Cannabinoidtherapie erfolgreich beantragen: So geht’s

Drei Jahre nach Inkrafttreten des ‚Cannabisgesetzes‘ [1] gehören entsprechende Kostenübernahme-Anträge bei der GKV zum Alltag. Zunehmend sorgen Landessozialgerichte dafür, dass sich die Mühe lohnt. Hier noch einmal die wichtigsten Aspekte für die Antragstellung. × Den Antrag stellt wie üblich der Patient, entscheidend für einen positiven Bescheid ist jedoch die schlüssige Argumentation des Arztes. Für die GKV sollte plausibel nachvollziehbar sein, dass die Voraussetzungen für die Kostenübernahme erfüllt sind: Die Erkrankung muss schwerwiegend sein, d. h., sie muss lebensbedrohlich sein oder die Lebensqualität des Patienten auf Dauer wesentlich beeinträchtigen (§ 33 Arzneimittel-Richtlinie; siehe auch LSG Hamburg, 2.4.2019: L 1 KR 16/19 B ER; LSG NRW, 30.1.2019: L 11 KR 442/18 B ER). Nach begründeter Einschätzung des Arztes darf keine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsoption (medikamentös oder nicht-medikamentös) zur Verfügung stehen. Der Patient muss aber nicht alle theoretisch denkbaren Therapiealternativen erfolglos erduldet haben (SG Bremen, 24.10.17: S 7 KR 227/17 ER). Eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung der Maßnahme auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome muss bestehen. Das LSG Hessen fordert (21.11.17: Az.: L 8 KR 406/17 B ER) hierzu, dass zumindest auf die Versorgungssituation des Patienten übertragbare Ergebnisse vorliegen, z. B. pathophysiologische Überlegungen oder Kasuistiken. LSGs stärken Therapiefreiheit Stellt der Arzt das Vorliegen dieser Voraussetzungen fundiert dar, muss die GKV die Therapiekosten in der Regel übernehmen. So stärkt beispielsweise das LSG Nordrhein-Westfalen in einer einstweiligen Anordnung die Therapiefreiheit von Arzt und Patient (30.1.2019: L 11 KR 442/18 B ER) [2]: Hier hatte der Versicherte, der unter einer Multiplen Sklerose litt, die Standardtherapie inkl. eines Cannabis-Fertigarzneimittels nicht vertragen. Der Arzt hatte die beabsichtigte Therapie mit Cannabisblüten ausführlich begründet. Das LSG NRW verpflichtete die GKV zur Kostenübernahme mit dem Hinweis: „Die begründete Einschätzung des Arztes ist von der GKV nicht zu hinterfragen.“ Und weiter: „Es geht nicht um die Frage einer letztlichen medizinischen „Richtigkeit“, es geht allein darum, ob der behandelnde Arzt eine begründete Einschätzung abgegeben hat.“ Die GKVen haben demnach die Einschätzung des Arztes hinzunehmen, sofern diese nachvollziehbar, schlüssig und in sich widerspruchsfrei ist. Ähnlich urteilte erst kürzlich das LSG Berlin-Brandenburg ebenfalls in einer einstweiligen Anordnung (20.08.2020: L 9 KR 223/20 B ER). Patientensituation klar darstellen Es empfiehlt sich daher, die individuelle Situation des Patienten ausführlich darzustellen, die bisherigen sowie die individuell nicht durchführbaren Therapieoptionen inklusive eingetretener bzw. zu befürchtender Nebenwirkungen zu nennen und mit den Aspekten der Cannabinoidtherapie abzuwägen. Auch eine klare Darstellung des Therapieziels erhöht die Chancen auf eine GKV-Kostenübernahme. Die Kostenübernahme-Bestätigung der Krankenkasse sollte vor der ersten Verordnung vorliegen. Für die Antragsbearbeitung gilt die übliche Frist von drei Wochen, bei Einbindung des MDK von fünf Wochen (§ 13 Abs. 3a SGB V). Im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) muss die GKV innerhalb von drei Tagen entscheiden, ebenso bei Antrag auf Kostenübernahme der ambulanten Weiterversorgung bei Patienten, die stationär