Skip to main content

2012 | OriginalPaper | Buchkapitel

12. Ethikberatung in der Altenhilfe

Theoretische und konzeptionelle Überlegungen

verfasst von : Timo Sauer, Dr. med. Gisela Bockenheimer-Lucius, Dr. Arnd T. May

Erschienen in: Ethikberatung in der Medizin

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

Zusammenfassung

Altenpflegeheime sind keine Krankenhäuser. Das Handlungs- und Entscheidungsfeld Altenpflege verlangt von dem dort arbeitenden Personal neben den spezifischen beruflichen Fachqualifikationen ein hohes Maß an Sensibilität für die Lebenswirklichkeit alter Menschen in einer stationären Einrichtung, die sich stark von der Realität der Patienten in Krankenhäusern unterscheidet. Daraus resultiert auch die Notwendigkeit einer Differenzierung von Ethikberatung in der Altenhilfe gegenüber der Ethikberatung in der Klinik. Die besondere Vulnerabilität der betroffenen Menschen und das Altenpflegeheim als (zumeist) letzte Wohnstätte werfen in der Alltagsroutine spezifische ethische Fragen auf, die sich nicht alleine auf Fragen der Therapiebegrenzung beschränken. Inzwischen hat der erkennbare Bedarf an Ethikberatung (Bockenheimer-Lucius u. Sappa 2009) zunehmend zur Gründung von Ethikkomitees im Altenheim geführt.
Fußnoten
1
Im vorliegenden Text wird nicht zwischen Altenwohn- oder Altenpflegeheim oder zwischen stationärer oder nichtstationärer Versorgung unterschieden. Die Grundproblematik ist die gleiche: Je nach Ausprägung der Einrichtung kommt es zu einer Schwerpunktverschiebung im zu erwartenden ethischen Fall- und Themenspektrum. Ähnliches gilt für die Begriffe Altenpflege und Altenhilfe.
 
2
In Frankfurt am Main wurde im September 2006 im Franziska Schervier Altenpflegeheim ein Ethikkomitee (EKA) als Modellprojekt eingerichtet, 2008 wurde ein zweites Komitee gegründet, dessen Mitglieder aus verschiedenen Heimen der Stadt stammen. Im Herbst 2010 erhielt das Haus Schwansen in Rieseby einen Preis für die Einrichtung eines Ethikkomitees. Für einzelne Einrichtungen der Bremer Heimstiftung wurden seit 2004 ethische Fallbesprechungen durchgeführt.
 
3
Vgl. etwa Sansone (1996) zum New York City Long-Term Care Ethics Network. Inzwischen haben sich auch in Deutschland einige Träger von Einrichtungen dieser besonderen Aufgabe der Ethikberatung in der Altenhilfe gestellt und wie etwa die Marienhaus GmbH der Waldbreitbacher Franziskanerinnen ein trägerweites Ethikkomitee für die Einrichtungen der Altenhilfe eingerichtet. Vgl. auch die Übersicht bei Heinemann (2010), S. 172.
 
4
Diese Liste der möglichen Themen entspricht den durch das Frankfurter Netzwerk durchgeführten Fortbildungen. Die Impulse kamen insbesondere bei den altenpflegespezifischen Themen von den Mitarbeitern, die an den verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen hatten.
 
5
Inzwischen existiert eine Reihe an Fort- und Weiterbildungsprogrammen. Auf Basis des Curriculums Ethikberatung (Simon et al. 2005, S. 332–336) findet in Hannover und anderen Orten an insgesamt fünf Tagen ein Basismodul für „Ethikberatung in der Altenpflege“ statt. Der Fernlehrgang „Berater/in für Ethik im Gesundheitswesen“ erstreckt sich über ein Jahr. Ein weiterbildender Masterstudiengang „Angewandte Ethik“ an der Universität Münster dauert vier Semester. Weitere Universitäten bieten Masterstudiengänge an: Medizinethik (Universität Mainz); „Angewandte Ethik im Gesundheits- und Sozialwesen“ (Kath. Fachhochschule Freiburg), „Erasmus Mundus Master of Bioethics“ (Universitäten Nimegen, Leuven und Padua), „Master of Advanced Studies in Applied Ethics“ (Universität Zürich).
 
