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Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde 9/2018

Open Access 15.06.2018 | Pädiatrie | Leitthema

Angewandte Genetik in der Pädiatrie

verfasst von: PD Dr. med. S. B. Wortmann, PhD, H.‑C. Duba

Erschienen in: Monatsschrift Kinderheilkunde | Ausgabe 9/2018

Zusammenfassung

Mehr als in anderen Fachgebieten gehören angeborene Erkrankungen zum Alltag des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin. Die zunehmende Verfügbarkeit der Next Generation Sequencing-Methoden in den letzten 5 Jahren zeigt, dass die meisten dieser Erkrankungen genetischen bzw. monogenen Ursprungs sind, und eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen in Diagnostik und Therapie. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über die Bedeutung genetischer Erkrankungen in der Pädiatrie, erläutert die Möglichkeiten, aber auch Limitationen moderner genetischer Diagnostik wie der Exomsequenzierung und ihre Auswirkungen auf die tägliche Patientenversorgung.
Hinweise

Redaktion

R. Kerbl, Leoben
K. Schmitt, Linz
Die Pädiatrie ist das breiteste und dynamischste Fachgebiet der gesamten Medizin. Im Mittelpunkt steht das Kind mit seiner Familie von der Geburt bis zum Erwachsenenalter. Mehr als in anderen Fachgebieten spielen angeborene Erkrankungen eine Rolle. Die zunehmende Verfügbarkeit der „Next Generation Sequencing“(NGS)-Methoden in den letzten 5 Jahren zeigt, dass die meisten dieser Erkrankungen genetischen bzw. monogenen Ursprungs sind, und eröffnet ungeahnte Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen in Diagnostik und Therapie.

Hintergrund

Bedeutung genetischer Erkrankungen in der Pädiatrie

Die Bedeutung genetischer bzw. monogener Erkrankungen zeigt sich bereits weit vor der Geburt eines Kindes, da genetische Erkrankungen die häufigste Ursache für Fehlgeburten sind. Studien ergeben, dass ca. 30 % aller Konzeptionen vor der Implantation und weitere 30 % zwischen Implantation und der 4. Schwangerschaftswoche verloren gehen [14]. Untersuchungen der zugrunde liegenden Ursachen beschreiben schwere genetische Erkrankungen in den betroffenen Feten, die mit dem extrauterinen Leben nicht vereinbar sind, wie z. B. numerische Chromosomenaberrationen (Aneuploidie, [3]). Monogenetische Erkrankungen werden ebenfalls als Ursache für Spätaborte beschrieben (z. B. Meckel-Gruber-Syndrom, Osteogenesis imperfecta Typ II), und auch in Totgeburten sind angeborene Fehlbildungen häufig. So finden sich beispielweise bei 10 % der Betroffenen Herzfehler [10].
Genetische bzw. monogene Erkrankungen verursachen 35 % aller Todesfälle bei Säuglingen
Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin/Jugendheilkunde begegnet Kindern mit genetischen bzw. monogenen Erkrankungen in allen Altersstufen, allerdings ist die Erstpräsentation häufig in der Neugeborenenperiode (z. B. angeborene Stoffwechselerkrankungen, Herzfehler im Rahmen von syndromalen Erkrankungen wie Trisomie 21) oder im Kleinkindalter (z. B. genetisch bedingte Entwicklungsverzögerung). Generell zählen genetische bzw. monogene Erkrankungen zu den der häufigsten Gründen für pädiatrische Krankenhausaufenthalte und verursachen 35 % aller Todesfälle bei Kindern im Alter unter einem Jahr [4].
Die meisten der pädiatrischen genetischen bzw. monogenen Erkrankungen sind selten und treten definitionsgemäß bei weniger als einem von 2000 Menschen auf. Auch wenn sie aufgrund einer häufig damit verbundenen eingeschränkten Reproduktionsfähigkeit in der Gesamtbevölkerung einen nur geringen Anteil darstellen, betreffen sie in ihrer Gesamtheit dennoch viele Kinder und unterstreichen damit die Bedeutung genetischer Erkrankungen in der täglichen pädiatrischen Patientenversorgung. Der zunehmende Stellenwert genetischer Untersuchungen in der Pädiatrie impliziert, dass das Wissen darüber eine entscheidende Voraussetzung für die Tätigkeit des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin/Jugendheilkunde geworden ist. Immer dann, wenn sich Anhaltspunkte für eine genetisch bedingte Erkrankung ergeben, haben Betroffene bzw. seine Sorgeberechtigen das Recht, über die Möglichkeit der genetischen Beratung und Diagnostik aufgeklärt zu werden. Sie ist Teil der Krankenversorgung, auch wenn die Kostenübernahme für die NGS-Methoden durch die Krankenversicherungen nicht immer gewährleistet ist.