auf eine Cannabinoid-Therapie eingestellt wurden. Und das Wirtschaftlichkeitsgebot? Zwar bleibt selbst bei positivem Bescheid der Arzt zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Verordnung verpflichtet (§ 12 SGB V). „Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Krankenversicherungsträger in seiner Versorgung mit Medizinalcannabis – unabhängig von der jeweiligen medizinischen Erforderlichkeit – die kostengünstigste Darreichungsform festzulegen hat, wenn Darreichungsformen unterschiedliche Wirkweisen haben. Denn Form und Dosis der Therapie sind ausschließlich von dem behandelnden Vertragsarzt patientenindividuell zu bestimmen.“ (LSG München, 05.11.2019: L 5 KR 544/18). Einschätzung des Arztes maßgeblich Die sorgfältig begründete Einschätzung des Arztes zu möglichen Alternativtherapien ist oft entscheidend für den Erfolg des Antrags auf Kostenübernahme durch die GKV. Literatur Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, Bundesgesundheitsblatt Nr. 11, 9. März 2017 Tolmein O, Medizinische Versorgung mit Cannabis – die Rechtslage klärt sich, Schmerz 2019, 33: 443–448 Cannabis-Wirkstoffe: das muss auf das Rezept Fast alle Cannabis-Wirkstoffe werden als Betäubungsmittel-Rezepturen verordnet, da sie keine Fertigarzneimitte-lZulassung haben. Da ist die formal korrekte Rezeptausstellung nicht ganz trivial. × Cannabisarzneimittel mit Ausnahme reiner CBD-Zubereitungen werden auf einem Standard-BtM-Rezept verschrieben. Die Rezepte müssen eine eindeutige Arzneimittelbezeichnung, z.B. Wirkstoff „Dronabinol“ oder Sorte der Cannabisblüten, Wirkstoffkonzentration und -menge, Darreichungsform, Abgabemenge und Dosierungsanweisung enthalten. Bei Angabe „gemäß schriftlicher Gebrauchsanweisung“ muss diese der Apotheke für die Plausibilitätsprüfung schriftlich vorliegen [1]. Innerhalb von 30 Tagen können grundsätzlich bis zu 500 mg Dronabinol, 1000 mg THC-Äquivalent in Form von Cannabisextrakten oder 100 g Cannabisblüten verschrieben werden. Bei Überschreitung dieser Höchstmengen ist ein „A“ auf dem BtM-Rezept anzubringen. Dieses muss vom Arzt mit ungekürzter Unterschrift unterschrieben sein.Die Angabe der Rezepturvorschrift wird leichter, wenn man sich auf das Neue Rezepturformularium (NRF) bezieht, das für Dronabinol z. B. ölige Tropfen 25 mg/ml (NRF 22.8.) oder Kapseln zu 2,5–10 mg (NRF 22.7.) vorsieht. Empfehlungen für Cannabisblüten (z.B. zerkleinert o. unzerkleinert); in Einzeldosen; zur Inhalation; sind unter NRF 22.12.–22.15. zu finden. Vaporisatoren mit verordnen Für Cannabisblüten wird die Verwendung eines medizinischen Vaporisators empfohlen. Aktuell sind zwei Vaporisatoren als Medizinprodukte zertifiziert und auf Hilfsmittelrezept verordnungsfähig: der Taschen-Vaporisator Mighty Medic und das Standgerät Volcano Medic, beide von Storz&Bickel, Tübingen. Auf Antrag übernehmen die GKVen die Kosten gewöhnlich, wenn sie auch die Kosten für die Cannabisblüten übernehmen.Anders als THC (Dronabinol) oder Cannabisblüten (unabhängig von ihrem THC- und CBD-Gehalt) ist reines CBD nicht im Cannabisgesetz genannt [2]. CBD ist kein Betäubungsmittel bei Verwendung zu therapeutischen Zwecken aber verschreibungspflichtig. Die Verordnung erfolgt im Allgemeinen auf Privatrezept.Die Dosierung von Cannabinoiden sollte einschleichend erfolgen [3]. Oft sind bereits niedrige Dosen für einen klinisch relevanten Effekt ausreichend. Jedoch unterscheiden sich orale und inhalative THC-Zieldosierungen erheblich. Orale Dronabinol-Dosierungen liegen oft zwischen 5 und 20 mg pro Tag. In