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2015 | Buch

Das erweiterte Neugeborenenscreening

Erfolge und neue Herausforderungen

verfasst von: Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Über dieses Buch

Die Autoren belegen anhand zahlreicher Beispiele, dass das Neugeborenenscreening die erfolgreichste Maßnahme zur Sekundärprävention gesundheitlicher Beeinträchtigungen ist. Es ermöglicht bei fast allen Kindern mit einer der in Deutschland erfassten Zielkrankheiten eine Diagnosestellung vor Krankheitsmanifestation, eine frühe Einleitung der Behandlung und eine normale körperliche und geistige Entwicklung.

Inhaltsverzeichnis

Frontmatter
1. Einleitung
Zusammenfassung
Der Begriff Screening bezeichnet in der Medizin Untersuchungen an allen Mitgliedern einer Bevölkerungsgruppe ohne Vorselektion durch Krankheitssymptome oder besondere Risiken. Ziel ist es, Krankheiten im präsymptomatischen Stadium zu diagnostizieren und Krankheitssymptome durch eine frühzeitige Behandlung zu verhindern oder zu lindern. Voraussetzung für den Erfolg derartiger Programme ist eine hohe Sensitivität der angewandten Untersuchungsmethoden (möglichst alle Betroffenen werden identifiziert) und eine hohe Spezifität (möglichst wenige Gesunde werden durch falsch positive Resultate beunruhigt).
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
2. Entwicklung und Geschichte des Neugeborenenscreenings
Zusammenfassung
Im Jahre 1934 hatte Asbø Følling den „phenylpyruvischen Schwachsinn“ (Imbecillitas phenylpyruvica) beschrieben, nachdem er im Urin von Betroffenen, die ausnahmslos als schwerst geistig behinderte Menschen in Anstalten lebten, eben jenen Stoffwechselmetaboliten nachwies, welcher der Phenylketonurie ihren Namen gab. Mit der Möglichkeit, diese Störung, verursacht durch einen Mangel des Enzyms Phenylalaninhydroxylase im Abbau der Aminosäure Phenylalanin, zu diagnostizieren, war den Patienten jedoch noch nicht geholfen. Es dauerte weitere 20 Jahre bis der deutsche Kinderarzt und spätere Ordinarius für Kinderheilkunde am Universitätsklinikum Heidelberg Horst Bickel 1953 eine Behandlung dieser Stoffwechselkrankheit durch eine phenylalaninarme Diät entwickelte, die erste erfolgreiche Behandlungsmethode für eine erbliche Erkrankung. Wird die Behandlung früh nach der Geburt begonnen, bleibt den Patienten das Schicksal einer schweren geistigen Behinderung erspart. Sie haben völlig altersentsprechende Entwicklungsmöglichkeiten.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
3. Ethische und rechtliche Grundlagen von Screeningprogrammen
Zusammenfassung
Grundlage allen ärztlichen Handelns sollten ethische Prinzipien wie z. B. die vier Prinzipien von Beauchamp und Childress sein. So gebietet der Respekt vor der Autonomie des Patienten eine freie Entscheidung des Betroffenen oder seines Sorgeberechtigten für oder gegen medizinische Maßnahmen auf der Basis von Aufklärung und Einwilligung (informed consent). Das zweite Prinzip, das des Nichtschadens, verlangt, dass schädliche Eingriffe vermieden werden (primum nil nocere), und das dritte Prinzip, das des Wohltuns, der Fürsorge und Hilfeleistung, dass aktiv gehandelt wird, wenn dies dem Wohl des Patienten nutzt (salus aegroti suprema lex). Das vierte Prinzip, das der Gerechtigkeit, fordert eine faire Verteilung von Gesundheitsleistungen. Diese Prinzipien gelten in besonderem Maße für das Neugeborenenscreening, denn hier wird eine ganze Bevölkerungsgruppe überwiegend gesunder Individuen untersucht. Für Neugeborene, die von einer der Zielkrankheiten des Screenings betroffen sind, ist es wiederum essentiell, dass die Krankheit frühzeitig erkannt und behandelt wird. Nur dann kann es gelingen, betroffene Kinder vor drohender Behinderung oder dem Tod zu bewahren. Dabei dürfen aber die gesunden Neugeborenen und ihre Eltern nicht unnötig belastet werden z. B. durch weiterführende Diagnostik oder Verunsicherung nach falsch auffälligen Screeningbefunden. Das bedeutet, dass an ein Screeningprogramm besonders hohe ethische Anforderungen zu stellen sind.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