6
An dieser Stelle sei exemplarisch nur auf den Bochumer Arbeitsbogen zur medizinethischen Praxis, die Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechung und den Fragenkatalog zum Entscheidungsfindungsmodell von Tschudin hingewiesen.
 
7
EMMA (= Ethikberatung Moral Mitgestalten Altenhilfe) ist ein Gemeinschaftsprojekt zur Weiterentwicklung der Ethikberatung in der stationären Altenhilfe und wird von Arnd T. May, Gisela Bockenheimer-Lucius und Timo Sauer getragen. Vgl. http://​www.​ethikzentrum.​de/​ethikberatung/​emma/​.
 
8
Zum typischen Setting der Ethikberatung in der stationären Altenhilfe vgl. Bockenheimer-Lucius et al. (2012/in Vorb.).
 
9
Kritisch äußert sich Heinzelmann (2004) zur Anschlussfähigkeit des Begriffs von Goffman.
 
10
Kersting (1999) spricht vor diesem Hintergrund von einem „coolout“ des Personals im Sinne einer moralischen Desensibilisierung.
 
11
Richter u. Stöhr (2010) sprechen von der unerkannten „Allgegenwart von Machtstrukturen in der Pflege“.
 
12
Dieser Effekt wurde im Kontext des offenen Gesprächskreises in Frankfurt am Main oft angesprochen. Hierzu wäre es sinnvoll, quantitative oder auch qualitative Studien durchzuführen.
 
13
Hierzu arbeitet das Frankfurter Netzwerk Ethik in der Altenpflege derzeit schwerpunktmäßig.
 
14
Sozialgesetzbuch XI: „Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht“.
 
15
Siehe Hoffman (1995), S. 208: „One assumption ethics committees ought to begin with is that people have decision making capacity until proven otherwise.“
 
16
Das Frankfurter Netzwerk Ethik in der Altenhilfe wurde zunächst von der BHF-BANK-Stiftung gefördert und wird jetzt als Teil des Frankfurter Programms „Würde im Alter“ von der Stadt Frankfurt am Main unterstützt.
 
17
„Offen“ bedeutet offen für die Mitarbeiter der 40 Frankfurter Einrichtungen.
 
18
Diese Differenzierung stammt von Nikolaus Menzel, zit. nach Körtner (2008), S. 111ff.
 
19
Ley weist darauf hin, dass die Funktion der „Komplexitätsreduktion“ im Rahmen der Ethikberatung gemeinhin überschätzt wird und dass die „Entlastungsfunktion“ sich stark darauf beschränkt, dass im Rahmen der Ethikberatung überhaupt erst ein Ort zur Thematisierung von ethischen Konflikten geschaffen wird (Ley 2005, S. 309).
 
20
Friedrich Ley hat in einer umfangreichen Studie festgestellt, dass die Teilnehmer in einem Ethikkomitee ihr eigenes Engagement je nach Profession deutlich unterschiedlich beschreiben, Ärzte neigen im Rahmen der Ethikberatung zu einer „medizinrechtlichen Verengung“ moralischer Fragen, die Pflegenden verstehen den Diskurs eher im Sinne einer „Supervision“; vgl. Ley (2005), S. 308.
 