Einzelfällen sind weit höhere Dosierungen möglich. Die Auftitration kann mit 2,5 mg, bei starker Symptomlast mit 5 mg abends beginnen und wird über 1–3 Wochen in kleinen Schritten von 2,5 mg bis zur individuellen Zieldosis gesteigert [3]. Empfohlen wird das Auftropfen auf Brot, keine Einnahme in Flüssigkeit. „Start low, go slow“ Für Cannabisblüten wird bei Cannabis-naiven Patienten anfangs eine Inhalation am Abend auf Basis von 50–100 mg Blüten empfohlen. Die Anzahl der Inhalationen kann alle 1–2 Tage gesteigert und zu Beginn nach jeder Inhalation der Wirkeintritt abgewartet werden (15–20 min). Die Zieldosis liegt patientenindividuell oft bei 0,5–1,5 g Cannabisblüten pro Tag, je nach Anwendungsgebiet auch darunter oder darüber. Cannabis-Rezepturen korrekt verordnen Die Rezepte müssen eine eindeutige Arzneimittelbezeichnung enthalten; „Cannabisblüten“ ohne Sorten-Spezifizierung genügt daher nicht.Ein BtM-Rezept muss innerhalb von acht Tagen (inkl. Ausstellungstag, Sonn- und Feiertagen) in der Apotheke eingelöst werden. Literatur Broschüre „Verordnung von medizinischen Cannabinoiden“, Spectrum Therapeutics, Stand: Juni 2020 Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften, Bundesgesundheitsblatt Nr. 11, 9. März 2017 Horlemann J et al., DGS-PraxisLeitlinie „Cannabis in der Schmerzmedizin v1.0“, www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis (letzter Zugriff: 2.12.2020) Ziel der Cannabistherapie: die Homöostase erhalten Das Endocannabinoidsystem (ECS) ist an der Regulation vielfältiger Funktionen im Zentralnervensystem (ZNS) beteiligt, aber auch an der Immunregulation und anderen wichtigen Regelkreisen. Cannabinoide sind die einzigen Wirkstoffe, die gezielt das ECS adressieren. Damit bieten sie eine zusätzliche Therapieoption bei verschiedenen therapierefraktären Beschwerden. × Die Hauptfunktion des ECS ist es, pathologische, überschießende Reaktionen in unterschiedlichen Regelkreisen auf ein physiologisches Maß zu reduzieren und damit die Homöostase zu erhalten. Es ist an vielen physiologischen Prozessen beteiligt, wie Schmerzverarbeitung, Motorik, Muskelspannung, Emotion, Appetitregulation und Nahrungsaufnahme.Das ECS besteht aus Cannabinoidrezeptoren, ihren endogenen Liganden sowie Enzymen für die Synthese und den Abbau von Endocannabinoiden. CB1-Rezeptoren sind hauptsächlich auf Nervenzellen, CB2-Rezeptoren auf Zellen des Immunsystems lokalisiert [1]. THC und CBD – zwei Multitalente Die wichtigsten therapeutisch genutzten Cannabinoide sind Delta-9-Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD). Sie weisen verschiedene Wirkspektren auf: Die wichtigsten pharmakologischen, aber auch die psychotropen Effekte des Cannabisinhaltsstoffs THC (als isolierter Wirkstoff Dronabinol genannt) beruhen auf dessen partiell agonistischer Wirkung am CB1-Rezeptor. THC wirkt vor allem analgetisch und muskelrelaxierend, außerdem antiemetisch, antikachektisch, sedativ und anxiolytisch [2]. Dementsprechend werden Dronabinol-Rezepturen oder THC-dominierte Cannabisblüten in der Praxis beispielsweise eingesetzt bei chronischen neuropathischen oder degenerativen Schmerzen, Spastik, Übelkeit, Erbrechen, Appetitmangel oder traumabedingten psychischen Belastungen. THC kann Opioidbedarf reduzieren Das ECS – speziell der CB1-Rezeptor – interagiert auch mit dem Opioidsystem: Synergistische analgetische Effekte von THC und Opioiden wurden beschrieben [3]. Bei einer Add-on-Gabe von Cannabinoiden im Rahmen einer Therapie chronischer Schmerzen wird daher nicht selten eine