Wie sollen Ärzte vorgehen, wenn nur ein Beatmungsplatz zur Verfügung steht, aber mehrere COVID-19-Patienten diesen benötigen? Die rechtliche Situation gebe Ärzten bei der Auswahl von Patienten einen erheblichen Spielraum, betont Strafrechtsexpertin Professor Elisa Hoven.
Die gegenwärtige COVID-19-Pandemie hat sicher mehrere Ärzte bereits dazu bewegt, sich die Frage zu stellen, wie sie sich entscheiden würden, wenn sie nur einen Beatmungsplatz zur Verfügung hätten und die Triage zwischen einem 80-jährigen und einem fünfjährigen Patienten vornehmen müssten. Prallen hier doch Recht und Ethik aufeinander.
Aus strafrechtlicher Perspektive steht der Arzt, der nur einen von zwei Patienten retten kann, vor einer „Pflichtenkollision“, wie Elisa Hoven, Professorin für Strafrecht an der Universität Leipzig, im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ / Springer Medizin erläutert. Er sei beiden Patienten in gleicher Weise zur Behandlung verpflichtet, könne aber nur eine dieser Pflichten erfüllen, so Hoven, die auch als Richterin am Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen fungiert.
Sie macht den Medizinern aber auch Mut zur Triage: „Wenn der Arzt in dieser Situation einen der beiden Patienten unbehandelt sterben lässt, macht er sich nicht wegen einer Tötung durch Unterlassen strafbar – die Rechtsordnung kann von ihm schließlich nicht Unmögliches verlangen.“
Erheblicher ärztlicher Spielraum
Die derzeitige rechtliche Situation gebe den Ärzten bei der Auswahl von Patienten einen erheblichen Spielraum, wie die Juristin betont. „Zwar mag das Grundgesetz dem Staat verbieten – und auch das ist nicht unbestritten –, Menschenleben unterschiedlich zu behandeln. Für den Arzt sind diese Erwägungen allerdings nicht bindend“, verdeutlicht Hoven.
Er dürfe sich für die Behandlung eines Patienten entscheiden, weil dieser jünger ist oder bessere Überlebenschancen hat. Der Arzt mache sich sogar dann nicht strafbar, wenn er Patienten etwa wegen ihrer Herkunft, ihrer Religion oder ihres Geschlechts bevorzuge.
„Das Strafrecht bewertet die Entscheidungsgründe des Arztes nicht. Damit lässt das Recht den Arzt in der Triage allerdings auch weitgehend allein. Es sagt ihm nicht, nach welchen Kriterien er handeln soll", skizziert sie die juristischen Leitplanken für Mediziner in Triagesituationen.
Und wie würde die deutsche Bevölkerung entscheiden? In Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg und dem Marktforschungsinstitut Forschungsgruppe g/d/ hat Hoven eine repräsentative Bevölkerungsbefragung durchführen lassen.
Dabei wurden den Teilnehmern sechs verschiedene Konstellationen der Triage vorgelegt. Die Befragten mussten entscheiden, welchem von zwei Patienten sie das lebensrettende Beatmungsgerät zuteilen würden oder ob die Wahl zufällig erfolgen sollte.
Zwischen Fakten und Emotionen
Die größte Zustimmung erhielt laut Hoven das Merkmal der klinischen Erfolgsaussicht. 78 Prozent der Befragten zogen den Patienten mit einer 90-prozentigen Überlebenschance dem Patienten mit einer nur 20-prozentigen Heilungsaussicht vor. Ähnlich verhielt es sich bei einem erheblichen Altersunterschied der Patienten. Vor die Wahl gestellt, einen 80-Jährigen oder einen Fünfjährigen retten zu können, entschieden sich 77 Prozent für das Kind, 20 Prozent für das Los.
Für die Entscheidung spielten sowohl das Alter als auch die familiäre Situation der Befragten eine Rolle: Personen mit zwei oder mehr Kindern wählten deutlich häufiger den Fünfjährigen (87 Prozent), Personen über 60 Jahre seltener (69 Prozent entschieden sich für das Kind, 30 Prozent für das Los). Dreiviertel der Befragten würden stets einem Kind den Vorrang vor einem Erwachsenen einräumen.
Eine Verantwortlichkeit für andere war für 60 Prozent der Befragten ein relevantes Kriterium: Sie zogen eine Mutter von zwei Kindern einer kinderlosen Frau vor. Immer noch 58 Prozent der Befragten bezogen in ihre Entscheidung ein eigenes Verschulden des Patienten ein – sie wählten den Patienten, der sich trotz Schutzvorkehrungen infiziert hatte, und nicht denjenigen, der sich an einer „Corona-Demonstration“ beteiligt und die Hygieneregeln nicht eingehalten hatte.
Jüngere Befragte waren dabei erheblich „strenger“ als ältere: Unter den 16- bis 31-Jährigen entschieden sich 68 Prozent für den unverschuldet infizierten Patienten. Keine mehrheitliche Zustimmung fand sich laut Hoven für eine Privilegierung von Patienten in systemrelevanten Berufen. 25 Prozent der Befragten zogen die Krankenschwester einer Bürokauffrau vor, 73 Prozent waren für das Los.
Streit um Ex-post-Triage
Rechtlich und ethisch schwierige Fragen werfen, wie Hoven betont, die Fälle der „Ex-post-Konkurrenz“ auf. Bei diesem Szenario sind alle verfügbaren Beatmungsplätze belegt, und es wird ein Patient B eingeliefert, der deutlich bessere Aussichten auf erfolgreiche Behandlung hat als ein bereits beatmeter Patient A.
„In der strafrechtlichen Diskussion ist umstritten, ob sich ein Arzt wegen Totschlags strafbar macht, wenn er die lebenserhaltende Behandlung des A beendet, um den B zu retten“, gibt Hoven Einblick in die juristische Betrachtung der Ex-post-Triage.
Gegen eine Strafbarkeit sprechen nach ihrer Ansicht gute Gründe: „Denn auch in der Ex-post-Triage steht der Arzt vor der Konfliktsituation, dass er nur einen der beiden Patienten behandeln kann und den Tod des anderen hinnehmen muss. Dass A das Beatmungsgerät bereits erhalten hat, verschafft ihm keine rechtlich relevante privilegierte Position.“
Diese Einschätzung teilt auch die Bevölkerung: Nur 32 Prozent sprachen sich dafür aus, die Behandlung von A in jedem Fall fortzusetzen.
Quelle: Ärzte Zeitung