Das Ziel der durchgeführten Studie war die Präsentation eines Überblicks über existierende digitale Übergewichts- und Adipositasinterventionen im Kindes- und Jugendalter. Im Rahmen dessen fand eine Analyse eingesetzter Technologien und methodischer Vorgehensweisen statt. Trotz heterogener Mediennutzung bewirkten alle Maßnahmen eine BMI-Verminderung.
Stärken und Limitationen
Stärken der durchgeführten Analyse liegen in der Einzigartigkeit der Suche, da in der untersuchten Altersgruppe aktuell keine Datenlage über die Effektivität digitaler Adipositasinterventionen besteht. Zudem bildet der Suchzeitraum zwischen 2016 und 2021 neueste Ergebnisse ab. Die Studienlage beinhaltet 3 US-amerikanische, 3 europäische und eine asiatische Studienpopulationen, was die internationale Relevanz der Thematik unterstreicht.
Die Analyse birgt Limitationen. Die Literaturrecherche konnte aufgrund mangelnder abgeschlossener Datenerhebungen lediglich 7 Studien mit erfüllten Inklusionskriterien identifizieren. Präzise Aussagen zur Verteilung verschiedener Übergewichtsgrade der Teilnehmenden innerhalb der Experimental- und Kontrollgruppen wurden nur partiell getroffen, zudem variierte der BMI zu Interventionsbeginn zwischen den Studienpopulationen. Die verschiedenen Interventionsinhalte und -zeiträume sowie die Diversität der Altersverteilung schränken generalisierbare Aussagen über Wirkungsansätze ebenfalls ein. Obwohl sich die Effektivität des Medieneinsatzes abbildet, beeinflussten verschiedene Kulturkreise den geschlechterspezifischen Zugang zu Technologien und das Nutzungsverhalten, was die Replizierbarkeit der Ergebnisse reduziert. Aufgrund der heterogenen Darstellung der BMI-Veränderungen wurde eine einheitliche Schlussfolgerung bezüglich der Interventionseffektivität erschwert.
Die Bewertung des Risikos systematischer Fehler zeigte, dass keine ausreichende Verblindung der Studiendurchführung und der Ergebnisbewertungen durchgeführt wurde. Es ist nicht sichergestellt, ob Messungen und daraus resultierende Schlussfolgerungen davon beeinflusst wurden. Aussagen zur Effektstärke wurden lediglich in einer Studie getroffen [
29]. Somit müssen Fehler der potenziellen Wirksamkeitsüberschätzung bestehender Studien in der Ergebnisinterpretation berücksichtigt werden [
32]. Die Datenanalyse, -extraktion sowie die Beurteilung des Risikos systematischer Fehler wurden von einer Autorin durchgeführt. Für die Erhöhung der Studienqualität sollten Ergebnisse durch die Sichtung weiterer Autor:innen abgesichert werden.
Medieneinsatz und Effektivität bei Adipositasinterventionen
Signifikante BMI-Veränderungen wurden in der vorliegenden Analyse beim Einsatz telemedizinischer Maßnahmen [
26,
27] sowie SMS für das Smartphone identifiziert [
30,
31].
Der Erfolg telemedizinischer Maßnahmen wird in der Literatur partiell belegt. Studienergebnisse von Davis et al. [
33] konnten im Kindesalter keinen signifikanten BMI-vermindernden Effekt durch den Einsatz von Telemedizin bestätigen. Zur Begründung wurde darauf hingewiesen, dass für Gewichtsveränderungen längere Interventionsdauern für nachhaltige Ergebnisse vonnöten sind. Zukünftig sollten Frequenz und Länge des Medieneinsatzes genauer untersucht werden, um Rückschlüsse auf eine effektive Dauer der Maßnahmen ziehen zu können. Obwohl die Forderung nach weiteren Studien deutlich wird, bestätigt sich die Praktikabilität und die hohe Akzeptanz telemedizinischer Maßnahmen [
34].