Formen genetischer Erkrankungen und Vererbungsmodi

Das menschliche Genom umfasst ca. 20.000 Gene, die sich auf 22 Chromosomen (Autosomen) und die 2 Geschlechtschromosomen des Zellkerns sowie die in hoher Kopienanzahl vorliegende ringförmige DNA der Mitochondrien verteilen. Die Ursachen genetischer Erkrankungen rangieren von der Substitution, Deletion oder Duplikation eines einzelnen Basenpaars („single nucleotide variants“, SNV) in einzelnen Genen (monogene Erkrankungen) über die veränderte Kopienzahl („copy number variations“, CNV) kleinerer oder größerer Chromosomenabschnitte bis hin zu veränderten Chromosomenanzahlen (z. B. Trisomie 21). Neben diesen eher „einfachen“ strukturellen Veränderungen gibt es auch kompliziertere genetische Veränderungen wie z. B. intragenische Duplikationen (z. B. Rett-Syndrom), intragenische Expansionen von Basentripletts (z. B. fragiles X‑Syndrom, Friedreich-Ataxie, myotone Dystrophie) oder uniparenterale Disomien (beide Chromosomen eines homologen Chromosomenpaars stammen von einem Elternteil, z. B. Prader-Willi‑/Angelmann-Syndrom). Eine weitere Besonderheit stellen Mutationen in der mitochondrialen DNA (mtDNA) dar. In einer Zelle können Kopien mit und ohne Mutationen vorliegen (Heteroplasmie). Erst, wenn ein bestimmter Schwellenwert überschritten wird und ein hoher Anteil von mutierten mtDNA-Kopien vorliegt, kommt es zum mitochondrialen Funktionsverlust und zum Auftreten von Krankheitssymptomen.
In der Regel liegen alle genetischen Informationen bzw. ihre Veränderung in allen Körperzellen vor, allerdings kann sich die Veränderung auch nur in einem Teil der Zellen finden (genetisches Mosaik, z. B. Turner-Syndrom, epileptische Enzephalopathie [25]). Genetische Veränderungen können u. U. nur im betroffenen Gewebe (z. B. im Muskel bei mitochondrialer Myopathie), nicht aber im Blut (korrekter der Leukozyten-DNA) vorliegen. Letzteres gilt auch für Mutationen in Tumoren, wobei auf dieses Thema im vorliegenden Beitrag nicht näher eingegangen wird. Bei weiblichen Patienten ist außerdem die X‑Chromosom-Inaktivierung zu bedenken. Bei ungleicher (Skewed‑)X-Chromosom-Inaktivierung wird immer das gesunde X‑Chromosom jeder Zelle deaktiviert und so können auch bei weiblichen Patienten X‑Chromosom-gebundene Erkrankungen auftreten (z. B. Pyruvat-Dehydrogenase-Komplex[PDHc]-Defizienz aufgrund von PDHA1-Mutationen).
Genetische Erkrankungen können vererbt werden (autosomal-dominant, autosomal-rezessiv, X‑Chromosom-gebunden, maternal etc.), oder die Veränderungen können im Betroffenen neu entstehen (de novo). Die NGS-Techniken revolutionieren gerade viele grundsätzliche Einsichten in die menschliche Genetik. Zum Beispiel konnte durch Sequenzierung der DNA-Proben von Eltern-Kind-Trios gezeigt werden, dass genetischen Mutationen, die einer Intelligenzminderung/Entwicklungsverzögerung oder einer Epilepsie zugrunde liegen, häufig autosomal-dominante Neumutationen (de novo) sind. Das erklärt auch, weshalb diese Erkrankungen sich trotz oft stark reduzierter Fertilität einer evolutionären Selektion widersetzt haben [22, 30].
Aktuell (Stand 07.04.2018) sind in der Datenbank Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM, www.​omim.​org) 5222 Krankheitsbilder aufgeführt, für die eine molekulargenetische Basis als bekannt angenommen werden kann. Davon folgen 4863 einem autosomal-dominanten oder autosomal-rezessiven Erbgang, 324 werden X‑Chromosom-gebunden, 4 Y‑Chromosom-gebunden und 31 mitochondrial vererbt. Monatlich wurden im Jahr 2017 durchschnittlich 47 neue „Gen-Krankheitsbild-Kombinationen“ in der OMIM-Datenbank eingetragen (https://​www.​omim.​org/​statistics/​update). Für 1584 Erkrankungen liegt eine phänotypische Beschreibung vor, mit jedoch unbekannter molekularer Basis; für weitere 1769 wird eine solche vermutet.

