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Erschienen in: Die Pathologie 4/2022

Open Access 18.05.2022 | Anämien | Schwerpunkt: Nichtneoplastische Hämatopathologie

Differenzialdiagnose reaktiver Zytopenien

verfasst von: Thomas Menter, Stefan Dirnhofer, Alexandar Tzankov

Erschienen in: Die Pathologie | Ausgabe 4/2022

Zusammenfassung

Reaktive Zytopenien sind eine häufige Ursache für Knochenmarkuntersuchungen einschließlich Biopsieentnahmen, insbesondere falls klinische Abklärungen und Laboranalysen (z. B. Feststellung von Substratmängeln) nicht für eine Erklärung sorgen können. Bei der Beurteilung solcher Biopsien geht es in erster Linie um den Ausschluss von Krankheiten, die die normale Hämatopoese verdrängen (Infiltrate akuter Leukämien oder Lymphome, Metastasen), um ein myelodysplastisches Syndrom zu falsifizieren, das klassischerweise zu einer ineffektiven Hämatopoese führt, oder um den Nachweis spezifischer, insbesondere infektiöser oder histiozytärer Krankheiten zu erbringen (z. B. hämophagozytierende Lymphohistiozytose).
In dieser Übersicht beschreiben wir charakteristische morphologische Veränderungen reaktiver Zytopenien, fokussieren auf spezifische infektiöse und nichtinfektiöse Krankheitsbilder und grenzen sie von malignen Veränderungen, insbesondere dem myelodysplastischen Syndrom und zugrunde liegender Leukämie grossgranulärer T‑Lymphozyten, ab. Medikamenteninduzierte Veränderungen der Hämatopoese werden in einem anderen Beitrag dieser Ausgabe beschrieben.
Hinweise

Schwerpunktherausgeber

F. Fend, Tübingen

Zusatzmaterial online

Eine Bildserie einer Pilzinfektion, welche man – nach Abstraktion der argyrophilen Markfasern – neben der Grocott- auch in der Gömöri-Versilberung wahrnehmen kann, ist in der Online-Version dieses Artikels (https://​doi.​org/​10.​1007/​s00292-022-01076-2) enthalten.
Zusatzmaterial online – bitte QR-Code scannen
Für Kliniker unklare Veränderungen des peripheren Blutbildes sind eine häufige Indikation für Knochenmarkuntersuchungen, wozu auch die histologische Untersuchung des Knochenmarks (Knochenmarkbiopsien) – inklusive zahlreicher Zusatzanalysen wie Immunhistochemie und molekularpathologische Untersuchungen – zählt. Hauptgrund dieser Untersuchung ist es, maligne Veränderungen zu erkennen bzw. auszuschließen und, wenn möglich, einen spezifischen therapeutischen Ansatz herauszufinden, der sich aus rein klinischen differenzialdiagnostischen Ansätzen noch nicht erschlossen hat.
Während bei einer Vermehrung der 3 Zellreihen des Knochenmarks (Polyglobulie, Thrombozytose, Leukozytose) neben reaktiven Veränderungen (z. B. reaktiv-hypoxische oder paraneoplastische Polyglobulie, Leukozytose bei septischen Zustandsbildern) in erster Linie an myeloproliferative Erkrankungen oder akute Leukämien gedacht werden muss, ist die Differenzialdiagnose bei Verminderung einer der 3 Zellreihen (Anämie, Thrombopenie, Neutropenie) oder bei Panzytopenie deutlich breiter. In dieser Übersichtsarbeit widmen wir uns aus der routinenahen Perspektive der alltäglichen diagnostischen Hämatopathologie, welche oft im Kontext lakonischer bis mangelhafter Angaben der klinischen Differenzialdiagnosen bzw. Angaben stattfinden muss, den verschiedenen Ätiologien reaktiver Zytopenien und grenzen sie von möglichen neoplastischen Differenzialdiagnosen ab. Weiterführend wird auf die einschlägige Literatur verwiesen [5, 14, 27, 31].