Reduktion des Opiatbedarfs beobachtet [4]. Die molekularen Wirkmechanismen von CBD scheinen breiter zu sein. CBD wirkt antagonistisch am CB1-Rezeptor und agonistisch am CB2-Rezeptor, hemmt aber beispielsweise auch das Endocannabinoid-abbauende Enzym FAAH (Fettsäureamid-Hydrolase). Dem Wirkstoff werden antikonvulsive, anxiolytische, antidepressive, antipsychotische und starke entzündungshemmende Eigenschaften zugeschrieben [5]. Neben einer seit kurzem zugelassenen Fertigarzneimittel-Indikation bei den schweren Epilepsieformen Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndrom gibt es für den Wirkstoff positive Berichte (z.B. Fallberichte, erste kleine Studien) vor allem in psychischen Indikationen wie Angst, depressiver Antriebslosigkeit oder Niedergeschlagenheit. THC und CBD – wann kombinieren? Wegen der starken entzündungshemmenden sowie psychischen Effekte kann CBD in Kombination mit THC in unterschiedlichen Mengenverhältnissen bei chronischen Schmerzen mit immunologisch entzündlicher oder psychischer Komponente (z. B. Morbus Crohn oder rheumatoide Arthritis) erwogen werden. Auch kann sich die Kombination der beiden Cannabinoide (abseits bestehender Zulassungen) anbieten, wenn zusätzliche stimmungsaufhellende bzw. antidepressive Effekte gewünscht sind [6, 7, 8]. Die verschiedenen cannabisbasierten Wirkstoffe können allein oder kombiniert bei einem breiten Spektrum von Beschwerden angewendet werden, wenn diese auf Standardtherapien nicht zufriedenstellend ansprechen. Sie werden in der Regel Add-on zur bestehenden Therapie eingesetzt und können dazu beitragen, bestehende Medikationen zu reduzieren und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Zur GKV-Kostenübernahme cannabisbasierter Wirkstoffe siehe Folge 1 der Serie, erschienen in Ärzte Zeitung Nr. 89 vom 09.12.2020 Cannabisbasierte Wirkstoffe sind die einzigen Arzneimittel, die gezielt das ECS adressieren. Damit bieten Cannabinoide eine zusätzliche Therapieoption für Patienten mit unterschiedlichen, therapierefraktären Beschwerden. Literatur Munro S et al., Nature 1993, 365: 61–65 Horlemann J et al., DGS-PraxisLeitlinie „Cannabis in der Schmerzmedizin v1.0“, www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis (letzter Zugriff: 14.12.2020) Cichewicz DL, Life Sci 2004, 74: 1317–1324 Nielsen S et al., Neuropsychopharmacology 2017, 42: 1752–1765 Mechoulam R et al., Cannabidiol – recent advances. In: Chemistry & Biodiversity 2007, S. 1678–1692 Sagy I et al., J Clin Med 2019, 8: 807 Naftali T et al., Med J 2020, 11: e0008; (8) Khan R et al., J Cannabis Res 2020, 2: doi:10.1186/s42238–019–0012-y Cannabinoide: Pluspunkte für gute Verträglichkeit Ob Cannabisblüten oder orales Dronabinol (THC) – THC-haltige Wirkstoffe zeigen bisher ein gutes Sicherheitsprofil [1, 2]. Individuelle Auftitration macht auch Nebenwirkungen zu Therapiebeginn oft weitgehend vermeidbar. × Cannabisbasierte Wirkstoffe sind nach bisheriger Datenlage bei längerer Anwendung gut verträglich. Das bestätigen auch immer mehr Daten aus Deutschland und Europa [1, 2, 3, 4]. So gaben laut Zwischenauswertung der Begleiterhebung nach dem „Cannabisgesetz“ [2] über die Hälfte der Patienten unter Cannabisblüten oder THC überhaupt keine Nebenwirkungen an. Die Übrigen berichteten über: Müdigkeit (16 Prozent) und Schwindel (12,5 Prozent) sowie Übelkeit, Schläfrigkeit und Mundtrockenheit (je <10 Prozent). Eine retrospektive Datenanalyse des Potsdamer Schmerz- und Palliativzentrums fand eine insgesamt gute Wirksamkeit und Verträglichkeit auch bei 