4. Aktuelle Zielkrankheiten des Neugeborenenscreenings
Zusammenfassung
Die Anzahl der Zielkrankheiten des Neugeborenenscreenings variiert inzwischen weltweit sehr stark zwischen verschiedenen Ländern. Das „American College of Clinical Genetics“ schlug 29 Hauptzielerkrankungen („core conditions“) und zusätzlich 25 Nebenzielerkrankungen („secondary conditions“) vor. In den letzten Jahren wurden in den USA dann noch weitere Zielkrankheiten empfohlen und eingeführt. Im Vereinigten Königreich wird demgegenüber im Screening nur nach zwei Stoffwechselkrankheiten (Phenylketonurie und Mittelkettige-Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel) gesucht. Vergleichbare Variationen ergeben sich auch innerhalb Europas. In den Jahren 2009 bis 2011 erfolgte im Auftrag der Europäischen Kommission eine detaillierte Bestandsaufnahme der Neugeborenenscreeningprogramme in Europa. Neben den Mitgliedsländern der europäischen Gemeinschaft wurden auch alle Beitrittskandidaten (Kroatien, Mazedonien, Island, Türkei), potentielle Beitrittskandidaten, die EFTA Länder (Norwegen, Schweiz) sowie Albanien evaluiert (http://ec.europa.eu/health/rare_diseases/screening/index_en.htm). Außer Albanien und dem Kosovo verfügen alle Länder über ein etabliertes flächendeckendes Neugeborenenscreening. Die Anzahl der im Screening untersuchten Erkrankungen variiert zwischen einer (in Finnland, Mazedonien und Montenogro) und 29 in Österreich. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass sich sowohl die Häufigkeiten als auch die Behandlungsmöglichkeiten für diese Erkrankungen zwischen Deutschland, England und den USA nicht entscheidend unterscheiden. Zusammenfassend wurde von der Europäischen Kommission als Ergebnis unseres Berichtes dringend eine Optimierung, Vereinheitlichung und verstärkte Zusammenarbeit im Bereich des Neugeborenenscreenings in Europa gefordert. Wichtig ist festzuhalten, dass die Anzahl der Zielkrankheiten eines Screeningprogrammes nicht mit der Qualität des Programmes und dem potenziellen Nutzen für die untersuchten Neugeborenen gleichgesetzt werden kann. Bei manchen potenziellen Zielkrankheiten fehlen noch die optimalen Testmethoden, um betroffene Kinder mit großer Zuverlässigkeit zu erkennen, d. h. wir können manche Krankheiten noch nicht zuverlässig finden und einzelne betroffene Kinder würden trotz Screening übersehen werden. Genauso bedeutsam sind falsch positive Befunde. Diese sind definiert als Untersuchungsergebnisse, bei denen die initiale Untersuchung Werte außerhalb des Normbereichs ergibt, bei denen in der Folgeuntersuchung aber eine Stoffwechselstörung oder Hormonkrankheit ausgeschlossen werden kann.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
5. Hörscreening
Zusammenfassung