Differenzialdiagnostische Aspekte bei Panzytopenien

Eine Panzytopenie ist definiert als Verminderung aller 3 Zellreihen im peripheren Blut. Eine der hierfür möglichen Ursachen ist die aplastische Anämie. Morphologisch zeigt sich hier in der Regel ein deutlich hypozelluläres Knochenmark (< 10 % Zellularität bzw. < 25 % der altersangepassten Zellularität), wobei die meisten noch vorhandenen Zellen Plasmazellen und Makrophagen darstellen. Daneben finden sich Inseln erhaltener Erythropoese, sog. Hotspots. Myelopoese und auch Megakaryopoese fehlen oft vollständig (Abb. 1a). Die Ursachen der aplastischen Anämie sind breit gefächert und reichen von genetisch bedingten Erkrankungen (z. B. Fanconi-Anämie, Dyskeratosis congenita) über Nebenwirkungen verschiedener Medikamente und toxischer Substanzen bis hin zu Begleitphänomenen im Rahmen von insbesondere Hepatitis-Virusinfektionen. Am häufigsten handelt es sich jedoch um ein primär autoimmun vermitteltes Geschehen. In den letzten Jahren konnte gezeigt werden, dass sich bei dieser Patientenkohorte Mutationen im hämatopoetischen Stammzellpool – wahrscheinlich unter dem Druck massiver Proliferationsstimulation – verankern können. Besonders häufig sind die Gene PIGA, BCOR/BCORL1, DNMT3A und ASXL1 mutiert [18]. PIGA-Mutationen gehen mit einer Synthesestörung des Phosphatidylinositol-Glycan-Ankers, was der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie (PNH) zugrunde liegt, einher. Aus diesem Grund sollte in der Durchflusszytometrie bei Patienten mit aplastischer Anämie nach einem PNH-Klon gesucht werden [1]. Eine wichtige Aufgabe bei der Beurteilung der Knochenmarkbiopsie bei aplastischen Anämien ist der Ausschluss anderer Erkrankungen (hypoplastisches myelodysplastisches Syndrom [MDS; Abb. 1b], Lymphominfiltrate, insbesondere Haarzellleukämie [HCL], lymphoplasmozytisches Lymphom [LPL], Leukämie großgranulärer T‑Lymphozyten [T-LGL; s. später], akute lymphoblastische Leukämie), die oft nur mittels immunhistochemischer Zusatzuntersuchungen (Blastenquantifizierung, Charakterisierung lymphoider Infiltrate) zu erkennen sind. Ein wichtiges infrage kommendes Zustandsbild ist jenes einer Parvovirus-B19-Infektion (s. Abschn. „Differentialdiagnostische Aspekte bei Anämien“). Ferner und stets in der erweiterten Differenzialdiagnose kann eine Metastasierung im Knochenmark einerseits zu einer Verdrängung der Hämatopoese oder über andere, unter anderem inflammatorische Mechanismen zu einer Panzytopenie führen. Das Knochenmark ist hier im Gegenteil zur aplastischen Anämie meist hyperzellulär, seltener normozellulär. Dennoch können insbesondere Metastasen lobulärer Mammakarzinome vor allem in „blinden“ Beckenkammbiopsien diskret sein und perfekt dem interstitiellen Muster des Knochenmarks folgen, ohne die Fettvakuolen der Fettmarks zu verdrängen und so auch als z. B. megaloblastär veränderte Erythropoese rein morphologisch fehlinterpretiert werden. Gezielte immunhistochemische Analysen können sich hier als hilfreich erweisen (Abb. 1c).
Neben einer verminderten Produktion hämatopoetischer Zellen kann auch ein vermehrter Verbrauch/Abbau intramedullär oder in der Peripherie zu einer Panzytopenie führen. Ein typisches Beispiel hierfür ist das Hämophagozytosesyndrom (HPS)/hämophagozytierende Lymphohistiozytose (HLH)/Makrophagen-Aktivierungssyndrom (MAS). Diese Gruppe von Erkrankungen wird durch eine Kombination klinischer und labormedizinischer Parameter definiert [24]. Zu den morphologischen Zeichen zählt primär der Nachweis einer Hämophagozytose, daher die Ingestion von Erythrozyten und Leukozyten durch Makrophagen (Abb. 1d). Oft ist hierfür die immunhistochemische Darstellung der Makrophagen mit „Negativabdrücken“ der aufgenommenen Zellen mittels Färbungen für CD11c, CD68 oder CD163 hilfreich. Wichtig ist, hierbei zu bedenken, dass der morphologische Nachweis von Hämophagozytose nicht mit dem oben genannten Erkrankungsspektrum gleichzusetzen ist, da noch weitere Kriterien erfüllt sein müssen und Hämophagozytosen auch außerhalb von HPS/HLH/MAS beobachtet werden können, z. B. nach Bluttransfusion. Hämophagozytosen können durch Neoplasien ausgelöst oder bedingt sein, insbesondere Epstein-Barr-Virus(EBV)-assoziierte NK-/T-Zell-Lymphome [4] oder auch histiozytäre Neoplasien [28]. Am häufigsten tritt HLH allerdings im Rahmen von Infektionskrankheiten auf wie EBV-Infektion (ca. die Hälfte der HLH-Fälle) oder seltener auch Pilzinfektionen, z. B. Histoplasmose, welche man – nach Abstraktion der argyrophilen Markfasern – auch in der bei Knochenmarkbiopsien standardmäßigen Gömöri-Versilberung wahrnehmen kann (Abb. 1a und b im Onlinematerial). Daher sind eine gezielte EBV-Suche in situ (EBER) und eine akkurate Begutachtung der Gömöri-gefärbten Schnittstufe bei jedem Verdacht auf das Vorliegen von HLH indiziert. Eine Vermehrung EBV-positiver Zellen im Knochenmark stellt immer eine pathologische Situation dar und bedarf einer weiteren Abklärung hinsichtlich Immunstatus und allenfalls Lymphompräsenz.
Selten können auch infektiöse Erkrankungen wie eine Toxoplasmose oder eine Leishmaniose eine Panzytopenie verursachen. Insbesondere sind die Giemsa- und PAS-Färbung hierfür hilfreich, da diese die intrazytoplasmatisch liegenden Erreger besser zur Geltung bringen (Abb. 1e, f). Zur Diagnosesicherung empfehlen sich jedoch weitere immunhistochemische Untersuchungen sowie Korrelation mit der Serologie und insbesondere molekulargenetische Methoden zum Erregernachweis im Gewebe.
Weitere mögliche Ursachen einer Panzytopenie können im Kontext jüngeren Alters lysosomale Speichererkrankungen (z. B. Morbus Gaucher, Morbus Niemann-Pick) sein, deren detaillierte Beschreibung den Umfang dieses Übersichtsartikels übersteigen würde. Ein diagnostischer Hinweis hierfür wäre eine Vermehrung von gruppierten, in der Giemsa-Färbung granulär-blauen oder PAS-positiven Schaumzellen im Knochenmark, bei denen es sich um Makrophagen mit zahlreichen (lysosomalen) Vakuolen handelt [5]. In den meisten Fällen wird die Diagnose natürlich nicht durch die Knochenmarkbiopsie gestellt. Falls entsprechende Informationen seitens der Klinik dennoch nicht vorliegen oder es sich um attenuierte Formen mit oligosymptomatischem Beginn im späteren Alter handelt [33], kann bei Vorliegen der beschriebenen Befunde ein Hinweis auf eine Speichererkrankung als Ursache der Panzytopenie durchaus erwogen werden.
Eine weitere wichtige Ursache einer Panzytopenie oder auch nur einer isolierten Anämie, Thrombopenie oder Neutropenie können eine Splenomegalie bzw. ein damit verbundener Hypersplenismus sein. Hier kommt es durch die längere Verweildauer in der Milz zu einem vermehrten Abbau von Blutzellen. Grund ist oft eine durch eine Lebererkrankung bedingte portale Hypertonie [16] oder aber chronische Erkrankungen, die zu Splenomegalie führen [32]. In der Knochenmarkbiopsie sieht man hier unspezifische Veränderungen einer gesteigerten und linksverschobenen Hämatopoese bzw. Megakaryopoese oder Granulopoese.
Zusätzlich zur histopathologischen Aufarbeitung des Knochenmarks empfiehlt sich bei jeder Panzytopenieabklärung eine Integration der Befunde von Knochenmarkzytologie, Durchflusszytometrie und eventuell auch genetischer Befunde. Letzteres kann insbesondere in der Gruppe älterer Patienten helfen, die Diagnose einer klonalen Zytopenie (s. Abschn. „Differenzialdiagnostische Aspekte bei Anämien“) zu stellen.