93 hochbetagten Patienten (≥80 Jahre), die dort wegen chronischer Schmerzen oder in der Palliativsituation Dronabinol erhielten [5]. Dabei wurde mit im Mittel 6,3 mg THC/d bei diesen Patienten eine vergleichsweise niedrige Dosis eingesetzt und sehr behutsam auftitriert. „Start low, go slow“ Für eine gute Verträglichkeit von Anfang an sollten Cannabinoide generell einschleichend dosiert werden [6]. Bei anfänglichem Auftreten vorübergehend tolerabler unerwünschter Effekte muss die Medikation nicht sofort abgesetzt werden. Oft verschwinden anfängliche Beschwerden wie Übelkeit, Müdigkeit oder Schwindel innerhalb von 2–3 Wochen unter der Therapie von allein, oder es genügt, vorübergehend die Dosis zu reduzieren [3]. Therapeutische Tagesdosen von Dronabinol liegen üblicherweise zwischen 5 mg und 20 mg. In Einzelfällen sind deutlich höhere Tagesdosen möglich. Da THC nicht organtoxisch wirkt, ist dies unbedenklich, solange der Patient diese Dosis gut verträgt [6]. Cannabisblüten sollten in aller Regel inhalativ mit einem Vaporisator appliziert werden. Unabhängig vom THC-Gehalt liegt der durchschnittliche Tagesbedarf meist bei etwa 1,0 bis 1,5 g, mit sehr starken patientenindividuellen und indikationsabhängigen Abweichungen nach oben und unten. Die Zubereitung von Tees oder anderen oralen Formen aus Cannabisblüten durch den Patienten sollte auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben, da THC und CBD nicht wasserlöslich sind und die Cannabinoide darin erst durch Erhitzen decarboxyliert werden müssen. Opioidreduktion manchmal möglich Das Abhängigkeitspotenzial ist bei medizinischem Einsatz von Cannabinoiden sehr gering [3, 4, 7–9]: In der Regel wird auch keine Toleranzentwicklung bezüglich der erwünschten Effekte beobachtet. Das heißt: Eine Höherdosierung ist normalerweise auch bei langjähriger Anwendung nicht nötig, es sei denn aufgrund einer Krankheitsprogression. THC ist für eine Kombinationstherapie gut geeignet. Unerwünschte Wechselwirkungen mit anderen Arzneimitteln sind – u.a. wegen der Metabolisierung über das Cytochrom P450-System der Leber – theoretisch möglich, werden im klinischen Alltag aber kaum beobachtet [10]. Zentralnervöse Effekte wie Sedierung können sich bei Kombination mit anderen zentral wirkenden Substanzen verstärken. Cannabinoidrezeptoren interagieren laut pharmakologischen Studien mit dem Opioidsystem, sodass synergistische analgetische Effekte von THC und bestimmten Opioiden (z.B. Fentanyl) zu vermuten sind [11]. In der Praxis wird unter einer Add-on-Gabe von Cannabinoiden zum Teil beobachtet, dass eine deutliche Reduktion der Opioiddosis möglich ist [4], sodass deren Nebenwirkungen reduziert werden können [8]. Kaum Kontraindikationen Absolute Kontraindikationen von THC sind nur Schwangerschaft, Stillzeit, Allergien gegen Bestandteile des Arzneimittels und Psychosen, vor allem Schizophrenie. Als relative Kontraindikation gilt Epilepsie, da die Krampfschwelle sinken könnte. Bei Kindern und Jugendlichen sollte die Cannabinoidtherapie Spezialisten vorbehalten bleiben. Bei vorbestehenden Abhängigkeitserkrankungen, schweren kardiovaskulären Erkrankungen, beeinträchtigter Leber- und Nierenfunktion sowie geriatrischen Patienten sollte besonders behutsam auftitriert werden. Darf der Patient Auto fahren? Cannabis-Wirkstoffe können die Fahrtauglichkeit einschränken, besonders bei Therapiebeginn und Dosisänderungen. Wenn aufgrund Adaption die psychomotorische Leistungsfähigkeit nicht mehr vermindert ist, kann die Teilnahme am Straßenverkehr möglich