Diagnostik

Klassische genetische Untersuchungsmethoden

Lange Zeit bestand die genetische Routinediagnostik aus 2 grundsätzlich gegensätzlichen Untersuchungsmethoden (Tab. 1): zielgerichtete hochauflösende Einzelgenanalyse und niedrigauflösende zytogenetische Tests. In der Einzelgenanalyse wird, basierend auf der phänotypischen Analyse des untersuchenden Arztes, ein einzelnes Gen für die molekulargenetische Untersuchung mithilfe der Sanger-Sequenzierung ausgewählt und dann Base für Base untersucht. Die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose beruht bei dieser Methode also gänzlich auf der Fähigkeit des Arztes, eine korrekte klinische Diagnose zu stellen und das richtige Zielgen auszuwählen. Daher sind Einzelgenanalysen sehr gut geeignet, um klinisch gut abgegrenzte Erkrankungen zu diagnostizieren, für die krankheitsverursachende Varianten nur in einem oder einigen wenigen Genen vorkommen. Beispiele hierfür sind zystische Fibrose (biallelische Varianten im CTFR-Gen) oder Duchenne-Muskeldystrophie (monoallelische Varianten im X‑Chromosom-gebundenen DMD-Gen). Den gegensätzlichen Ansatz verfolgt die Karyotypisierung (5- bis15-Mbp-Auflösung), ein niedrigauflösender „whole genome approach“, der genutzt wird, um Monosomien, Trisomien oder andere große chromosomale Imbalancen zu diagnostizieren. Zur Entdeckung kleinerer CNV eignet sich die Methode der genomischen Microarrays ebenso (Auflösung ca. 50–100 kb). Hiermit lassen sich CNV an jeder Position im Genom entdecken, einschließlich der rekurrenten Varianten, assoziiert mit klassischen (z. B. Angelmann‑, Williams-Beuren‑, Smith-Magenis-Syndrom) oder neueren Mikrodeletions‑/Mikroduplikationssyndromen [29].
Tab. 1
Genetische Routinemethoden
 
Lichtmikroskopische Chromosomenanalyse
Karyotypisierung
Microarray
Einzelgenanalyse
Gen-Panel
WES
WGS
Auflösung
Gesamtes Chromosom
5–15 Mbp
50–100 Mbp
1 bp
1 bp
1 bp
1 bp
Anzahl getesteter Loci
Ca. 500
0,05–2 Mio.
1
50–1000
20.000
≥20.000
Art gefundener Varianten
Aneuploidie, Polyploidie
Varianten >5 Mbp
„Copy number variations“ (CNV)
Punktmutationen, kleine Insertionen bzw. Deletionen
Varianten in selektierten Krankheitsgenen
Varianten in codierenden Regionen
Mehrheit aller Varianten
Anzahl gefundener Varianten/Person
0 oder 1
0 oder 1
10 bis mehrere 100
0 oder 10
10 bis mehrere 100
Ca. 30.000
4–5 Mio.
Diagnostische Ausbeute
Niedrig
Abhängig von Verdachtsdiagnose
Hoch
WES „whole exome sequencing“, WGS „whole genome sequencing“
Mit diesem Ansatz ist die Aufklärungsrate jedoch niedrig, da zytogenetische Tests nur ca. 10 % aller pädiatrischen Patienten mit Verdacht auf eine seltene genetische Erkrankung zu einer Diagnose führen [24].