Differenzialdiagnostische Aspekte bei Anämien

Anämiediagnosen werden anhand entsprechender, oft laborspezifischer und somit nicht exakt allgemeingültiger Grenzwerte des Hämoglobins, des Hämatokrits, des mittleren korpuskulären Volumens (MCV) und des mittleren korpuskulären Hämoglobingehalts (MCH) der Erythrozyten gestellt. Je nachdem, wie die unterschiedlichen Parameter (insbesondere MCV und MCH) verändert sind, ist bereits eine entsprechende Differenzialdiagnose möglich. Oft kann ein Substratmangel (insbesondere Eisen‑, Vitamin-B12- und Folsäuremangel) auch in diesem Rahmen bereits gemutmaßt werden.
Der typische morphologische Befund der Eisenmangelanämie (keine Indikationsstellung einer bioptischen Untersuchung) ist eine gesteigerte Erythropoese mit deutlich verminderten Eisenspeichern, gelegentlich findet sich zusätzlich eine reaktive Thrombozytose. Die perniziöse Anämie (Vitamin-B12-/Folsäuremangel) ist ein klassischer diagnostischer Fallstrick mit der Differenzialdiagnose einer – rein morphologisch zu vermutenden, per Immunhistochemie für CD34 aber ausschließbaren – Blastenvermehrung bis hin zur akuten myeloischen Leukämie (AML). Aufgrund fehlender Substrate für die DNA-Synthese kommt es zu einer deutlichen Hyperzellularität des Knochenmarks mit gesteigerter Erythropoese, die deutlich vergrößerte (megaloblastäre) reifungsgestörte Zellen mit aufgelockertem Kernchromatin zeigt, während neutrophile Granulozyten – an dünneren Schnitten auch histomorphologisch identifizierbar – gelegentlich hypersegmentierte Kerne aufweisen (Abb. 2a). Zur Abgrenzung gegenüber einer AML – insbesondere wenn keine Angaben bezüglich eines Vitamin-B12-/Folsäuremangels vorliegen – kann die Immunhistochemie (Expression erythroider Marker in den Megaloblasten, Negativität für CD34 und Myeloperoxidase) hilfreich sein.
Eine weitere wichtige Differenzialdiagnose ist die autoimmun-hämolytische Anämie (AIHA). Hierbei kommt es zur Bildung autoreaktiver Antikörper, die gegen Epitope auf Erythrozyten gerichtet sind und deren Zerstörung begünstigen. In ca. 50 % der Fälle liegt eine Assoziation mit einer zugrunde liegenden Erkrankung vor (Lymphom, Kollagenose, virale Infektion). Als wichtigster Beitrag der Knochenmarkbiopsie gilt hier, neben dem Ausschluss eines MDS, der Ausschluss von Lymphominfiltraten, insbesondere einer chronischen lymphatischen B‑Zellleukämie (B-CLL) und deren Vorstufen (monoklonale B‑Zell-Lymphozytose) bzw. eines LPL. Daher wird im Kontext von AIHA empfohlen, eine Lymphozytensubtypisierung an der Knochenmarkbiopsie durchzuführen, zumal keine Korrelation zwischen der Schwere der Symptomatik und den Infiltrationsvolumina der zugrunde liegenden Lymphoproliferation besteht und somit – bei kleinen Infiltrationsvolumina – die Letztere leicht übersehen werden kann.
Die Anämie des älteren Menschen bzw. die Anämie im Rahmen chronischer Erkrankungen ist eine Ausschlussdiagnose und kann nur im Kontext der Anamnese der Betroffenen gestellt werden [6]. Solche Anämien zeigen bei Individuen > 65 Jahre eine hohe Prävalenz von > 10 % [8]. Differenzialdiagnostisch kommen Blutungsanämien, Anämien bei chronischer Niereninsuffizienz (CNI) und Neoplasien infrage. Die reinen morphologischen Befunde des Knochenmarks sind bei nichtneoplastischen Veränderungen mit Ausnahme einer eventuellen begleitenden tunnelierenden Fibroosteoklasie bei schwerer CNI allerdings unspezifisch. Auch genetisch bedingte Erkrankungen wie das erst kürzlich beschriebene VEXAS-Syndrom, welches mit charakteristisch vakuolisierten erythroiden Vorläufern und Plasmozytose einhergeht, müssen letztendlich in die Differenzialdiagnose bei unklaren Anämiefällen mit weiteren systemischen Symptomen in Betracht gezogen werden [10].
