und Adipositas haben ein erhöhtes Risiko für eine Hyperandrogenämie und ein polyzystisches Ovarialsyndrom (PCOS). KOK erhöhen SHBG und vermindern das freie Testosteron [5]. Bestehen keine Risikofaktoren und Kontraindikationen, sind KOK aufgrund ihrer hohen Effizienz und ihrer geringen Nebenwirkungen die Verhütungsmethode der Wahl in der Adoleszenz. Eine Pille mit 30 µg EE ist einerseits aufgrund der noch nicht erreichten maximalen Knochendichte, jedoch auch wegen der höheren Wirksamkeit bei erhöhtem BMI zu empfehlen [13]. Bezüglich der Wahl des Gestagens ist LNG wegen des geringeren Thromboserisikos zu bevorzugen. Aufgrund der Verzögerung bis zum Erreichen des Steady-state-Plasmaspiegels soll eine zusätzliche Verhütung mittels Kondoms in den ersten 14 Tagen nach Anwendungsbeginn empfohlen werden [12].
Bei Kontraindikationen für östrogenhaltige Kontrazeptiva sind die Gestagenpille, das Gestagenimplantat oder das gestagenhaltige IUD zu empfehlen. Depot-Gestagene sollten wegen des Risikos einer Gewichtszunahme und einer Osteoporose nur in Ausnahmefällen injiziert werden. Bei Kontraindikationen für eine Hormoneinnahme empfiehlt sich die Einlage eines kupferhaltigen IUD [13].

Frauen ab 40 Jahre

Da das Thrombose- und Myokardinfarktrisiko mit dem Alter steigt, sind bei Frauen ab 40 Jahre gestagenhaltige Monopräparate oder hormonfreie Kontrazeptiva, wie die Kupferspirale, indiziert. Aufgrund des protektiven Effekts auf das Endometrium und der Regulation perimenopausaler Blutungsstörungen ist das LNG-IUS eine weitere gute Option [4]. Bei abgeschlossener Familienplanung ist auch eine Vasektomie des Partners oder eine Tubenligatur zu diskutieren, wobei hier das erhöhte Operations- und Narkoserisiko zu beachten ist, welches mit einem erhöhten BMI einhergeht.

Raucherinnen

Aufgrund des schon durch die Adipositas erhöhten thromboembolischen und kardiovaskulären Risikos sollte bei dieser Patientinnengruppe von einer Verhütung mittels KHK unabhängig vom quantitativen Nikotinkonsums generell eher abgeraten werden [14]. Gestagenhaltige Monopräparate oder intrauterine Verhütungsmethoden sind bei Raucherinnen bessere Alternativen [3].

Antikonzeption nach bariatrischer Chirurgie

Gemäß amerikanischen und europäischen Richtlinien wird Frauen im reproduktionsfähigen Alter empfohlen, nach einem bariatrischen Eingriff für 12 bis 24 Monate eine Schwangerschaft zu vermeiden. Eine sichere Antikonzeption sollte daher bereits vor der Durchführung eines bariatrischen Eingriffs besprochen werden. Die Absorption oraler Kontrazeptiva kann sowohl durch bariatrische Eingriffe als auch durch medikamentöse Therapien zur Gewichtsreduktion (Lipasehemmer oder GLP[„glucagon-like peptide“]-1-Rezeptor-Agonisten) reduziert sein. Die präoperative Einnahme von KHK sollte mindestens 4 Wochen vor der Operation sistiert werden. Bei restriktiven Eingriffen, wie dem Einsetzen eines Magenbandes oder einer Sleeve-Gastrektomie, können postoperativ orale Präparate eingesetzt werden [4]. Bei malabsorptiven Eingriffen wie einem jejunoilealen oder einem Roux-en-Y-Bypass ist die Wirksamkeit einer oralen Kontrazeption nicht sicher gewährleistet, hingegen sind intrauterine Verhütungsmethoden oder eine DMPA-Applikation möglich. Da bariatrische Eingriffe mit einer reduzierten Knochendichte assoziiert werden, sollte die Applikation von DMPA jedoch zurückhaltend erfolgen [15]. Nach ausreichender Gewichtsreduktion und ohne kardiovaskuläre Risikofaktoren kann auch mittels eines Vaginalrings oder eines kombinierten Verhütungspflasters verhütet werden [4]. Bei einer Notfallantikonzeption ist nach bariatrischen Eingriffen die Kupferspirale zu bevorzugen [15].