Moderne genetische Untersuchungsmethoden

Prinzip

Die NGS-Methoden haben die genetische Diagnostik in den letzten Jahren revolutioniert, da sie die gleichzeitige Sequenzierung sehr vieler Gene ermöglichen (Tab. 1; [29]). Sie geben dem anfordernden Arzt die Wahl, mehrere Gene gleichzeitig (z. B. Epilepsie-Panel) oder aber gleich das gesamte Exom (alle proteincodierenden [exomischen] Genabschnitte, „whole exome sequencing“, WES) oder das gesamte Genom (die vollständige DNA-Sequenz, „whole genome sequencing“, WGS) des Patienten zu sequenzieren und nach krankheitsverursachenden Varianten zu suchen.
Diese Methoden eignen sich ausgezeichnet zur Abklärung diverser monogener Krankheitsbilder mit nichtunterscheidbaren, unspezifischen klinischen Phänotypen, denen Veränderungen in diversen Genen zugrunde liegen können. Beispiele hierfür sind mitochondriale Erkrankungen sowie unklare Intelligenzminderung oder Entwicklungsverzögerung und epileptische Enzephalopathie (Tab. 3).
Next generation sequencing ermöglicht gleichzeitige Sequenzierung sehr vieler Gene
Die Suche in der OMIM-Datenbank mit dem Begriff „developmental delay“ liefert aktuell (April 2018) 969 Einträge für Krankheitsbilder, in deren phänotypischer Beschreibung der Begriff Entwicklungsverzögerung vorkommt und für die der zugrunde liegende genetische Defekt bekannt ist. Mithilfe der WES ist es möglich, SNV in den codierenden Bereichen (Exone) aller ca. 20.000 menschlichen Gene sowie der mtDNA zu finden. Ebenso können CNV jeglicher Größe entdeckt werden [21]. Die Frage, ob bei allen Kindern mit unklarer Entwicklungsverzögerung zunächst ein Array durchgeführt werden sollte, bevor auf eine WES oder WGS übergegangen wird, lässt sich nicht pauschal beantworten, sondern hängt von den exakten technischen Gegebenheiten der verwendeten Testmethoden und der Erfahrung des Labormitarbeiters und der Auswerters ab [21].

Gen-Panel, Whole exome sequencing  oder Whole genome sequencing

Das oben Gesagte gilt für die Entscheidung zwischen Gen-Panel, WES oder WGS (Abb. 1). Die Methoden unterscheiden sich bezüglich Anzahl der sequenzierten Zielregionen, Auflösung bzw. Sequenziertiefe, aktuellen Entwicklungen von Auswertealgorithmen und Preis für die Prozedur. Gen-Panels sequenzieren eine Auswahl bekannter Gene, in denen Varianten beschrieben sind, die ursächlich mit einer Erkrankung in Verbindung gebracht wurden (Krankheitsgene), mit hoher Auflösung und garantieren eine gute Abdeckung aller Bereiche von Interesse. Sie sind insofern limitiert, da sie nur die Gene umfassen, die zum Zeitpunkt der Panel-Erstellung als Krankheitsgene bekannt waren. Betrachtet man, dass allein die „deciphering developmental disorders(DDD)-study“ 27 Gene erstmals mit Epilepsie assoziierte (als Krankheitsgen definierte), ist auch hier das Risiko groß, Diagnosen „zu verpassen“ [32]. Je unspezifischer der Phänotyp ist, desto größer ist meist die Anzahl der Krankheitsgene.
Mithilfe der WGS werden sowohl die Exon- als auch die Intron-, sowie intergene Abschnitte der menschlichen DNA untersucht. Da kein Anreicherungsschritt notwendig ist, ist die Datengenerierung schneller als bei der WES, die Herausforderung ist jedoch die damit verbundene Datenanalyse. Die 2 × 3 Mrd. Basenpaare eines menschlichen Genoms (mütterliches und väterliches Genom) enthalten ca. 4–5 Mio. Varianten/Person. Mithilfe geeigneter Filter muss hieraus die krankheitsverursachende Mutation isoliert werden. Da die Exomsequenzierung momentan zeit- und kostengünstiger ist, hat sie sich bisher als Standardmethode etabliert.

