Pathogenetisch orientierte Therapie bedeutsam

Diabetes mellitus ist eine der wichtigsten Ursachen einer Neuropathie. Häufigste Form ist mit einer Prävalenz von etwa 30% die diabetische sensomotorische Polyneuropathie (DSPN), die mit einem deutlich erhöhten Mortalitätsrisiko, reduzierter Lebensqualität und mit hohen Krankheitskosten einhergeht. Mit einer individuell angepassten, multifaktoriellen Therapie sollte so früh wie möglich begonnen werden, wie Experten betonen. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist dabei die pathogenetisch begründete Pharmakotherapie, z. B. mit Benfotiamin. Aktuellen internationalen Konsensus-Empfehlungen [1] zufolge sollte die Therapie der diabetischen Neuropathie umfassend sein und auch einen pathogenetisch orientierten Ansatz beinhalten, wie Prof. Dr. Dan Ziegler, Institut für Klinische Diabetologie am Deutschen Diabetes-Zentrum der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, betonte. Ziel dieses holistischen Ansatzes sei es, die Nervenschädigung aufzuhalten, Symptome so gut und nebenwirkungsarm wie möglich zu lindern und die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten dauerhaft zu verbessern. Pathogenetisch orientierte Therapie mit Benfotiamin Vitamin-B1-Mangel ausgleichen – Advanced Glycation Endproducts (AGE) hemmen Die fettlösliche Vitamin-B1-Vorstufe Benfotiamin weist eine wesentlich bessere Bioverfügbarkeit auf als herkömmliches, wasserlösliches Thiamin [7]. Dadurch gelangt das Vitamin nach oraler Gabe in signifikant höheren Konzentrationen in den Blutkreislauf und zum Nervengewebe. Mangelzustände, die in verschiedenen Studien bei Menschen mit Diabetes aufgrund einer erhöhten renalen Ausscheidung nachgewiesen wurden, können auf diese Weise wirksam ausgeglichen werden [4, 8]. Ein Mangel an Vitamin B1 kann metabolische Störungen und Neuropathien verursachen. Unter anderem ist ein Schlüsselenzym des Glukosestoffwechsels, die Transketolase, von Vitamin B1 als Kofaktor abhängig. Das Enzym stellt die Weichen, ob Glukose auf harmlosen oder schädlichen Wegen abgebaut wird. In experimentellen Studien zeigte sich, dass Benfotiamin die Transketolase aktivieren und dadurch die Bildung schädlicher Substanzen wie der AGE reduzieren kann [9]. Dass Benfotiamin neuropathische Symptome wie Kribbeln, Brennen und Taubheit in den Füßen bei Patientinnen und Patienten mit Diabetes lindern kann, wurde in placebokontrollierten Studien gezeigt [10, 11]. Diabeteskomplikation mit gravierenden Folgen In der Praxis bleibe die diabetische Polyneuropathie nach wie vor unterdiagnostiziert und untertherapiert, so Ziegler mit Verweis auf die PROTECT-Studie [2, 3]. Dies sei ein großes Manko, da die Polyneuropathie keine Spät-, sondern vielmehr eine Frühkomplikation des Diabetes ist und häufig schon im Stadium des Prädiabetes auftritt. Sowohl die symptomatische als auch die asymptomatische Ausprägung der DSPN kann gravierende Folgen haben: Symptome wie Schmerzen, Kribbeln und Brennen in Füßen und Unterschenkeln führen häufig zu Schlafstörungen und Depressionen. Wahrnehmungsdefizite bei Schmerzen, Berührungen und Temperaturen erhöhen dagegen das Risiko für unbemerkte Verletzungen und damit für ein diabetisches Fußsyndrom. Die Therapie wird auch durch heterogene Leitlinien erschwert, die oft vorwiegend auf die symptomatische Therapie neuropathischer Schmerzen fokussiert sind, so Ziegler. Tests zur Frühdiagnostik Um die diabetische Neuropathie in der Praxis frühzeitig nachweisen zu können, eignen sich laut Ziegler Bedside-Tests zur Überprüfung der Funktion der großen Nervenfasern (z. B. Vibrationsempfinden mit der Stimmgabel) und der kleinen Nervenfasern (z. B. Schmerzempfinden mit einem Zahnstocher). Sensitiver ist die Quantitiative Sensorische Testung (QST) mit Messung der Vibrations- und Temperaturschwelle. Goldstandard in der neurologischen Praxis ist die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit, die jedoch nur großkalibrige Fasern erfasst. Fallstricke bei Diagnostik und Therapie umgehen Wie Fallstricke bei Diagnostik und Therapie der diabetischen Neuropathie erkannt und umgangen werden können, erläuterte Prof. Dr. Ralf Lobmann, Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Geriatrie am Krankenhaus Bad Cannstatt des Klinikums Stuttgart. Die diabetische Neuropathie bezeichnete er als diabetisches „Zu-spät-Syndrom“. Wichtig sei vor allem eine gründliche Differentialdiagnose. Denn neuropathische Symptome könnten auch bei Diabetikerinnen und Diabetikern nicht grundsätzlich allein auf diese Grunderkrankung zurückgeführt werden. Vielmehr könnten auch Engpass-Symptome, Infektionen (z. B. Borreliose) oder Vitaminmangel an der Entstehung von Polyneuropathien beteiligt sein. Ebenso könnten Medikamente wie Zytostatika oder ein Alkoholabusus