Von einer beidseitigen, therapiebedürftigen Hörstörung ist ca. eines von 1000 Neugeborenen betroffen, mit der Folge von Schwierigkeiten in der sprachlichen, psychosozialen und intellektuellen Entwicklung. Die Schwerhörigkeit wird häufig zu spät erkannt, oft erst im zweiten oder dritten Lebensjahr. Die Folge ist eine verzögerte und bleibend eingeschränkte Sprachentwicklung, die nur schwer und mit eingeschränktem Erfolg zu behandeln ist. Inzwischen liegen Untersuchungen vor, die den Vorteil einer frühen Therapieeinleitung auf die spätere sprachliche, psychosoziale und intellektuelle Entwicklung eindeutig belegen. Nur durch ein Screeningprogramm zur Früherkennung von therapiebedürftigen Hörstörungen wird eine frühzeitige Diagnosestellung und die Einleitung von Therapiemaßnahmen innerhalb der ersten sechs Monate ermöglicht, wie es auch von der interdisziplinären Konsensuskonferenz gefordert wird. Daher hat der gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA) beschlossen, das Neugeborenen-Hörscreening zum 01.01.2009 in die Kinder-Richtlinien und damit in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufzunehmen. Ziel ist die Erkennung einer beidseitigen Hörstörung ab einem Hörverlust von 35 dB. Der Screeningprozess ist einschließlich verbindlicher Qualitätsanforderungen in den Richtlinien festgeschrieben. Die wichtigsten Eckpunkte werden im Folgenden beschrieben.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
6. Organisation und Ablauf des Neugeborenenscreenings
Zusammenfassung
Aktuell werden über 99 % der Neugeborenen in Deutschland im erweiterten Neugeborenenscreening auf 12 Stoffwechselkrankheiten und 2 Hormonkrankheiten untersucht. Da sich einige Zielkrankheiten des erweiterten Neugeborenenscreenings bereits sehr früh klinisch manifestieren können, wurde der Zeitraum für die Blutentnahme der Screeningprobe im Jahr 2002 auf die 36.-72. Lebensstunde vorverlegt, nachdem die Abnahme zuvor am 4.-7. Lebenstag erfolgte. Da die gesamte Population überwiegend gesunder Neugeborener ohne erhöhtes Risiko für bestimmte Erkrankungen untersucht wird, sind an die Prozessqualität im analytischen sowie prä- und postanalytischen Screeningablauf besonders hohe Anforderungen zu stellen. Dazu gehört die zeitgerechte Blutentnahme zwischen 36 und 72 Lebensstunden, der Versand der Filterpapierkarten ohne Verzögerung und die Gewährleistung, dass die Untersuchung zuverlässig allen Kindern unabhängig vom Ort der Geburt und dem Alter bei Entlassung aus der Geburtsklinik angeboten wird. Überaus bewährt hat sich ein so genanntes Trackingverfahren: nach auffälligem Befund wird vom Screeninglabor oder dem Screeningzentrum der Eingang der Kontrollprobe bzw. die Versorgung des betroffenen Kindes bis zur frühzeitigen Therapieeinleitung begleitet und sichergestellt.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
7. Langzeitbehandlungsergebnisse für im erweiterten Neugeborenenscreening erfasste Stoffwechselkrankheiten
Zusammenfassung
An der bayerischen Langzeitstudie zum Neugeborenenscreening beteiligen sich über 90 % der Eltern betroffener Kinder. Von den 108 Kindern mit Mittelkettigem Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD)-Mangel, die in Bayern zwischen 1999 und 2008 durch das Screening diagnostiziert wurden, wurde bei 50 Kindern die Mutation c.985A > G homozygot nachgewiesen. Bei unbehandelten Kindern mit dieser Mutation ist das Auftreten von schweren Stoffwechselkrisen in bis zu 50 % der Fälle innerhalb der ersten 5–10 Lebensjahre zu erwarten. In der bayrischen Kohorte erlitten insgesamt „nur“ sieben Kinder eine Stoffwechselkrise, davon vier Kinder mit dieser Mutation. Ein Kind erlitt die Krise bereits innerhalb der ersten Lebenswoche, bevor der Screeningbefund vorlag. Bei diesem Kind blieb die Entwicklung deutlich verzögert, ebenso bei einem weiteren Kind (Krise mit 27 Monaten). Zwei Kinder verstarben bei Stoffwechselentgleisungen im Rahmen von Infekten im Alter von 10 Monaten, drei überlebten eine Krise unbeschadet (Krise mit 8, 12 bzw. 24 Monaten). Trotz dieser tragischen Fälle konnte die Häufigkeit von Stoffwechselkrisen im Vergleich zu einer historischen Kohorte mit der gleichen Mutation signifikant gesenkt werden.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
