Unter den neurodegenerativen Demenzerkrankungen prädisponiert insbesondere die frontotemporale Demenz zu moralisch normüberschreitendem und delinquentem Verhalten. 37–57 % aller Patienten mit frontotemporaler Demenz entwickeln im Erkrankungsverlauf kriminelles Verhalten [
4], während sie ein verhältnismäßig breites Spektrum an Delikten zeigen. In besonderer Häufigkeit begehen diese Patienten Diebstahl‑, Verkehrs‑, Sexual- und Gewaltdelikte [
3]. Doch auch bei der semantischen Demenz, einer diagnostischen Entität der frontotemporalen Lobärdegenerationen (FTLD) (gleichzusetzen mit der semantischen Variante der primär progressiven Aphasie; svPPA), kommt es längsschnittlich wesentlich häufiger zur Delinquenzentwicklung (21–55 %) als bei Patienten mit einer Demenz vom Alzheimer-Typ (5–12 %) [
4]. Während Patienten mit semantischer Demenz typischerweise Diebstahl- und Verkehrsdelikte verwirklichen, zeichnen sich Patienten mit Alzheimer-Demenz überwiegend durch leichtgradige Verkehrs- oder Diebstahldelikte im Rahmen einer Überforderungskriminalität bei ausgeprägteren kognitiven Defiziten aus [
3]. Klassische Beispiele sind hier das Vergessen, Rechnungen zu bezahlen, oder schuldhaft verursachte Verkehrsunfälle in unübersichtlichen Verkehrssituationen.
Eine retrospektive Kohortenstudie von Liljegren und Kollegen aus dem Jahr 2015 zeigte, dass sowohl Patienten mit frontotemporaler als auch mit semantischer Demenz in signifikant höherem Maße zu delinquentem Verhalten neigen als Patienten mit Alzheimer-Demenz [
3]. Diese Studie illustrierte außerdem, dass 14 % aller Patienten mit frontotemporaler Demenz Delinquenz als Erstsymptom aufweisen (frontotemporale Demenz 14 % vs. Alzheimer-Demenz 2 %;
p < 0,001) und dass diese Patienten im Vergleich zu Patienten mit Alzheimer-Demenz signifikant häufiger zu Gewalttätigkeit neigen (frontotemporale Demenz 6,4 % vs. Alzheimer-Demenz 2 %;
p = 0,003). Eine weitere retrospektive Kohortenstudie von Liljegren und Kollegen aus dem Jahr 2019 zeigte, dass nicht nur delinquentes, sondern auch sozial inadäquates Verhalten bei Patienten mit frontotemporaler Demenz signifikant häufiger ist als bei Patienten mit Alzheimer-Demenz (frontotemporale Demenz 74,8 % vs. Alzheimer-Demenz 56,4 %;
p = 0,004; [
5]). Darüber hinaus zeigte diese Studie auch, dass über 80 % der Patienten mit frontotemporaler Demenz nach einem Erstdelikt mindestens ein weiteres begehen. Eine Besonderheit dieser Untersuchung war, dass die klinischen Diagnosen der Patienten post mortem neuropathologisch bestätigt wurden. In diesem Rahmen beschrieben die Autoren eine Assoziation zwischen kriminellem Verhalten bei Patienten mit frontotemporaler Demenz mit Non-Tau-Pathologie. Diesbezüglich ist jedoch anzumerken, dass in der frontotemporalen Demenzgruppe mit Tauopathie auch andere Tauopathien wie kortikobasale Degenerationen (CBD) und Fälle mit progressiven supranukleären Blickparesen (PSP) vertreten waren, die primär durch eine mittelliniennahe Neurodegenration und weniger durch eine präfrontale Beteiligung charakterisiert sind. Die Autoren schlussfolgerten, dass Delinquenz wahrscheinlich weniger eine Funktion der Art, sondern vielmehr der Lokalisation des abgelagerten Proteins ist. Diehl-Schmidt und Kollegen zeigten anhand einer Angehörigenbefragungsstudie ebenfalls, dass sämtliche Deliktarten bei Patienten mit frontotemporalen Lobärdegenerationen häufiger vorkommen als bei Patienten mit Alzheimer-Demenz [
22]. Interessanterweise fanden die Autoren keinen Häufigkeitsunterschied hinsichtlich delinquenten Verhaltens zwischen Patienten mit frontotemporaler und semantischer Demenz. Dies ist am ehesten dadurch erklärbar, dass sich die semantische Demenz, die klinisch primär durch Benennstörungen und den progredienten Verlust von Objektwissen charakterisiert ist, histopathologisch primär durch eine Neurodegeneration des anterioren Temporallappens und damit auch der Amygdala, einem Zentrum für soziale Kognition, auszeichnet [
16]. Dies lässt annehmen, dass delinquentes Verhalten bei Patienten mit semantischer Demenz am ehesten als Folge sozialkognitiver Defizite zu werten ist. Der einzige soziodemografische Unterschied zwischen FTLD-Patienten mit und ohne kriminellem Verhalten bestand in der untersuchten Kohorte in der Erkrankungsdauer, was als weiterer Hinweise auf eine hohe längsschnittliche Prävalenz delinquenten Verhaltens im Rahmen frontotemporaler Demenzerkrankungen gedeutet werden kann. Mendez und Kollegen befragten Patienten mit frontotemporaler Demenz zu verwirklichten Delikten [
10] und ermittelten, dass die Patienten mit frontotemporaler Demenz in aller Regel um ihr Vergehen wissen und auch angeben, es zu bereuen, jedoch ohne dass adäquate Emotionen wie Scham oder Reue greifbar werden. Die Autoren schlussfolgerten, dass delinquente Patienten mit frontotemporaler Demenz zwar über ein erhaltenes faktisches Schuldbewusstsein verfügen, jedoch gravierende Beeinträchtigungen des emotionalen Schuldbewusstseins zeigen. Dieses Phänomen verdeutlicht die Herausforderung für forensisch-psychiatrische Sachverständige bei der Konfrontation mit Gutachtenprobanden, die formal uneingeschränkt einsichtsfähig sind, Delikte jedoch im Rahmen von Wesensänderungen als Krankheitssymptom begangen haben und keine adäquate Emotion wie Reue oder Scham zeigen. Die längsschnittliche Rekonstruktion von – verglichen mit dem prämorbiden Ausgangsniveau verschiedenen – delinquenten Verhaltensbereitschaften und die Diskussion daraus resultierender Fähigkeitsbeeinträchtigungen mit Tatbezug entsprechend §§ 20, 21 StGB, v. a. der tatbezogenen exekutiven Steuerungsfähigkeit, sind demnach wesentliche Aufgaben des forensisch-psychiatrischen Sachverständigen, wozu das Wissen um aktuelle Konzepte und Kriterien von Demenzerkrankungen unverzichtbar ist.