Ist bei Long-COVID eine Demenz zu befürchten?

Neuropsychiatrische Symptome nach COVID-19 haben Fragen zur etwaigen Entwicklung neurodegenerativer Erkrankungen aufgeworfen. Bislang lässt sich das nicht beantworten – wohl aber relativieren. Unter den Langzeitfolgen von COVID-19 sind es vor allem die neuropsychiatrischen Symptome, die Mediziner und Öffentlichkeit umtreiben. Viele Patienten beklagen kognitive Einschränkungen. So kommen Bedenken auf, ob SARS-CoV-2 gar die Entwicklung einer Demenz fördern könnte. Ob derlei Sorgen berechtigt sind, ist fraglich. Immerhin: So häufig, wie zunächst vermutet, wird das Virus nicht im zentralen Nervensystem angetroffen. „Man kann schon sagen, dass das Virus das Nervensystem befällt“, sagte Professor Paul Lingor, Oberarzt in der Neurologie am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, bei einem Pressebriefing des „Science Media Center“. Dass SARS-CoV-2 in Zellen des zentralen Nervensystems eindringen kann, weiß man vor allem aus Post-mortem-Studien. Bei Obduktionen wurde Virusmaterial im Nervengewebe nachgewiesen. Der Neurologe vermutet allerdings, dass eine direkte Virusinvasion in das Gehirn nur in wenigen Fällen eine Rolle spielt: „Das sind ja häufig Patienten, die an einem schweren Verlauf dann auch gestorben sind.“ In Liquor-Untersuchungen bei lebenden Patienten stellten sich die Befunde anders dar: Man sah zwar entzündliche Veränderungen und Störungen der Blut-Hirn-Schranke. Ein direkter Virusnachweis im Liquor war aber sehr selten. Daher geht Lingor davon aus, dass die neurologischen Manifestationen eher indirekt durch Zytokine im Rahmen einer zusätzlichen Immunreaktion auf das Virus vermittelt werden. Anhaltender Nervenschaden bislang nicht bewiesen Viele Long-COVID-Patienten geben Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen und eine ausgeprägte Müdigkeit an. „Einen so langfristigen Verlauf, um tatsächlich Demenzen nachzuweisen, gibt es für SARS-CoV-2 schlichtweg nicht“, betonte Lingor. Hinweise liefern allenfalls Surrogatmarker für neurodegenerative Erkrankungen. So wurden bei Patienten mit schwerem COVID-Verlauf vermehrt Neurofilament-Leichtketten (NLK) im Blut nachgewiesen. „Für uns Neurologen ist das immer ein ziemliches Warnsignal, wenn wir so ein Molekül finden.“ Denn NLK werden beim Untergang von Nervenzellen freigesetzt. Kommen Neuronen zu Schaden, könnte das tatsächlich eine demenzielle Entwicklung begünstigen. Untersuchungen zum Hirnstoffwechsel mit radioaktiv markierten Tracern fielen in frühen Krankheitsphasen bei schwer kranken COVID-19-Patienten ebenfalls pathologisch aus. Gaben diese dann im Verlauf Long-COVID-Beschwerden an, waren die Veränderungen aber nicht mehr nachweisbar. Auch Versuche aus Studien, die Gedächtnisstörungen zu quantifizieren, beruhigen eher. Lingor: „Die messbaren Veränderungen sind doch sehr, sehr gering.“ Teils könnte das daran liegen, dass die Messinstrumente in bestimmten Bereichen nicht sensitiv genug seien. Abweichungen in einzelnen Test-Domänen würden zwar mitunter vom einzelnen Patienten als deutlich einschränkend erlebt. Im Gesamtergebnis bliebe der Test aber unauffällig. Empfehlung der Redaktion Demenz – Themenseite Wie therapiert man Alzheimerpatienten leitliniengerecht? Warum sind "keiner" und "nein" bei Dementen tabu? Und was tut sich in der Alzheimertherapie-Forschung? Antworten gibt die Themenseite Demenz. Hier finden Sie Übersichten, News, kommentierte Studienreferate und Kasuistiken. Symptome auch bei Menschen ohne COVID-19 Zusätzlich zu Daten aus der Mainzer Gutenberg-COVID-19-Studie gibt es auch Daten aus Frankreich, nach denen Menschen, die glauben, COVID-19 zu haben, im Vergleich zu solchen, die es tatsächlich haben, ähnlich viele Symptome aufweisen. „Das Einzige, was tatsächlich belastbar ist – bei denjenigen, die wirklich an COVID erkrankt sind –, sind die Geruchs- und Geschmacksstörungen“, so Lingor. Noch ist unklar, ob es nach COVID-19 eine höhere Inzidenz von demenziellen oder neurodegenerativen Erkrankungen gibt. „Nur die Tatsache, dass die Blut-Hirn-Schranke von einem Virus überwunden wird, heißt natürlich nicht, dass es notwendigerweise gleich zu einer schweren Entzündung kommt“, relativierte es Lingor. „Selbst die Tatsache, dass wir ein Destruktions-Protein wie das Neurofilament bei schweren Verläufen sehen, bedeutet nicht, dass das notwendigerweise später, über Jahre hinaus eine Neurodegeneration triggert.“ Das Nervensystem ist regenerationsfähig, und das Immunsystem gewappnet. Lingor: „Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Viren, mit denen sich unser Organismus und auch unser Nervensystem immer wieder auseinandersetzt, und die auch zum Teil das Nervensystem befallen können.“ Wichtig sei, allen Patienten Therapiemöglichkeiten anzubieten, etwa in Spezialambulanzen für Long-COVID. Lingor setzt hier darauf, weiter zu forschen: „Ich glaube, wir können sehr viel spezifischer sein, wenn wir wissen, was die Ursache ist, und wenn wir vielleicht auch die somatische, also die molekulare Ursache besser verstehen.“ Quelle: Ärzte Zeitung

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