Khatami et al. [
35] beobachteten bei dem kombinierten Einsatz von einer Website und Erinnerungs-SMS geschlechterspezifische BMI-Veränderungen. Eine höhere Gewichtsreduktion der Mädchen wurde damit begründet, dass die weibliche Studienpopulation ein stärkeres Bewusstsein hinsichtlich des Programmengagements zeigte [
36]. Nicht nur sozialkonforme Diskrepanzen, auch Verhaltensunterschiede in der Mediennutzung waren beobachtbar [
37]. Aufgrund der höheren Affinität der Mädchen zu analogen Büchern wurde in der Altersgruppe der 11- bis 17-Jährigen eine niedrige Medienfrequenz vermerkt; Smartphones stellten in dieser Gruppe die am häufigsten genutzte Medienquelle dar [
38]. Jungen im gleichen Alter zeigten eine hohe tägliche Nutzungsdauer und waren affin gegenüber Spielkonsolen [
39].
Studien bestätigten nicht nur eine statische, sondern auch geschlechterspezifische longitudinale Entwicklung der Mediennutzung [
40]. Es veränderte sich neben der Medienfrequenzerhöhung auch die Affinität zu präferierten Geräten, da mit steigendem Alter Kompetenzen zur Nutzung weiterer Technologien ermöglicht wurden [
41]. Als Konsequenz ist ersichtlich, dass der Einbezug des Geschlechtes und des spezifischen Alters für den Einsatz digitaler Maßnahmen von Interesse ist. Dies spiegelt sich in den Empfehlungen der DAG-Leitlinien für die analogen Behandlungsweisen. Hier wird für effektive Gewichtsveränderungen auf die Berücksichtigung der geschlechterspezifischen Interessen und körperlichen Voraussetzungen hingewiesen [
17].
Weitere Studien müssen mediale Maßnahmen auf geschlechts- und altersspezifische Neigungen anpassen und Ergebnisse differenziert betrachten. Um diese komplexen Wirkmechanismen präzise darzustellen, sollten zukünftig zudem neben der Erhebung des BMI auch Veränderungen des (Gesundheits‑)Verhaltens berücksichtigt werden.
Andere Übersichtsarbeiten zur Nutzung digitaler Interventionen bestätigen den positiven Einfluss des Medieneinsatzes auf die BMI-Reduktion, stehen hinsichtlich der eingesetzten Medien jedoch konträr zu vorliegenden Ergebnissen. Mcmullan et al. [
20] identifizierten signifikante Einflüsse internetbasierter Maßnahmen und Exergaming, definiert als computergestützte Fitnessspiele zur Förderung der Aktivität. Daraus resultierende signifikante BMI-Veränderungen wurden in weiteren Studien bestätigt [
42]. Obwohl der Einfluss von Exergaming durch den hohen Spaßfaktor eine Rücklaufquote von fast 100 % bedingte, gibt es aktuell keine Evidenzlage für 6‑ bis 18-Jährige ohne Vorerkrankungen [
43]. Zukunftsweisend empfiehlt sich eine spezifischere Untersuchung dieser Interventionsmöglichkeit.
Methodische Interventionsgestaltung erfolgreicher Maßnahmen
Während die Nutzung einzelner Medien bereits gewichtsreduzierende Ergebnisse zeigt, weist besonders auch die Kombination digitaler Endgeräte Erfolge vor. Hierbei lässt sich die Mischung von smartphonebasierten Anwendungen und virtuellem Coaching nennen [
26,
27,
31]. Auch die Kombination aus digitalem Armband, Erinnerungs-SMS per Smartphone und Onlineschulungen wurde als BMI-reduzierend eingeordnet. Allerdings konnten sich keine signifikanten Veränderungen zeigen [
25,
29]. Somit lässt sich das Potenzial der multidimensionalen, medialen Interventionsgestaltung erkennen, jedoch ist eine Analyse spezifischer Kombinationen notwendig.
Fleischman et al. [
26] fragten Studienteilnehmende nach ihrer Präferenz hinsichtlich analoger und digitaler Interventionen. 63,6 % der Population bevorzugten virtuelle Beratungen. Trotz der individuellen Zufriedenheit bestätigt die Studienlage die Effektivität der Maßnahmen nicht. In der vorliegenden Studie zeigten Ergebnisse von Mameli et al. [
29] in der analogen Kontrollgruppe höhere BMI-Reduktionen als in der digital gestützten Experimentalgruppe. Neben der kleinen Studienpopulation wurde das Fehlen der direkten Face-to-Face-Interaktion als Grund für die Reduktion der Programmeffizienz identifiziert.
