Obwohl die ernährungsmedizinische Forschung und die daraus entstehenden Evidenzen und Konsequenzen stark gewachsen sind, bleiben noch einige Herausforderungen zu meistern.
Personalisierte Ernährung
Mittlerweile wurde erkannt, dass eine Ernährungstherapie nicht bei jeder Patient*in die gleiche Wirkung hat und dass sich das Therapieansprechen durchaus stark unterscheidet. Welche patienten- oder krankheitsspezifischen Faktoren für diese Unterschiede verantwortlich sind, ist derzeit noch unklar [
13]. Es gibt verschiedene Ansätze, um die Idee der personalisierten Ernährung in das Ernährungsmanagement einzubringen.
So kann beispielsweise die zugrunde liegende Erkrankung einen Einfluss auf das Therapieansprechen haben. In der EFFORT-Population konnte gezeigt werden, dass Patient*innen mit einer eingeschränkten Nierenfunktion umso besser auf die Ernährungstherapie ansprachen, je niedriger die errechnete glomeruläre Filtrationsrate war [
32]. Auch andere Studien an spezifischen medizinischen Populationen wie bei Patient*innen mit Herzinsuffizienz zeigten positivere Effekte durch Ernährungstherapie als in gemischten medizinischen Populationen [
18,
33]. Aber auch krankheitsübergreifende Konditionen beeinflussen das Therapieansprechen grundlegend: Eine weitere Subanalyse ergab, dass eine geringe Faustschlusskraft sehr gut das Therapieansprechen voraussagen kann. Außerdem konnte in einer Arbeit gezeigt werden, dass eine Stratifizierung anhand des C‑reaktiven Proteins (CRP) als Entzündungsmarker sinnvoll sein kann. Während Patient*innen mit starker Entzündung und CRP-Leveln über 100 mg/dl keinen Überlebensvorteil durch die Ernährungstherapie hatten, profitierten Patient*innen mit geringerer Entzündung deutlich [
34]. Dies könnte eine mögliche Erklärung sein, warum Ernährungsstudien, die Intensivstationspopulationen untersuchten, oftmals keinen signifikanten positiven Effekt feststellen konnten und sogar teilweise ein höheres Risiko an metabolischen Nebenwirkungen zeigten [
35].
Biomarker tragen potenziell dazu bei, die Ernährungstherapie zu personalisieren
Diese und weitere Biomarker können nicht nur das Therapieansprechen vorhersagen, sondern tragen potenziell dazu bei, die Ernährungstherapie zu personalisieren. Spricht eine Patientengruppe mit bestimmten Biomarkern, etwa mit einem hohen CRP, nicht auf bisherige bzw. herkömmliche Ernährungsinterventionen an, müssen für diese neue, personalisierte Ansätze gefunden werden. Patient*innen können dann im Rahmen einer personalisierten Medizin anhand der Biomarker in Subgruppen eingeteilt und entsprechend ihren Bedürfnissen behandelt werden. So gibt es bereits spezielle Empfehlungen für Patient*innen mit Niereninsuffizienz (tägliches Proteinziel: 0,8 g/kgKG) und für intensivmedizinische Patienten.
Neben Krankheitsfaktoren können auch patientenspezifische Faktoren wie das Alter und die Genetik, aber auch sozioökonomische Unterschiede eine Rolle spielen [
13]. Eine weitere Frage ist, in welchen Settings welche Ernährungstherapie sinnvoll ist. Die stärkste Evidenz besteht für die Therapie im stationären Setting, aber auch ambulant oder in Pflegeeinrichtungen sollten evidenzbasierte Standards entwickelt werden.
Mit diesen verschiedenen krankheitsspezifischen, laborchemischen, funktionellen und patientenspezifischen Faktoren könnte die Ernährungsdiagnostik verfeinert und das Ernährungsmanagement verbessert werden. Das Ziel ist ein optimales Ansprechen der Patient*innen auf eine individuelle Ernährungstherapie. Hierfür sind jedoch weitere Studien und dann gegebenenfalls eine Anpassung der aktuellen Definitionen, Diagnosekriterien und Therapieleitlinien notwendig.
