Die Deutung gilt als zentrale psychodynamische Behandlungstechnik (Argelander
1981; Loewenstein
1968; Ungar
2015). Deutungen zielen darauf ab, bis dahin unbewusste Motive, Impulse, Affekte, Fantasien etc. ins bewusste Erleben zu bringen. Zudem können Zusammenhänge mit der Symptomatik hergestellt werden, wodurch diese einen bis dahin verborgenen Sinn erhalten kann (Argelander
1981). Eine gelungene Deutung soll Einsicht hervorrufen, deren heilende Wirkung Loewenstein (
1968) sowohl auf das Erinnern vergessener Erlebnisse als auch auf die Überwindung von Widerständen zurückführt. Einsicht im psychoanalytischen Sinne ist dabei immer als emotionale Einsicht zu verstehen (Benecke
2014). Neuere empirische Studien belegen, dass Einsicht eine gewichtige Rolle bei der Wirksamkeit psychodynamischer Deutungsarbeit spielt (Høglend und Hagtvet
2019; Ulberg et al.
2017).
In den letzten Jahren kann eine rege Diskussion über die Deutungsarbeit beobachtet werden, die sich mit ihrem Stellenwert im psychoanalytischen „Werkzeugkasten“ befasst und die Funktion unterschiedlicher Deutungstypen zum Gegenstand hat (z. B. Borens
2015; Körner
2015,
2020; Plassmann,
2010,
2016a,
2016b; Steiner
1998; Ungar
2015; Will
2016,
2018,
2020). Plassmann (
2010, S. 105) erweitert die
Inhaltsdeutungen, die sich auf das „Was?“ psychischer Inhalte, also auf „Einfälle, Träume, Emotionen, Körperwahrnehmungen“ beziehen, um die
Prozessdeutungen, die sich auf das „Wie?“, also die „Umwandlungen, [und] Neuorganisation von seelischem Material“ (Plassmann
2016b, S. 444) beziehen. Eine weitere wichtige Unterscheidung wurde zwischen
gesättigter und
ungesättigter bzw. zwischen
klassischer und
nichtklassischer Deutung gemacht. Während gesättigte Deutungen durch Eindeutigkeit, Unmissverständlichkeit und Bedeutungsfixierung gekennzeichnet sind, arbeiten ungesättigte Deutungen mit Metaphern und Bildern, lassen der Mehrdeutigkeit des Unbewussten Raum und dienen dazu, eine Sprache für unbewusste Inhalte zu finden (Will
2016,
2018). Die klassische oder gesättigte Deutung wurde als geschlossen, suggestiv, manipulierend, beziehungsschädigend und Assoziationsketten unterbrechend kritisiert (Ungar
2015; Will
2016; Ferro
2009; Heenen-Wolff
2016). In der vorliegenden Arbeit möchten wir anhand einer qualitativen Analyse von Patientenreaktionen auf gesättigte Deutungen die geäußerte Kritik empirisch näher untersuchen. Die in der Literatur oftmals harsche Gegenüberstellung von klassischer, gesättigter Deutung und nichtklassischer, ungesättigter Deutung sollte allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch gesättigte Deutungen immer als Verstehensangebote, als Hypothesen und Ideen vorgestellt werden sollten, die das Gegenüber zurückweisen oder aufgreifen und weiterverarbeiten kann (Benecke
2014). Im folgenden Abschnitt möchten wir der geäußerten Kritik an Deutungen aus theoretischer Sicht nachgehen, welche sich unseres Erachtens nach drei Themen zuordnen lässt: die potenzielle Schädlichkeit der gesättigten Deutung für die therapeutische Beziehung und die Mitteilsamkeit der Patientinnen und Patienten sowie die dahinter liegende therapeutische Haltung.