Dank sensitiver genetischer Untersuchungen konnte in den letzten Jahren das Konzept der altersabhängigen klonalen Hämatopoese (ARCH) erarbeitet werden [30]: Die wichtigsten Begriffe sind hier ICUS (idiopathische Zytopenie unklarer Signifikanz), CHIP (klonale Hämatopoese mit unklarem Potenzial) und CCUS (klonale Zytopenie unklarer Signifikanz). Bei den letzten beiden Zustandsbildern lassen sich Mutationen, insbesondere in epigenetischen Regulatoren wie DNMT3A, TET2 und ASXL1 mit einer allelischen Frequenz von ≥ 2 % nachweisen. Für die Diagnose CCUS muss zudem eine ansonsten nicht erklärbare Zytopenie vorliegen. Vor allem CCUS zeigt ein erhöhtes Risiko einer spontanen Progression in MDS, chronische myelomonozytäre Leukämie oder AML [11]. Daneben haben Patienten sowohl mit CHIP als auch mit CCUS ein viel höheres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen und für therapieassoziierte myeloide Neoplasien, was bei der Risikoabwägung für oder gegen eine Bestrahlung oder Chemotherapie und der Gabe von IMIDs wie Lenalidomid und dem Tyrosinkinaseinhibitor Ponatinib bzw. bei der Indikationsstellung einer prophylaktischen ASS- und/oder Statin-Therapie berücksichtigt werden kann [9, 12]. Neuerdings werden mit der breiteren Anwendung von „liquid biopsies“ vermehrt die genannten und andere CHIP/CCUS-Mutationen bei Patienten mit verschiedenen soliden Tumorerkrankungen zufällig entdeckt. Daher ist es wichtig, diese Mutationen zu kennen, entsprechend einzuordnen und im Kontext der Klinik (Zytopenie[n] im peripheren Blut) und ihrer allelischen Frequenz zu interpretieren.
Ein selten anzutreffendes Krankheitsbild ist die „rein erythrozytäre Aplasie“ („pure red cell aplasia“) [17]. Histologisch zeigt sich hier der eindrückliche Befund einer normal ausreifenden Myelopoese und Megakaryopoese bei deutlich verminderter bis fehlender Erythropoese. Laborchemisch zeigt sich eine Retikulozytopenie sowie eine normochrome normozytäre Anämie. Ursache hierfür können neben einer Parvovirus-B19-Infektion (Abb. 2b), Autoimmunphänomene, z. B. im Rahmen von Thymomen, Transplantationen über die ABO-Barriere hinweg, Medikamentennebenwirkungen oder auch lymphoproliferative Erkrankungen sein (z. B. T‑LGL).
Für die Diagnose anderer Ursachen von hereditären Anämien wie der Ellipto- und Sphärozytose, bei Hämoglobinopathien (Thalassämien, Sichelzellanämie), der PNH sowie von gentisch bedingten hyporegenerativen Anämien (unter anderem Fanconi-Anämie, Diamond-Blackfan-Anämie) kann die Knochenmarkbiopsie an sich morphologisch keine eindeutigen wegweisenden Befunde liefern. So sind diese Diagnosen mittels anderer Untersuchungsmethoden, insbesondere sorgfältiger Anamnese, Statuserhebung und Mutationsanalysen zu stellen [25]. Bei Hämoglobinopathien (aufgrund der Migrationsbewegungen gehäuft auch in nördlichen Mitteleuropa anzutreffen) ist öfter auch eine extramedulläre Hämatopoese (Abb. 2c) zu finden, die nicht mit Manifestationen eines Myelosarkoms oder einer MPN verwechselt werden sollte [19].