Schlussfolgerung

Übergewichtige und adipöse Frauen sind in Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit der verschiedenen Kontrazeptionsmethoden unterrepräsentiert. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Gewichtsproblematik bei Frauen im reproduktionsfähigen Alter sollten zukünftige Studien diese Bevölkerungsgruppe einschließen, um so die Grundlage für eine adäquate Antikonzeptionsberatung zu verbessern.

Fazit für die Praxis

  • Die Datenlage zur Effizienz und Sicherheit der Kontrazeption ist bei adipösen Frauen, insbesondere bei einem Body-Mass-Index (BMI) > 35 kg/m2, sehr spärlich.
  • Mit steigendem BMI steigt das Risiko für thromboembolische und kardiovaskuläre Ereignisse und potenziert sich bei zusätzlicher Einnahme hormoneller Kontrazeptiva in unterschiedlichem Ausmaß.
  • Intrauterine Verhütungsmethoden sind bei übergewichtigen und adipösen Frauen wirksam und sicher und bieten zusätzlich eine protektive Wirkung auf das Endometrium. Sie sind daher sehr zu empfehlen.
  • Kombinierte orale Kontrazeptiva (KOK) können angewendet werden, sofern keine weiteren Risikofaktoren vorliegen. Eine Dosierung von 30 µg Ethinylestradiol erhöht die kontrazeptive Sicherheit bei unverändertem Thromboserisiko. Hier ist die Kombination mit Levonorgestrel (LNG) zu bevorzugen, um das Thromboserisiko zu minimieren.
  • Aufgrund des verzögerten Erreichens des Steady-State-Plasmaspiegels bei KOK wird die zusätzliche Verhütung mit Kondom über 14 Tage bei Anwendungsbeginn empfohlen.
  • Als Notfallkontrazeption stellt die Kupferspirale die Methode der Wahl dar. Unter den oralen Notfallkontrazeptiva ist Ulipristalacetat 30 mg LNG 1,5 mg überlegen. Dennoch soll LNG 1,5 mg eingenommen werden, falls der Zugang zu den anderen Optionen nicht gewährleistet ist.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S. El-Hadad, C. Insam, K. Unterhuber, G.S. Merki-Feld und B. Leeners geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
3.
Zurück zum Zitat WHO (2015) Medical Eligibilty criteria for contraceptive use, 5. Aufl. World health organization, WHO (2015) Medical Eligibilty criteria for contraceptive use, 5. Aufl. World health organization,
14.
Zurück zum Zitat Römer T (2019) Medical eligibility for contraception in women at increased risk. Dtsch Arztebl Int 116:764–774PubMedPubMedCentral Römer T (2019) Medical eligibility for contraception in women at increased risk. Dtsch Arztebl Int 116:764–774PubMedPubMedCentral
Metadaten
Titel
Möglichkeiten der Kontrazeption bei Übergewicht und Adipositas
Grundlagen für eine differenzierte Entscheidungsfindung
verfasst von
Dr. med. Samia El-Hadad
Charlene Insam
Katharina Unterhuber
Gabriele Susanne Merki-Feld
Brigitte Leeners
Publikationsdatum
20.09.2021
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Gynäkologische Endokrinologie / Ausgabe 4/2021
Print ISSN: 1610-2894
Elektronische ISSN: 1610-2908
DOI
https://doi.org/10.1007/s10304-021-00413-7

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