Literatur
Zurück zum Zitat AG Pflege und Ethik (Hrsg.) (2010) Essen und Trinken im Alter – mehr als Ernährung und Flüssigkeitsversorgung. Berlin AG Pflege und Ethik (Hrsg.) (2010) Essen und Trinken im Alter – mehr als Ernährung und Flüssigkeitsversorgung. Berlin
Zurück zum Zitat AWO Ostwestfalen-Lippe e.V. Projekt „Abschied leben“ (Hrsg.) (2008) Die verbleibende Zeit. Sterbebegleitung in stationären Pflegeeinrichtungen. Bielefeld AWO Ostwestfalen-Lippe e.V. Projekt „Abschied leben“ (Hrsg.) (2008) Die verbleibende Zeit. Sterbebegleitung in stationären Pflegeeinrichtungen. Bielefeld
Zurück zum Zitat Beauchamp T, Childress J (2009) Principles of biomedical ethics. 6. Auflage. Oxford Beauchamp T, Childress J (2009) Principles of biomedical ethics. 6. Auflage. Oxford
Zurück zum Zitat Bockenheimer-Lucius G (2011) Zur Problematik des „natürlichen Willens“ bei Demenzkranken. In: Haberstroh, Pantel (2011), S. 393–400 Bockenheimer-Lucius G (2011) Zur Problematik des „natürlichen Willens“ bei Demenzkranken. In: Haberstroh, Pantel (2011), S. 393–400
Zurück zum Zitat Bockenheimer-Lucius G, Dansou R, Sauer T (2012) Das Ethikkomitee im Altenpflegeheim. Theoretische Grundlagen und praktische Konzeption. Frankfurt/M. [in Vorbereitung] Bockenheimer-Lucius G, Dansou R, Sauer T (2012) Das Ethikkomitee im Altenpflegeheim. Theoretische Grundlagen und praktische Konzeption. Frankfurt/M. [in Vorbereitung]
Zurück zum Zitat Bockenheimer-Lucius G, May A (2007) Ethikberatung – Ethikkomitee in der stationären Altenhilfe (EKA). In: Ethik in der Medizin 19, S. 331–339 Bockenheimer-Lucius G, May A (2007) Ethikberatung – Ethikkomitee in der stationären Altenhilfe (EKA). In: Ethik in der Medizin 19, S. 331–339
Zurück zum Zitat Bockenheimer-Lucius G, Sappa S (2009) Eine Untersuchung zum Bedarf an Ethikberatung in der stationären Altenpflege. In: Vollmann et al. (2009), S. 107–124 Bockenheimer-Lucius G, Sappa S (2009) Eine Untersuchung zum Bedarf an Ethikberatung in der stationären Altenpflege. In: Vollmann et al. (2009), S. 107–124
Zurück zum Zitat Caplan A (1990) The morality of the Mundane: Ethical issues arising in the daily life of nursing home residents. In: Kane, Caplan (1990), S. 37–50 Caplan A (1990) The morality of the Mundane: Ethical issues arising in the daily life of nursing home residents. In: Kane, Caplan (1990), S. 37–50
Zurück zum Zitat Eicken B von, Ernst E, Zenz G (1990) Fürsorglicher Zwang. Freiheitsbeschränkung und Heilbehandlung in Einrichtungen für psychisch kranke, für geistig behinderte und für alte Menschen. Rechtstatsachenforschung. Köln Eicken B von, Ernst E, Zenz G (1990) Fürsorglicher Zwang. Freiheitsbeschränkung und Heilbehandlung in Einrichtungen für psychisch kranke, für geistig behinderte und für alte Menschen. Rechtstatsachenforschung. Köln
Zurück zum Zitat Goffman E (1973) Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten. Frankfurt/M. Goffman E (1973) Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten. Frankfurt/M.
Zurück zum Zitat Groß D, May A, Simon A (Hrsg.) (2008) Beiträge zur Klinischen Ethikberatung an Universitätskliniken. Berlin Groß D, May A, Simon A (Hrsg.) (2008) Beiträge zur Klinischen Ethikberatung an Universitätskliniken. Berlin
Zurück zum Zitat Haberstroh J, Pantel J (Hrsg.) (2011) Demenz psychosozial behandeln. Heidelberg Haberstroh J, Pantel J (Hrsg.) (2011) Demenz psychosozial behandeln. Heidelberg
Zurück zum Zitat Heinemann W (2010) Ethikberatung in der stationären Altenhilfe. Organisierte Verantwortung für ein Altern in Würde. In: Heinemann, Maio (2010), S. 159–199 Heinemann W (2010) Ethikberatung in der stationären Altenhilfe. Organisierte Verantwortung für ein Altern in Würde. In: Heinemann, Maio (2010), S. 159–199
Zurück zum Zitat Heinemann W, Maio G (Hrsg.) (2010) Ethik in Strukturen bringen. Denkanstöße zur Ethikberatung im Gesundheitswesen. Freiburg Heinemann W, Maio G (Hrsg.) (2010) Ethik in Strukturen bringen. Denkanstöße zur Ethikberatung im Gesundheitswesen. Freiburg