Auch Stasinaki et al. [
44] postulierten, dass bei kurzzeitigen Gewichtsreduktionsinterventionen eine intensive, persönliche analoge Verhaltensintervention mit Spezialist:innen einen höheren Gewichtsverlust erzielte. In Zukunft ist abhängig von der Interventionsdauer zu überlegen, eine Kombination aus analogen und digitalen Maßnahmen anzubieten zur Wahrung des persönlichen Kontakts zwischen Teilnehmenden und Fachpersonal. Welche Zeiträume welche Interventionsansätze fordern, muss erforscht werden.
Die von Ahmad et al. [
30] gestaltete BMI-Reduktionsintervention nutzte soziale Medien über das direkte Umfeld übergewichtiger Kinder. Über Smartphones und Computer wurden Eltern erreicht, da der Zugang der Kinder auf die Facebook- oder WhatsApp-Gruppen durch die Alterslimitierung auf 13 Jahre verwehrt war. Erziehungsberechtigte wurden im Rahmen dessen als Informationenüberträger genutzt, wodurch sie als Multiplikator gesunde Verhaltensweisen weitergaben. Die Effektivität von Familien als Adressaten kommunaler Gesundheitsförderung wurde in der Literatur bestätigt, da eine niedrige Programmpartizipation der Eltern mit einer hohen Drop-out-Rate teilnehmender Kinder korrelierte [
29]. Zudem begünstigte die emotionale Bindung und der gemeinsame Lebensstil laut weiterer Studien einen verständlichen Informationstransfer und eine daraus resultierende Gewichtsreduktion [
45].
Obwohl die Evidenzlage die Vorteile des familiären Einbezugs stützt, wurde auf den dadurch verstärkten Einfluss des familiären, sozioökonomischen Status hingewiesen [
46]. Für Kinder mit schwachem Status verringerte sich die Unabhängigkeit vom prädeterminierten sozialen Umfeld, was die Zugänglichkeit zu Gesundheitsprogrammen reduzierte [
47]. Lösungsansätze zur Beseitigung der Stigmatisierungsgefahr wurden in einer niederschwelligen Kommunikation hinsichtlich der Interventionsvorgehensweise festgestellt [
45]. In Bezug auf familiär ausgelegte, mediale Interventionen identifizierten Hammersley et al. [
48] ein methodisches Problem in der Programmgestaltung, da eine niedrige Verbreitung sozialer Medien unter Erziehungsberechtigten ein Hindernis in der Teilnahme darstellte.
Für kommende Studien ist es somit sinnvoll, die Familien als Gesundheitsmultiplikator zu nutzen. Allerdings sollten Kinder entweder zur Nutzung der Medienkomponente befähigt werden oder Prozesse für Eltern niederschwellig und didaktisch wertvoll aufbereitet werden.
Steigende Programmadhärenz der Teilnehmenden korreliert in der Literatur mit erhöhten Gewichtsveränderungen [
49]. In der vorliegenden Studienlage lassen lediglich Ergebnisse von Ahmad et al. [
30] Aussagen zum Programmengagement zu, in welchen Adhärenz über die Anzahl von Nachrichten, welche von Eltern gelesen wurden, beschrieben wurde. Andere Studien befragten Teilnehmende nach ihrer Zufriedenheit mit der Intervention oder evaluierten die Anzahl erfolgreich beendeter Onlineprogramme, welche mit einem reduzierten Gewichtsstatus korrelierten [
50]. Allerdings fehlt eine Evidenzlage standardisierter Vorgehensweisen der Adhärenzermittlung, welche weitergehend erforscht werden muss.