8. Auswirkungen des Neugeborenenscreenings und der Erkrankungen auf Patienten und Familien
Zusammenfassung
Die Bedeutung einer möglichst differenzierten und fachkundigen Erklärung eines auffälligen Screeningbefundes wird durch Untersuchungen zur Auswirkung falsch positiver Screeningergebnisse auf Familien belegt. Bei einem „falsch-positiven“ Screening besteht eine Auffälligkeit in der ersten Untersuchung, die sich in der Folge in der Kontrolluntersuchung oder weiterführenden Diagnostik nicht bestätigt. Bei diesen Kindern sind somit nach Abschluss der Kontrolluntersuchungen keine weiteren Maßnahmen erforderlich. In einer amerikanischen Studie von Gurian und Kollegen wurden Interviews mit Familien geführt, bei deren Kind ein falsch positives Screeningergebnis im erweiterten Neugeborenenscreening vorgelegen hatte. Zum Vergleich wurden Eltern interviewt, bei deren Kind sich bereits im Erstscreening ein unauffälliger Befund ergeben hatte. Es wurde eine Erhebung zum Ausmaß elterlicher Belastung mittels eines Eltern-Belastungs-Inventars (Parenting Stress Index) durchgeführt. Hier zeigten sich bei Eltern von Kindern mit einem falsch positiven Screeningbefund mehr Auffälligkeiten in den Bereichen „Eltern-Kind-Dysfunktion“ und „Schwieriges Verhalten des Kindes“. Zum selben Ergebnis kam auch eine Studie von Waisbren und Kollegen. Hier zeigte sich, dass es sich stressreduzierend auswirkte, wenn eine Vorstellung in einem Stoffwechselzentrum stattgefunden hatte und wenn das Ergebnis der Kontrolluntersuchung in einem persönlichen Gespräch übermittelt worden war.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
9. Neue Zielkrankheiten – Ausblicke
Zusammenfassung
In den letzten Jahren entwickelten sich parallel zur Weiterentwicklung der Massenspektrometrie weitere analytische Hochdurchsatzverfahren, anhand derer eine Vielzahl unterschiedlicher biologischer Marker, vor allem direkte Gensequenzen und Mutationen in kurzer Zeit evaluiert werden können. Damit kommen diese potenziell für Massenuntersuchungen wie das Neugeborenenscreening infrage. Gleichzeitig wurden und werden neue Behandlungsverfahren entwickelt, welche bei bislang nicht behandelbaren schweren seltenen Stoffwechselerkrankungen und verwandten Erkrankungen deutliche Verbesserungen des Behandlungsergebnisses bis hin zu langfristigen Heilungen ermöglichen. Diese technischen Fortschritte, vor allem im diagnostischen Bereich, spiegeln sich aber auch in diversen mehr oder weniger fehlerhaften bis unseriösen internetgestützten Angeboten genetischer Screeningverfahren über private Anbieter wieder, die nicht die Konzepte und Kriterien für das Neugeborenenscreening erfüllen, viel Geld kosten und im Einzelfall sogar mehr schaden als nützen können. Zu dieser Problematik haben die Deutsche Gesellschaft für Kinder und Jugendmedizin und die Deutsche Gesellschaft für Neugeborenenscreening eine Stellungnahme veröffentlicht: http://screening-dgns.de/PDF/2012-Stellungnahme_Internetanbieter_Screening.pdf.
Gwendolyn Gramer, Georg F. Hoffmann, Uta Nennstiel-Ratzel
Backmatter
Metadaten
Titel
Das erweiterte Neugeborenenscreening
verfasst von
Gwendolyn Gramer
Georg F. Hoffmann
Uta Nennstiel-Ratzel
Copyright-Jahr
2015
Electronic ISBN
978-3-658-10493-1
Print ISBN
978-3-658-10492-4
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-10493-1

Update Pädiatrie

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