Zurück zum Zitat Heinzelmann M (2004) Das Altenheim. Immer noch eine totale Institution? Eine qualitative Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime. Göttingen Heinzelmann M (2004) Das Altenheim. Immer noch eine totale Institution? Eine qualitative Untersuchung des Binnenlebens zweier Altenheime. Göttingen
Zurück zum Zitat Hoffman D, Boyle P, Levenson S (Hrsg.) (1995) Handbook for nursing home ethics committees. American Association of Homes and Services for the Aging. Washington Hoffman D, Boyle P, Levenson S (Hrsg.) (1995) Handbook for nursing home ethics committees. American Association of Homes and Services for the Aging. Washington
Zurück zum Zitat Jox R (2006) Der „natürliche Wille“ als Entscheidungskriterium. Rechtliche, handlungstheoretische und ethische Aspekte. In: Schildmann et al. (2006), S. 73–90 Jox R (2006) Der „natürliche Wille“ als Entscheidungskriterium. Rechtliche, handlungstheoretische und ethische Aspekte. In: Schildmann et al. (2006), S. 73–90
Zurück zum Zitat Kane R, Caplan A (Hrsg.) (1990) Everyday ethics: Resolving dilemmas in nursing home life. New York Kane R, Caplan A (Hrsg.) (1990) Everyday ethics: Resolving dilemmas in nursing home life. New York
Zurück zum Zitat Kersting K (1999) Coolout im Pflegealltag. In: PflegGe 4 (1999), S. 53–60 Kersting K (1999) Coolout im Pflegealltag. In: PflegGe 4 (1999), S. 53–60
Zurück zum Zitat Körtner U (2008) Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder. Stuttgart Körtner U (2008) Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder. Stuttgart
Zurück zum Zitat Ley F (2005) Klinische Ethik. Entlastung durch ethische Kommunikation? In: Ethik in der Medizin 17 (2005), S. 298–309 Ley F (2005) Klinische Ethik. Entlastung durch ethische Kommunikation? In: Ethik in der Medizin 17 (2005), S. 298–309
Zurück zum Zitat May A (2008) Ethikberatung – Formen und Modelle. In: Groß et al. (2008), S. 17–30 May A (2008) Ethikberatung – Formen und Modelle. In: Groß et al. (2008), S. 17–30
Zurück zum Zitat May A, Buchholz H, Krafft A (Hrsg.) (2009) Selbstbestimmt leben, menschlich sterben, füreinander entscheiden. Münster May A, Buchholz H, Krafft A (Hrsg.) (2009) Selbstbestimmt leben, menschlich sterben, füreinander entscheiden. Münster
Zurück zum Zitat Richter K, Stöhr H (2010) „Ethik undercover“ oder die Allgegenwart von Machstrukturen in der Pflege. In: AG Pflege und Ethik (2010), S. 114–131 Richter K, Stöhr H (2010) „Ethik undercover“ oder die Allgegenwart von Machstrukturen in der Pflege. In: AG Pflege und Ethik (2010), S. 114–131
Zurück zum Zitat Sansone P (1996) The evolution of a long-term care ethics committee. In: HEC Forum 8 (1996), S. 44–51 Sansone P (1996) The evolution of a long-term care ethics committee. In: HEC Forum 8 (1996), S. 44–51
Zurück zum Zitat Sauer T (2010) Vier Seiten einer Entscheidung: Ethische Seite. In: AG Pflege und Ethik (2010), S. 24–25 Sauer T (2010) Vier Seiten einer Entscheidung: Ethische Seite. In: AG Pflege und Ethik (2010), S. 24–25
Zurück zum Zitat Sauer T, May A (2011) Ethik in der Pflege für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Berlin Sauer T, May A (2011) Ethik in der Pflege für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Berlin
Zurück zum Zitat Schildmann J, Fahr U, Vollmann J (Hrsg.) (2006) Entscheidungen am Lebensende. Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik. Münster u. a. Schildmann J, Fahr U, Vollmann J (Hrsg.) (2006) Entscheidungen am Lebensende. Ethik, Recht, Ökonomie und Klinik. Münster u. a.
Zurück zum Zitat Vollmann J, Schildmann J, Simon A (Hrsg.) (2009) Klinische Ethik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis. Kultur der Medizin, Bd. 29. Frankfurt/M., New York Vollmann J, Schildmann J, Simon A (Hrsg.) (2009) Klinische Ethik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis. Kultur der Medizin, Bd. 29. Frankfurt/M., New York
Metadaten
Titel
Ethikberatung in der Altenhilfe
verfasst von
Timo Sauer
Dr. med. Gisela Bockenheimer-Lucius
Dr. Arnd T. May
Copyright-Jahr
2012
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-642-25597-7_12

Update AINS

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.