Neben Ansätzen der methodischen Interventionsgestaltung finden sich Potenziale in der theoretischen Vorgehensweise der Programme. Es ist erkennbar, dass Maßnahmen basierend auf Modellen, wie der sozialkognitiven Theorie, positive Ergebnisse aufweisen [
25]. Dies wird im Bereich der analogen Interventionsgestaltung im Rahmen der Adipositasforschung bestätigt. Hierbei wird postuliert, dass verhaltenstherapeutische Techniken (beispielsweise Belohnung oder Verstärkung) das Wissen über Risiken verbessern und den Behandlungserfolg steigern [
17]. Im Gegensatz dazu konnte das ADDIE(Analysis, Design, Development, Implementation and Evaluation)-Modell, welches Theorien der Kognition, des Behaviorismus und des Konstruktivismus vereint, nicht zu einer BMI-Reduktion führen [
35]. Somit stellt die Konzeption digitaler Interventionen zusätzlich eine Forderung nach der Entwicklung einer wissenschaftlich fundierten Gestaltung.
Konsequenzen für Forschung und Praxis
Aufgrund steigender Evidenzen zu Konzepten digitaler Übergewichts- und Adipositasinterventionen im Kindes- und Jugendalter ergeben sich Forschungsbereiche, welche zur Weiterentwicklung qualitativ hochwertiger Maßnahmen der Gewichtsreduktion beitragen. Diese sind im Folgenden dargestellt:
1.
Durchführung differenzierter Analysen der Subgruppen anhand vorliegender Schlüsselfaktoren wie Interventionstechnologien, Geschlecht, Kulturzugehörigkeit und Altersgruppen,
2.
zielgruppenspezifische Adaptation der digitalen Unterstützungsinstrumente zur kindergerechten oder familienfreundlichen Handhabung und leichterem Verständnis,
3.
regelmäßige Überprüfung des Erscheinens neuer technologischer Interventionsmaßnahmen, um die in Zukunft erscheinenden Studienergebnisse zeitnah darzustellen.
Die für die Praxis entstehenden Konsequenzen für die Maßnahmengestaltung sind Folgende: Beruhend auf Erkenntnissen bisheriger Studien und analoger Interventionen empfiehlt sich der Einbezug familienbasierter Programme [
17]. Zudem erscheint es hilfreich, regelmäßig persönliche Treffen mit adipositasspezifischem Fachpersonal anzubieten, welche digitale Angebote unterstützen. Eine theoretische Fundierung der Programme bietet Vorteile in der kognitiven Zugänglichkeit der Teilnehmenden. Zuletzt weist die momentane Studienlage Lücken hinsichtlich der Kombinationsmöglichkeiten von Medien auf, welche mittels empirischer Überprüfung geschlossen werden müssen.
Während auf individueller Ebene die alltagsnahe Interventionsmöglichkeit die Eigenverantwortung der Kinder hinsichtlich der Programmpartizipation erhöht, verlangt die höhere Mediennutzung eine Ausbildung zusätzlicher digitaler Fähigkeiten [
48]. Mit Verbesserung einer solchen Medienkompetenz muss sichergestellt werden, dass Teilnehmende die Maßnahmen hinsichtlich Vorgehensweise und Nutzung verstehen, um das gewichtsreduzierende Interventionsziel medial gestützt wahrnehmen zu können. Hierbei empfiehlt sich die Gestaltung maßnahmengebundener Schulungen, um Anwendungsfehler bei der praktischen Umsetzung digitaler Interventionen zu reduzieren.
Aufgrund der erhöhten Zielgruppenerreichbarkeit stellen digitale Übergewichts- und Adipositasinterventionen auf gesellschaftspolitischer Ebene einen entscheidenden Faktor für die Kindergesundheit dar. Für das Gesundheitssystem resultiert daraus eine Kostenreduktion für Übergewichtsbehandlung und den daraus entstehenden Folgekrankheiten. An- und Abreise für die Betroffenen entfallen, was finanzielle und zeitliche Vorteile birgt. Dank der zu Hause stattfindenden Maßnahmen können Schulungen von Fachpersonal gleichzeitig mehrere Teilnehmende erreichen, wodurch zeitnahe, ressourcensparende Interventionen ermöglicht werden. Trotz der Vorteile liegen in der Kosten-Wirksamkeits-Effektivitätsüberprüfung noch wenige Studiendaten vor. Hier muss in Zukunft eine konkretere Gegenüberstellung durchgeführt werden, welche weiterführend den ethischen Umgang mit den Daten und dem damit verbundenen Datenschutz untersucht.