Der Einfluss klassischer Deutungen auf die therapeutische Beziehung
So bescheinigt der italienische Psychoanalytiker Ferro (
2008, S. 221) der klassischen oder gesättigten Deutung Folgendes: „Die saturierte Deutung, die exzessiv entschlüsselt, wird als etwas sehr Gewalttätiges empfunden, als etwas, das verletzt und nicht nur nichts entstehen lässt, sondern letztlich sogar etwas tötet (das Vertrauen), das gerade im Entstehen ist“. Ferro (
2009) präsentiert einige Beispiele, wie Patientinnen und Patienten mit gewaltvollen Metaphern auf gesättigte Deutungen reagieren. Körner (
2015,
2020) geht ebenfalls auf die Wirkung der klassischen Deutungen auf die therapeutische Beziehung ein: Unter klassischen Deutungen lassen sich quasikausale Erklärungen zusammenfassen, also Deutungen, die Ursachen und Ursprünge von Verhaltens- und Erlebensmustern benennen. Quasikausale Erklärungen sind beispielsweise rekonstruktive und genetische Deutungen. Sie können nach Körner (
2015) in der therapeutischen Beziehung die Autorität des Analytikers, der Analytikerin festigen, wobei Patientinnen und Patienten sich durch sie „unwissend“ fühlen können. Das ist sicher kein erwünschter Effekt, zielen die psychodynamischen Therapien doch darauf ab, Einsicht, nicht Unwissenheit in den Patientinnen und Patienten hervorzubringen. Die klassische Deutung stößt auch bei Rudolf (
2012, S. 366) auf Kritik, dessen Therapieansatz einen „weitgehenden Verzicht auf Deutungen“ beinhaltet. Der Vertreter der strukturbezogenen Psychotherapie weist auf die mögliche negative Wirkung klassischer Deutungen gerade bei strukturell beeinträchtigten Patientinnen und Patienten hin. Sie können, so Rudolf, „kognitiv sowie emotional überfordern und verwirren“. Doch wie sieht es mit empirischen Erkenntnissen dazu aus?
Deutungsarbeit kann (Petraglia et al.
2015; Gumz
2018), muss aber nicht beziehungsschädigend sein (Levy et al.
2015). Sie ist in ihrer positiven Wirkung auf die therapeutische Beziehung an die Bedingungen geknüpft, eigene Anteile am Beziehungsgeschehen einzuräumen (Gumz
2018) und in der Ausgestaltung möglichst präzise an den unbewussten Konflikten und Wünschen der Patientinnen und Patienten zu bleiben (Crits-Christoph et al.
1988,
1993). Leibovich et al. (
2020) kommen auf der Grundlage empirischer Fallstudien zu dem Ergebnis, dass Deutungen die therapeutische Allianz dann stärken, wenn sie an die Stärken der Patientinnen und Patienten anknüpfen und empowernd sowie wachstumsförderlich formuliert werden. Barber et al. (
2013) weisen auf empirische Erkenntnisse hin, nach denen Deutungsarbeit vermehrt als feindselig wahrgenommen werden und Brüche in der therapeutischen Allianz auslösen kann. Die widersprüchlichen Ergebnisse könnten sich aufklären, wenn die Studien stärker zwischen einerseits den klassischen Deutungen (in Körners Worten „quasikausale Erklärungen“ oder bei Will und Ferro „gesättigte Deutungen“ genannt) und den ungesättigten Deutungen (Will, Ferro) oder Interpretationen (Körner) differenzieren würden. Bisher scheint die Forschung sich eher auf eine Differenzierung nach dem Inhalt der Deutungen, insbesondere auf Übertragungsdeutungen (Høglend et al.
2008; Kernberg et al.
2008; Nissen-Lie et al.
2020; Ulberg et al.
2014) und Widerstandsdeutungen (Bhatia et al.
2016; Olson et al.
2011; Perry und Bond
2017; Petraglia et al.
2015), zu fokussieren.
Im nächsten Abschnitt möchten wir auf eine weitere Form der Kritik eingehen, der zufolge klassische Deutungen die Bereitschaft der Patientinnen und Patienten hemmt, sich zu öffnen und sich mitzuteilen.