Differenzialdiagnostische Aspekte bei Thrombopenien

Thrombopenie ist eine häufige Diagnose im klinischen Alltag. Ähnlich wie bei bestimmten Formen der Anämien dominieren hier autoimmunvermittelte Erkrankungen wie die idiopathische/immunologische Thrombo(zyto)penie (ITP), seltener heparininduzierte Thrombopenien (HIT) und sehr selten, dafür mit einem sich oft perakut verschlechterndem klinischen Verlauf, die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP).
Bei der ITP kommt es durch eine durch zirkulierende Autoantikörper bedingt vermehrten Phagozytose in der Milz zu einer verkürzten Lebensdauer der Thrombozyten. Die Antikörper sind in erster Linie gegen die Glykoproteine GPIIb und GPIb-IX gerichtet [15]. Auslöser können sowohl Medikamente (s. dedizierter Artikel in der vorliegenden Ausgabe von Der Pathologe) als auch Erreger sein. Morphologisch zeigt sich bei ITP aber auch bei HIT im Knochenmark das Bild der sog. megakaryozytären Thrombopenie mit gesteigerter und linksverschobener Megakaryopoese ohne relevante Dysmegakaryopoese (Abb. 2d).
Patienten mit einer TTP zeigen eine Mikroangiopathie mit intravasaler Thrombozytenaktivierung bedingt durch einen relativen oder vollständigen Mangel von ADAMTS13, eine zinkhaltige Metalloprotease, die den von-Willebrand-Faktor (vWF) spaltet und somit der Thrombozyten-vWF Komplexbildung entgegenwirkt [13]. Die Diagnose wird auch hier meist klinisch und laborchemisch gestellt. Im Knochenmark lässt insbesondere der Nachweis einer thrombotischen Mikroangiopathie (Abb. 2e) differenzialdiagnostisch an eine TTP oder eine Manifestation eines hämolytisch-urämischen Syndroms (HUS) denken. Dies kann gelegentlich in Knochenmarkbiopsien nach allogener Stammzelltransplantation im Kontext von schwerer Graft-versus-Host-Erkrankung (sog. „transplant-associated thrombotic microangiopathy“) beobachtet werden [3], da ansonsten vermutete TTP bez. HUS an sich keine Indikationsstellung für eine bioptische Abklärung sind.
Differenzialdiagnostisch wichtig: Unerklärte Thrombopenien im Kindes- und Jugendalter sind Indikatorläsionen für bestimmte Keimbahnmutationen (z. B. in RUNX1, ANKRD26 und ETV6 oder MYH9), die als prädisponierend für MDS/AML gelten [7], oder – im Falle von MYH9 – für eine Niereninsuffizienz und Schwerhörigkeit [22], sodass in entsprechenden Fällen gezielte genetische Analysen empfohlen werden können.