werden. Es gelten die gleichen Regeln wie bei anderen zentral wirksamen Arzneimitteln. Bei Inhalation von Cannabinoiden steigt der Wirkstoffspiegel schnell an, von einer Verkehrsteilnahme in den ersten 2–3 Stunden nach Inhalation ist grundsätzlich abzuraten [9]. Literatur Schimrigk S et al., Eur Neurol 2017, 78: 320–329 Cremer-Schaeffer P et al., Schmerz 2019, 33: 415 CaPRis. Kurzbericht unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Drogen_und_Sucht/Berichte/Kurzbericht/171127_Kurzbericht_CAPRis.pdf Überall M et al., 2021, Publikation in Vorbereitung Wendelmuth C et al., Schmerz 2019, 33: 384–391 Beaulieu P et al., Can J Anesth 2016, 63: 608–624 Seibolt M, Cannabinoid Consil 1/2019 Horlemann J et al., DGS-PraxisLeitlinie „Cannabis in der Schmerzmedizin v1.0“. https://www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis Kuhlen I, Cannabinoid Consil 1/2019 Gottschling S et al., Lehre und Praxis Heft 9, 2018 Maguire DR et al., J Pharmacol Exp Ther 2014, 351: 383–389 3 Jahre Cannabis als Medizin: Ärzte setzen auf Dronabinol Bei der Wahl eines cannabisbasierten Wirkstoffs setzen Ärzte meist auf Dronabinol, Allgemeinmediziner verordnen auch gerne Cannabisblüten. Die weitaus häufigste Indikation ist Schmerz. Dies zeigen die aktuellen Zwischenergebnisse der Cannabisbegleiterhebung [1]. × In Deutschland sind Ärzte, die Cannabisarzneimittel auf Basis des Cannabisgesetzes zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verschreiben, verpflichtet, an einer bis zum 31. März 2022 laufenden nicht interventionellen Begleiterhebung zur Anwendung dieser Wirkstoffe teilzunehmen. Die Erhebung wird vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte durchgeführt. Die Daten der zweiten Zwischenauswertung wurden nun publiziert [1], die Erkenntnisse aus der ersten Zwischenauswertung [2] flossen hierin ein. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf Nebenwirkungen und die Therapie mit Cannabisblüten gerichtet, die inzwischen mit einer relevanten Fallzahl erfasst ist. Zum Zeitpunkt der neuen Zwischenauswertung am 11. Mai 2020 lagen 10 010 Datensätze vor, die hauptsächlich von Anästhesiologen und Allgemeinmedizinern eingegeben worden waren (49 Prozent bzw. 17 Prozent). 73 Prozent aller Verordnungen von Cannabisarzneimitteln wurden zur Behandlung von Schmerzen, 10,3 Prozent bei Spastik, 6,4 Prozent bei Anorexie/Wasting und 6 Prozent zur Therapie von Multipler Sklerose angewendet (siehe Abbildung). Im Rahmen der Regelung des § 31 Abs. 6 SGB V wurde am häufigsten der Rezepturwirkstoff Dronabinol (65 Prozent), gefolgt von Cannabisblüten (18 Prozent), dem THC:CBD-Oromukosalspray Nabiximols (13 Prozent), Nabilon (0,3 Prozent) und Cannabisextrakten (4 Prozent), verordnet. Zwei von drei Patienten profitieren Bei den 7312 Fällen mit Schmerz als primär behandeltem Symptom wurde der Therapieerfolg bei je einem Drittel der Patienten als deutlich oder moderat verbessert und in 28 Prozent als unverändert beurteilt. Etwa ein Drittel der Patienten (35 Prozent) beendete die Therapie innerhalb eines Jahres. Dies erfolgte bei 25 Prozent aufgrund von Nebenwirkungen, bei 21 Prozent, weil der Patient verstarb, bei 3 Prozent, weil keine weitere Therapienotwendigkeit mehr bestand, und bei 12 Prozent aus anderen Gründen. Häufigster Abbruchgrund war mit 39 Prozent die nicht ausreichende Wirkung. Angesichts der Tatsache, dass sich alle Daten der Begleiterhebung auf Patienten beziehen, deren Beschwerden mit den zugelassenen Standardtherapien nicht hinreichend gelindert werden können, sind