Whole exome sequencing

Grundlegende technische Aspekte.
Die WES wird stets häufiger in der klinischen Routine eingesetzt, die Methode wurde ausführlich in der Monatsschrift Kinderheilkunde beschrieben [9]. Hierzu werden ca. 3–5 ml Ethylendiamintetraessigsäure(EDTA)-Blut (bei Säuglingen genügen 2 ml) benötigt. Die DNA wird aus Leukozyten extrahiert und zerkleinert. Die fragmentierten DNA-Abschnitte, die codierende (Exon‑)Sequenzen enthalten, werden an komplementäre Sequenzen gebunden. Die nichtcodierende Intron-DNA wird ausgewaschen. Die angereicherten Exon-DNA-Fragmente werden vervielfältigt und parallel sequenziert. Nach Abschluss der Sequenzierung werden Millionen dieser „reads“ mit der Referenzsequenz verglichen und ihrem Platz im Genom zugordnet. Um Mutationen von technischen Artefakten (falsch positive Varianten) unterscheiden zu können, ist eine Mehrfachsequenzierung jeder Sequenzposition notwendig. Eine 20‑fache Mindestabdeckung von 98–99 % aller Exone wird in der Regel angestrebt. Die schließlich vorliegende Konsensussequenz jeder einzelnen Sequenzposition dokumentiert Abweichungen von der Referenzsequenz. Die Abweichungen werden als Varianten bezeichnet. Im Mittel finden sich bei jedem Menschen ca. 30.000 Varianten in den Exons bzw. an den Exon-Intron-Grenzen. Die Mehrzahl dieser Varianten ist nicht krankheitsrelevant; es bedarf daher einer Reihe von Filterschritten, um eine einzige pathogene Variante für eine monogene Erkrankung aufzurufen.
Auswertung: von 30.000 Varianten zur Mutation.
WES-Daten werden weltweit nach ähnlichen Algorithmen ausgewertet.
Die Datenfilterung beruht dabei auf 2 Grundannahmen: Krankheitsverursachende Varianten führen zu Proteinveränderungen und sind in der Gesamtbevölkerung selten. Hierzu werden alle Varianten mit verschiedenen Datenbanken (z. B. „single nucleotide polymorphism database“ [dbSNP], hausinterne Datenbanken) abgeglichen. Eine entscheidende Rolle spielen die öffentlich zugänglichen Datenbanken Exome Aggregation Consortium (ExAC; exac.broadinstitute.org) und Genome Aggregation Database (GnomAD; gnomad.broadinstitute.org), die aktuell zusammen mehr als 180.000 WES-Datensätze und mehr als 15.000 WGS-Datensätze gesunder Kontrollpersonen enthalten. Durch Abgleich mit diesen Datenbanken können Varianten herausgefiltert werden, die in der gesunden Normalbevölkerung bisher nicht bzw. selten (Allelfrequenz <1 % bei autosomal rezessiven, <0,1 % bei autosomal dominanten Erkrankungen) vorkommen.