Differenzialdiagnostische Aspekte bei Neutropenien

Eine Neutropenie fällt oft durch eine erhöhte Infektanfälligkeit auf. Bei Kindern ist neben einer infektiösen Genese (Virusinfektion, in diesem Fall oft begleitet durch eine Lymphozytose, oder Sepsis) auch an genetisch bedingte Erkrankungen zu denken (Kostmann-Syndrom, Shwachmann-Diamond-Syndrom, zyklische Neutropenie, Myelokathexie). Bei Erwachsenen häufiger ist eine medikamentenassoziierte Genese. „Klassiker“ hierfür ist sicherlich die Agranulozytose nach Methamizol-Therapie. Auch zahlreiche andere Medikamente kommen hierfür in Frage [23, 29]. Üblicherweise ist in der Knochenmarkbiopsie ein sog. Reifungsarrest der Myelopoese auf der Ebene der Pro- oder Metamyelozyten zu beobachten, was einerseits durch die verstärkte intramedulläre Apoptose und andererseits durch die schnelle Freisetzung ins Blut der reiferen myeloischen Zellen unter der verstärkten Wirkung von (endo- oder – sofern angewendet – exogenem) G‑CSF erklärbar ist (s. dedizierter Artikel in der vorliegenden Ausgabe von Der Pathologe). Neben einer komplett fehlenden (oder fehlenden Ausreifung der) Myelopoese am Anfang kann im Extremfall der beginnenden Regeneration auch eine kleine gruppenbildende Vermehrung von CD34-positiven Myeloblasten beobachtet werde, was differenzialdiagnostisch an ein MDS mit Blastenvermehrung denken lassen könnte. In der etwas späteren Regenerationsphase solch einer Neutropenie kann es – auch schon vor einer Remission der Werte im peripheren Blut – zu einem deutlichen Überschießen der Myelopoese mit massiver Vermehrung von Promyelozyten kommen (Promyelozytenmark), was – insbesondere beim Fehlen entsprechender klinischer Informationen – Schwierigkeiten bei der morphologischen Abgrenzung gegenüber akuten Promyelozytenleukämie (APML) bereiten kann. Da sowohl die regenerierende Myelopoese als auch die APML-Blasten CD34-negativ sind, kann die Differenzierung beider Zustandsbilder den Einsatz molekularer Methoden erfordern.
Neutropenien bei systemischen Autoimmunerkrankungen – insbesondere bei rheumatoider Arthritis und systemischem Lupus erythematodes – werden hauptsächlich durch Autoantikörper verursacht, die direkt gegen die Neutrophilen gerichtet sind und zu einer verkürzten Halbwertszeit der letzteren führen [21]. Diese Antineutrophilen-Antikörper wie Anti-Fc-Gamma-RIIIb(CD16b)-Antikörper [20] sollten nicht mit den bekannteren antinukleären Antikörpern (ANA) verwechselt werden. An Knochenmarkbiopsien kann gelegentlich eine relative myelopoetische Hyperplasie und Linksverschiebung beobachtet werden. Allerdings ist hier eine klare ätiopathogenetische Zuordnung dieser dem gesteigerten Neutrophilenumsatz oder aber der oft gleichzeitigen Steroidgabe schwer auseinanderzuhalten.
Bei Patienten mit Felty-Syndrom (Trias von rheumatoider Arthritis, Splenomegalie und Neutropenie) ist die Zerstörung neutrophiler Granulozyten allerdings nur zu einem Teil auf Antineutrophilen-Antikörper zurückzuführen, da hier auch die Fas-Ligand-vermittelte Apoptose bedingt durch die Einwirkung vermehrter/deregulierter großgranulärer T‑Lymphozyten und die Hemmung der Myelopoese durch inflammatorische Zytokine eine Rolle spielen [2]. Dies erklärt die – im Gegensatz zur obigen – begleitende myeloische Hypoplasie. Da T‑LGL auch stark mit rheumatoider Arthritis und Neutropenie assoziiert sind, muss bei Verdacht auf ein Felty-Syndrom die Differenzialdiagnose T‑LGL hinreichend falsifiziert werden. Es sollte gezielt nach einer Vermehrung CD3- und CD8-positiver, jedoch CD5-negativer T‑Zellen mit Koexpression von TIA1 und CD57 gesucht werden (Abb. 2f). Insbesondere ist auf eine intrasinusoidale Lage der T‑LGL als „positiver Abguss“ in der CD3-Färbung oder als „negativer Abguss“ in der CD34-Färbung zu achten. Auch der Nachweis einer nukleären Expression von phosphoryliertem STAT3 (pSTAT3) in den T‑LGL-Zellen kann helfen, die Diagnose zu sichern, da ca. 40 % der T‑LGL eine aktivierende STAT3-Mutation aufweisen und pSTAT3 überexprimieren [26]. Nicht unerwähnt an dieser Stelle sei, dass T‑LGL einerseits überdurchschnittlich häufig als Differenzialdiagnose bei Knochenmarkbefall durch reife T‑Zelllymphome vergessen und als Manifestation weit aggressiverer peripherer T‑Zelllymphome, NOS, oder T‑Prolymphozytenleukämien missinterpretiert werden und anderseits, bei führender unerklärlicher Neutropenie oder sonstiger Zytopenie, integrativ als mögliches oder wahrscheinliches MDS fehldiagnostiziert werden.
Die Differenzialdiagnose des Hypersplenismus als Ursache einer Neutropenie wurde bereits im Absch. „Differentialdiagnostische Aspekte bei Panzytopenien“ erörtert.
Eine Monopenie – selektive absolute und relative Reduktion der Monozyten – ist ein typischer Befund bei der HCL. Wie anfangs erwähnt, kann der morphologische Befund subtil sein und erst durch die entsprechende Immunhistochemie (B-Zellen mit Koexpression von unter anderem Cyclin D1, CD20, CD25, CD103 und BRAF-V600E) dargestellt werden.