Stärkung der Ernährungsforschung
Neben den Herausforderungen einer personalisierten Ernährung gibt es auch methodische Schwierigkeiten in der ernährungsmedizinischen Forschung. Trotz der neuen GLIM-Kriterien stehen für das Feststellen einer Mangelernährung und für das Beurteilen des Ernährungszustands diverse Tools und Vorgehensweisen zur Verfügung, was die Vergleichbarkeit der Studien erschwert. Zusätzlich bestehen bei der Ernährungstherapie Unterschiede im Zeitpunkt, der Darreichungsform sowie der Menge der einzelnen Inhaltsstoffe, was ebenfalls zu einer erschwerten Vergleichbarkeit der Studien führt. Eine zunehmende Optimierung der Diagnosekriterien und klinischen Leitlinien kann helfen, Studien besser zu standardisieren. Ein weiterer (wissenschaftlich betrachteter) Nachteil ist, dass es oft unmöglich ist, die Studienteilnehmenden oder Studienmitarbeitenden bei Ernährungsinterventionen zu verblinden, was das Risiko von Verzerrungen und Fehlern erhöht. Zudem werden die Ernährungsinterventionen oft nur sehr kurz durchgeführt, da sie beispielsweise nur während der Hospitalisation realisiert werden können oder die finanziellen Ressourcen nicht gegeben sind. Die Finanzierung ernährungsmedizinischer Studien ist im Vergleich zur pharmazeutischen Forschung oft erschwert [
36]. Ein entscheidender Faktor für die Ernährungsforschung ist zudem der ethische Aspekt. Für wissenschaftlich fundierte Evidenzen benötigt es in der Regel RCT, also Studien mit einer Kontrollgruppe. Inwieweit es gerechtfertigt werden kann, Mangelernährten eine Ernährungstherapie zu verwehren (Kontrollgruppe), ist oft unklar und muss von einer Ethikkommission abgewogen und entschieden werden [
28].
Umsetzung im klinischen Alltag
Historisch bedingt hat die Ernährungsmedizin als Disziplin keinen hohen Stellenwert in der Aus- und Weiterbildung von Ärzt*innen, weswegen diese Berufsgruppe selten intrinsisches Interesse an Ernährungstherapie und der Forschung auf diesem Gebiet entwickelt [
27]. Dieser Herausforderung wird nun in der Schweiz entgegengewirkt, indem die Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz (GESKES) zur Verankerung der Ernährungsmedizin in der ärztlichen Aus‑, Weiter- und Fortbildung ein Weiterbildungsprogramm für den interdisziplinären Schwerpunkt „Ernährungsmedizin“ anbietet. Mit der Etablierung von Institutionen, die einen ernährungsmedizinischen Schwerpunkt aufweisen, soll die klinische Ernährung in interdisziplinären und interprofessionellen Teams gestärkt werden, wobei insbesondere die wissenschaftlich fundierte Ernährungsmedizin gefördert werden soll [
37].
Außerdem haben viele Institutionen ein strukturelles Problem, da häufig gut ausgebildete Ernährungsberater*innen fehlen. In manchen Ländern werden diese zudem oft an die Küche angegliedert und nicht als Teil des Behandlungsteams gesehen bzw. eingesetzt [
28]. Kosten-Nutzen-Analysen, welche die Einführung eines Mangelernährungsscreenings mit anschließender individualisierter Ernährungstherapie durch ausgebildete Fachkräfte untersuchten, konnten jedoch die Kosteneffizienz nachweisen, beispielsweise in Bezug auf erniedrigte Rehospitalisierungsraten, weniger nosokomiale Infektionen und niedrigere Sterblichkeitsrate [
38]. Somit gilt es nun, die Aufmerksamkeit für das Thema Mangelernährung zu erhöhen, sowohl in den Kliniken als auch bei den zuständigen politischen Stellen.