eine Neuropathie verursachen. Gemischte Pathogenese häufig Eine gemischte Pathogenese sei häufig, so Lobmann. So kann etwa ein Vitamin-B1-Mangel durch Diabetes begünstigt werden und Neuropathien verursachen [4]. Ein Vitamin-B12-Mangel kann ebenfalls Neuropathien forcieren und unter der langjährigen Einnahme des Diabetes-Medikaments Metformin entstehen [5, 6]. Weiterhin könnten auch andere Stoffwechselfaktoren wie Amyloidose, Schilddrüsenfunktionsstörungen oder Niereninsuffizienz eine Neuropathie verursachen. Erhöhte Morbidität und Mortalität durch Folgekomplikationen Neben peripheren Missempfindungen mit Kribbeln, Brennen und Schmerzen sind Folgekomplikationen der Neuropathie wie das diabetische Fußsyndrom für die Morbidität und reduzierte Lebensqualität der Patientinnen und Patienten verantwortlich. Andere Formen der Neuropathie, etwa die kardiale autonome Neuropathie, tragen zur erhöhten kardiovaskulären Mortalität bei Diabetes bei. Drei Grundpfeiler der Therapie Der im internationalen Konsensus von Expertinnen und Experten empfohlene holistische Therapieansatz bei DSPN basiert auf drei Grundpfeilern, betonte Ziegler (Abb. 1) [1]: Lebensstiländerung und optimale Diabetestherapie mit dem Ziel einer nahe normoglykämischen Blutzuckereinstellung. Zudem sollte eine multifaktorielle kardiovaskuläre Risikointervention angestrebt werden. Pathogenetisch orientierte Therapie, die nicht nur die Symptome, sondern auch die neuropathischen Prozesse positiv beeinflusst. Zur Verfügung stehen die fettlösliche Vitamin-B1-Vorstufe Benfotiamin und das Antioxidans Alpha-Liponsäure (ALA). Symptomatische Behandlung neuropathischer Schmerzen mit Antidepressiva, Antikonvulsiva, Opioiden, Capsaicin-Pflaster. Mit Nebenwirkungen ist zu rechnen. Auch nichtpharmakologische Optionen wie Physio- und Psychotherapie können in Erwägung gezogen werden. Abb. 1: Therapie der diabetischen sensomotorischen Polyneuropathie, basierend auf drei Grundpfeilern (modifiziert nach [1]) Springer Medizin Verlag GmbH × Laut PD Dr. Ovidiu Alin Stirban, Chefarzt Diabetologie an der Asklepios Klinik in Birkenwerder, steht die Prävention durch Optimierung der Blutzuckereinstellung und Lifestyle-Intervention an vorderster Stelle in der Therapie der DSPN. Symptomatische Neuropathien mit Parästhesien, Taubheit, Kribbeln etc. sprechen oftmals gut auf die pathogenetisch orientierte Behandlung mit Benfotiamin oder Alpha-Liponsäure an, während schmerzhafte Nervenschäden häufig zusätzlich eine symptomatische Therapie erfordern. Um eine optimale Linderung bei akzeptablem Nebenwirkungsprofil zu erreichen, kommen häufig Kombinationstherapien aus unterschiedlichen Substanzklassen in Betracht, da nur etwa die Hälfte der Patientinnen und Patienten auf eine analgetische Monotherapie anspricht. ADA-Experten-Empfehlung Auch ein aktuelles Kompendium der American Diabetes Association (ADA) weist auf den Stellenwert der pathogenetischen Therapie mit Benfotiamin und ALA bei diabetischer Neuropathie hin: In Anbetracht der Schwere der Erkrankung einerseits und der limitierten Wirksamkeit der kausalen und symptomatischen Therapie andererseits bestehe ein Bedarf an dieser ergänzenden Behandlungsoption [6]. Service für Fachkreise und Patienten Weitere Informationen, Zugang zu Video-Tutorials, CME-Fortbildungen und Service-Material unter www.nai-diabetische-neuropathie.de Literatur Ziegler D et al., Diabetes Res Clin Pract 2022, 186:109063, doi: 10.1016 Ziegler D et al., Diabetes Res Clin Pract 2018, 139:147–154 Ziegler D et al., J Diabetes Investig 2020, 11:1272–1277 Thornalley PJ et al., Diabetologia 2007, 50:2164–2170 Shivaprasad C et al., Acta Diabetologica 2020, 57:1073–1080 Pop-Busui et al., American Diabetes Association, ADA Clinical Compendia Series 2022; https://professional.diabetes.org/monographs#PDN Schreeb KH et al., Eur J Clin Pharmacol 1997, 52:319–320 Anwar A et al., Cureus 12:e8027, doi: 10.7759/cureus.8027 Hammes HP et al., Nat Med 2003, 9:294–299 Stracke H et al., BENDIP-Studie, Exp Clin Endocrinol Diabetes 2008, 116:600–605 Haupt E et al., BEDIP-Studie, Int J Clin Pharmacol Ther 2005, 43:71–77 Impressum Online-Expertengespräch „Aktuelles zur diabetischen Neuropathie” anlässlich des Kongresses der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), 24. Mai 2022 Bericht: Dagmar Jäger-Becker, Rodgau Artikel gedruckt in: InFo Diabetologie Band 16, Heft 4/2022; CME Band 19, Heft 9/2022 Mit freundlicher Unterstützung der Wörwag Pharma GmbH & Co. KG, Böblingen Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Hildegard Hausmann Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: Neuropathien bei Diabetes besser diagnostizieren und behandeln - Pathogenetisch orientierte Therapie bedeutsam

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