dies ermutigende Daten. Bei den Cannabisblüten wurden Sorten mit einem THC-Gehalt >20 Prozent bevorzugt (77 Prozent), wie er zum Beispiel in Red No. 2 (Sativa) und Red No. 4 (Indica) vorliegt. Bei Erstverordnung lag die Dosis im Mittel bei einem Gramm pro Tag (Median 0,81 g bei 1206 auswertbaren Fällen), die Anwendung erfolgte fast ausschließlich (>90 Prozent) mit Verdampfung/Inhalation/Vaporizer. × Die Verträglichkeit ist gut Cannabistypische Nebenwirkungen, wie Müdigkeit, Schwindel, Schläfrigkeit, Übelkeit und Mundtrockenheit, traten bei der Verwendung aller Cannabisarzneimittel auf und sind aus den Fachinformationen cannabisbasierter Fertigarzneimittel bekannt. Die Nebenwirkungsprofile von Dronabinol (reines THC) und CBD-haltigen Cannabisarzneimitteln unterschieden sich nicht wesentlich. Dies, so die Autoren der Auswertung, „spricht gegen die aus Tierversuchen abgeleitete Annahme, dass THC durch die Beimischung von CBD verträglicher wird“ [1, 3]. Literatur Schmidt-Wolf G, Cremer-Schaeffer P, Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021; 64; 368–77. DOI: 10.1007/s00103-021-03285-1 Schmidt-Wolf G, Cremer-Schaeffer P, Bundesgesundheitsblatt 2019; 62: 845. https://doi.org/10.1007/s00103-019-02968-0 Boggs DL et al., Neuropsychopharmacology 2018, 43: 142–154. DOI: 10.1038/npp.2017.209 Cannabistherapie: Blüten v. a. von Hausärzten verordnet Daten aus drei Jahren Begleiterhebung zeigen, dass Cannabisblüten nach Dronabinol an zweiter Stelle der Verordnungen stehen. Bei der Anwendung gilt es, bestimmte Besonderheiten zu beachten. × Die aktuelle Zwischenauswertung der verpflichtenden nicht-interventionellen Begleiterhebung zur Verordnung von Cannabiswirkstoffen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung [1] zeigt, dass Allgemeinmediziner bei einer Cannabistherapie häufiger auf Cannabisblüten vertrauen als andere Facharztgruppen. Blüten können kombiniert werden Medizinische Cannabisblüten stehen in einer Vielzahl von Zuchtformen zur Verfügung, angefangen bei Sorten mit Gehalten an Tetrahydrocannabinol (THC) zwischen 18 und ca. 25 Prozent und <0,5 Prozent Cannabidiol (CBD), über ausgeglichene Sorten (etwa Blue 8/7 mit 8 Prozent THC und 7 Prozent CBD), bis hin zu CBD-dominierten Sorten. Therapeutisch kann es sinnvoll sein, einem Patienten zwei (oder mehr) verschiedene Sorten zu verordnen: z.B. morgens eine THC-betonte Sativa-Sorte wie Red No. 2, und abends eine Indica-Sorte wie Red No. 4. Letztere kann sich mit ihrem noch etwas höheren THC-Gehalt auch bei nächtlichen Beschwerden, z.B. neuropathischen Schmerzen oder Spastiken, anbieten. Sativa-Sorten werden von vielen Patienten als eher anregend und aufmerksamkeitssteigernd empfunden, Indica-Sorten als beruhigend und schlaffördernd. Pro BtM-Rezept darf jeweils nur eine Blütensorte verordnet werden. Alle Blütenverordnungen sind unabhängig von ihrem Cannabinoidgehalt für die Einhaltung der Höchstmenge nach BtMVV (100 g in 30 Tagen) relevant (bei Überschreitung: Kennzeichnung „A“). Unverarbeitete Blüten haben Vorteile Entsprechend kompetenten Patienten werden Cannabisblüten meist unverarbeitet verordnet; dies muss auf dem Rezept vermerkt werden. Bei längerer Lagerung nach dem Zerkleinern kann es durch die vergrößerte Oberfläche und Verletzung der Drüsenhaare potenziell zur Verflüchtigung von Terpenen und Oxidation enthaltener Cannabinoide kommen. Ebenso wie für alle anderen cannabisbasierten Arzneimittel gilt auch für die Therapie mit Cannabisblüten: „Start low, go slow“. Die initiale Tagesdosis liegt