Fazit für die Praxis

  • Bei Erstdiagnose einer aplastischen Anämie: Ergebnisse der CD34- und TdT-Färbungen zum Ausschluss eines/einer hypoplastischen myelodysplastischen Syndroms, akuten myeloischen Leukämie, akuten lymphatischen Leukämie berücksichtigen.
  • Bei Panzytopenien und Anämien: Gezielt nach Erregern suchen (virozytopathische Veränderungen, Parasiten, Pilze), insbesondere die Spezialfärbungen beachten.
  • Bei Zustandsbildern aus dem Kreis Hämophagozytosesyndrom/hämophagozytierende Lymphohistiozytose/Makrophagen-Aktivierungssyndrom: Immunhistochemische Histiozytenfärbungen in Betracht ziehen und Epstein-Barr-Virus-Präsenz mittels EBER ausschließen.
  • Aplastische Anämie, Neutropenie oder autoimmun-hämolytische Anämie (AIHA): Lymphoproliferative Erkrankungen ausschließen (insbesondere chronische lymphatische B‑Zellleukämie, lymphoplasmozytisches Lymphom, Leukämie großgranulärer T‑Lymphozyten).
  • Monopenie: Haarzellleukämie ausschließen.
  • Differenzialdiagnose hereditärer Prädispositionssyndrome bei Kindern und jungen Erwachsenen mit unklarer/nicht-Immunthrombozytopenie-typischer Thrombopenie in Betracht ziehen.
  • Kontextuale Interpretation nachgewiesener Mutationen bei aplastischen Anämien, klonaler Zytopenie unklarer Signifikanz und in „liquid biopsies“ bedenken.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

T. Menter, S. Dirnhofer und A. Tzankov geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Differenzialdiagnose reaktiver Zytopenien
verfasst von
Thomas Menter
Stefan Dirnhofer
Alexandar Tzankov
Publikationsdatum
18.05.2022

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