Die Wirkung klassischer Deutungen auf die Mitteilsamkeit
Ferro (
2009, S. 16, 17) räumt ein, dass eine Behandlung neuen Antrieb erfahren könne, wenn „durch eine Deutung ganz entschieden und radikal eine Zäsur“ gesetzt werde. Diese ermögliche es, hinter den manifesten Äußerungen der Patientinnen und Patienten „einen ganz anderen, tieferen Sinn aufzudecken“. Im Hinblick auf die gesättigten Deutungen überwiegen aber eindeutig die Warnungen – gerade im Hinblick auf das Fließen des Unbewussten in den Patientinnen und Patienten: Eine „starke und unmissverständliche Deutung“ blockiere das Erkennen (Ferro
2009, S. 18). Ferro warnt vor der Gefahr „einer Flaschenhals-Deutung, welche die Gedankenentwicklung blockiert“ (Ferro
2009, S. 195). Die gesättigte Deutung verschließe die Möglichkeit, Assoziationen und neue Szenarien in den Patientinnen und Patienten zu veranlassen. Eine Sorge, die auch die Psychoanalytikerin Heenen-Wolff (
2016, S. 55) teilt, der zufolge Interventionen generell „die unerwünschte Begleiterscheinung [haben], das freie Sprechen oder Assoziieren des Patienten zu stören“. Die Nebenwirkung, die Gedankengänge der Patientinnen und Patienten durch eine Intervention, selbst wenn sie noch so empathisch zu sein scheint, einzuschränken, kann somit den Zugang zum Unbewussten versperren. Unter Rückgriff auf ein Zitat von Ferenczi beklagt sie den „Deutungsfanatismus“ als Kinderkrankheit in der Psychoanalyse und plädiert für einen sparsamen, zurückhaltenden Umgang mit Deutungen.
Wir haben gesehen, dass gesättigte Deutungen als potenziell beziehungsschädlich und im Hinblick auf das Unbewusste als blockierend kritisiert wurden. Die Kritik ist aber keine absolute, weil mehrere Autoren einräumen, dass es Situationen geben kann, in denen es erstrebenswert ist, eine Bedeutung zu fixieren und so klar und unmissverständlich wie möglich zu deuten. Temporäre Brüche in der therapeutischen Beziehung können gleichfalls nicht nur als negativ bewertet werden, da die Erfahrung mit der „Rupture-repair“-Methode (3RS, Eubanks et al.
2015) gezeigt hat, dass Prozesse vollkommen ohne Brüche nicht produktiv sind, und dass es auf längere Sicht beziehungsförderlich sein kann, Brüche in der Beziehung mit klärender Absicht anzusprechen. Sogenannte Rupture-repair-Episoden können demnach innerhalb einer therapeutischen Beziehung bedeutsame Veränderungsprozesse in Gang setzen. Die Reparierbarkeit von Brüchen in der therapeutischen Beziehung, die infolge einer Deutung auftreten, könnte davon abhängen, mit welcher Haltung gedeutet wird, was zu unserem dritten Thema in Bezug auf die Kritik an klassischen Deutungen überleitet.
Die therapeutische Haltung im Wandel der Deutungsarbeit
Insofern ist neben den technischen Aspekten wie dem Sättigungsgrad, dem Maß der Abgeschlossenheit einer Deutung oder dem Anteil metaphorischer Komponenten in den Interventionen auch die Haltung angesprochen, mit der Analytikerinnen und Analytiker in den Kontakt mit ihren Patientinnen und Patienten hineingehen. Ferros Gegenentwurf zu gesättigten Deutungen sind transformative Konarrationen. Ein Kernbestandteil dieser ist laut Ferro die dialogische Haltung, die einschließt, dass weder Analytikerinnen und Analytiker noch Patientinnen und Patienten „im Besitz einer vorab feststehenden Wahrheit“ (Ferro
2009, S. 10) sind. Borens (
2015, S. 51) würde Ferro vermutlich zustimmen, empfiehlt er mit Lacan den Analytikerinnen und Analytikern doch eine Position einzunehmen, die „unvollständig, nicht wissend und schon gar nicht allwissend“ ist.