meist bei 100 mg Blüten und wird alle ein bis drei Tage so lange gesteigert, bis die gewünschte Wirkung erzielt wird. Laut Begleiterhebung [1] liegt die durchschnittliche Zieldosis bei Erstverordnung bei 1 g/d mit großer interindividueller Variabilität. Wichtig für die Dosisfindung ist eine möglichst genaue und reproduzierbare Dosierung der Blüten. Deshalb sollte den Patienten unbedingt eine geeignete Dosierhilfe zur Verfügung gestellt werden (Apotheke). Inhalation nur mit Vaporisator Anders als in oralen Zubereitungen liegen THC und CBD in Cannabisblüten als pharmakologisch inaktive Carbonsäuren (THCA, CBDA) vor und müssen erst durch Hitze zu den pharmakologisch aktiven Wirkstoffen THC und CBD decarboxyliert werden [2]. Medizinisch und pharmazeutisch allgemein akzeptiert ist das Verdampfen mit Hilfe eines Vaporisators. Derzeit stehen zwei Vaporisatoren zur Verfügung, die als Medizinprodukte zertifiziert und daher für den medizinischen Einsatz zugelassen und erstattungsfähig sind: Das Tischgerät Volcano Medic 2 (Abb. links) sowie der tragbare Inhalator Mighty Medic (Abb. rechts). Diese erhitzen Cannabisblüten je nach Einstellung auf 180–210 °C, sodass die Wirkstoffe in ein gut lungengängiges Aerosol überführt werden. Bei der Inhalation kommt es zu einer raschen Anﬂutung von freiem THC und CBD sowie von Begleitsubstanzen wie Spuren-Cannabinoiden und Terpenen, welche die Gesamtwirkung der Blüten modulieren können. Die Wirkung setzt bereits nach ein bis zwei Minuten ein, was z.B. bei Schmerzspitzen, Krämpfen oder Tourette-Tics erwünscht sein kann. Tischgerät Volcano Medic 2 (links), tragbarer Inhalator Mighty Medic (rechts) Spectrum Therapeutics GmbH × Literatur Schmidt-Wolf G, Cremer-Schaeffer P, Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2021, 64: 368–377, DOI: 10.1007/s00103-021-03285-1 Di Marzo V, Petrocellis LD, Annu Rev Med 2006, 57: 553–574, DOI: 10.1146/annurev.med.57.011205.135648 Impressum „Cannabinoidtherapie erfolgreich beantragen: So geht’s“ Literaturarbeit Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 89, Mittwoch, 9. Dezember 2020 „Cannabis-Wirkstoffe: das muss auf das Rezept“ Literaturarbeit Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 92, Freitag, 18. Dezember 2020 „Ziel der Cannabistherapie: die Homöostase erhalten“ Literaturarbeit Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 1, Mittwoch, 13. Januar 2021 „Cannabinoide: Pluspunkte für gute Verträglichkeit“ Literaturarbeit Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 7, Mittwoch, 3. Februar 2021 „3 Jahre Cannabis als Medizin: Ärzte setzen auf Dronabinol“ Literaturarbeit Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 28, Mittwoch, 21. April 2021 „Cannabistherapie: Blüten v. a. von Hausärzten verordnet“ Literaturarbeit Artikel gedruckt in Ärzte Zeitung Nr. 32, Mittwoch, 5. Mai 2021 Berichterstattung: Dr. Kirsten Westphal, Heimstetten Mit freundlicher Unterstützung der Spectrum Therapeutics GmbH, Neumarkt Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Teresa Windelen Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696© Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Cannabinoidtherapie erfolgreich beantragen: So geht’s PDF: Cannabis-Wirkstoffe: das muss auf das Rezept PDF: Ziel der Cannabistherapie: die Homöostase erhalten PDF: Cannabinoide: Pluspunkte für gute Verträglichkeit PDF: 3 Jahre Cannabis als Medizin: Ärzte setzen auf Dronabinol PDF: Cannabistherapie: Blüten v. a. von Hausärzten verordnet

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