„Klinische Exomanalyse“

Im Rahmen der Datenanalyse wird auch überprüft, ob sich Varianten in bekannten OMIM-gelisteten Krankheitsgenen finden. Solche Daten sind in der ClinVar-Datenbank (www.​ncbi.​nlm.​nih.​gov/​clinvar/​) und der Human-Gene Mutation Database (HGMD, www.​gmd.​cf.​ac.​uk/​ac/​index.​php) abrufbar. Ist eine Variante hier als krankheitsauslösend beschrieben, wird sie als pathogen eingestuft und berichtet (Tab. 2). Häufig findet sich nicht passgenau die betreffende Variante des Patienten, sondern eine bisher unbekannte Variante in einem Krankheitsgen. Dann wird mithilfe von Software-Programmen (SIFT [13], Polyphen [1], CADD [11]) eingeschätzt, ob die betreffende Variante die Proteinfunktion beeinträchtigt. Abhängig von der Einschätzung wird diese Variante als wahrscheinlich pathogen oder als Variante unklarer Signifikanz (VUS) berichtet. Durch ergänzende funktionelle Untersuchungen z. B. in Fibroblasten und/oder erneute/erweiterte Phänotypisierung des Patienten kann eventuell der Nachweis erbracht werden, dass es sich um eine krankheitsverursachende Variante als Mutation handelt.
Tab. 2
Variantenklassifikation
ACMG-Kategorie
Klassifikation
Beschreibung
5
Benigne (entsprechend „sehr geringe Wahrscheinlichkeit“)
Varianten in jeglichen Genen, die auch in der gesunden Gesamtbevölkerung häufig vorkommen
4
Wahrscheinlich benigne (entsprechend „geringe Wahrscheinlichkeit“)
Beispielsweise synonyme Varianten in bekannten Krankheitsgenen, die weder die Proteinstruktur noch das Spleißen beeinflussen oder Intron-Varianten
3
Variante unklarer Signifikanz (VUS)
Gruppe I: tendenziell benigne; Gruppe II: ohne Tendenz; Gruppe III: tendenziell pathogen
Beispielweise Varianten, die die Proteinstruktur beeinflussen, wobei der Einfluss auf die Proteinfunktion aber unsicher ist oder Varianten in einem Krankheitsgen, das nicht zum Phänotyp des Patienten passt, oder Varianten in einem Kandidatengen
2
Wahrscheinlich pathogen (90–99 %, entsprechend „hohe Wahrscheinlichkeit“)
Nicht vorbeschriebene, aber wahrscheinlich pathogene Variante in einem bekannten Krankheitsgen
1
Pathogen (>99 %, entsprechend „sehr hohe Wahrscheinlichkeit“)
Als pathogen bekannte (publizierte) Variante in einem Krankheitsgen
ACMG American College of Medical Genetics
Oben genannte Schritte werden sowohl unter Annahme eines autosomal-dominanten, eines autosomal-rezessiven, eines X‑Chromosom-gebundenen und eines mitochondrialen Erbgangs durchgeführt. Desweiteren erfolgt eine gezielte Analyse nach Sequenzduplikationen und Deletionen (CNV-Analyse). Falls möglich, wenn Eltern-Kind-Trio-Daten vorliegen, wird eine de novo-Mutationssuche angeschlossen. Generell ist eine Trio-WES leichter auszuwerten, da die elterlichen Daten verfügbar sind und sofort sichtbar ist, ob z. B. 2 Varianten beim Kind auch tatsächlich biallelisch vorliegen. Dieser Zeitaspekt sollte insbesondere bei kritisch kranken Kindern berücksichtigt werden.
Die „klinische Exomanalyse“ beschränkt sich auf bekannte Krankheitsgene
Die Gesamtheit oben genannter Datenanalyse wird häufig als „klinische Exomanalyse“ bezeichnet, da sie sich auf bekannte Krankheitsgene beschränkt. Finden sich hiermit keine Varianten, die ursächlich mit dem Phänotyp des Patienten in Zusammenhang gebracht werden können, folgt die Suche nach potenziell pathogenen Varianten in allen Genen. Erneut wird unter Zuhilfenahme genannter Datenbanken und Software-Programme nach seltenen, proteinverändernden Varianten gesucht.
Hierzu ein Beispiel: In der Trio-WES eines Kleinkinds mit der klinischen Diagnose eines Leigh-Syndroms (Laktatacidose, Epilepsie, bilaterale Basalganglienveränderungen im MRT) finden sich 2 seltene Funktionsverlustvarianten in einem Gen, das für eine Untereinheit des mitochondrialen Komplexes I der Atmungskette codiert. Bisher sind allerdings noch keine Patienten mit Mutationen in diesem Gen beschrieben. Beide Elternteile sind je Träger einer Variante, womit eine Compound-Heterozygotie beim Kind bestätigt wird. Daraufhin folgt die funktionelle Bestätigung. In Fibroblasten des Patienten wird zunächst ein Komplex-I-Mangel nachgewiesen. Nachfolgend werden die Zellen mithilfe lentiviraler Transfektion mit der fehlerlosen (Normal‑)Variante des betroffenen Gens „ausgestattet“, und es wird gezeigt, dass die Komplex-I-Aktivität wiederhergestellt wird. Hiermit ist sowohl die Pathogenität der Variante nachgewiesen als auch der Bezug zum Phänotyp hergestellt.
Häufig ist eine funktionelle Bestätigung nicht möglich, und der Nachweis der Pathogenität wird über die Tatsache geführt, dass sich mehrere Patienten mit sowohl dem gleichen Phänotyp als auch mit Varianten im gleichen Gen finden. Auch hier gibt es internetbasierte Plattformen (z. B. www.​genematcher.​org), die es Diagnostikern ermöglicht, miteinander in Kontakt zu treten und Daten auszutauschen, wenn beide Parteien Patienten mit Varianten in einem bisher nichtbeschriebenen Krankheitsgen gefunden haben.

Diagnostische Ausbeute

Durchschnittliche Raten klinisch-genetischer Diagnostik bei typischen pädiatrischen Indikationsstellungen sind in Tab. 3 zusammengefasst. Hierbei fällt auf, dass die diagnostische Ausbeute zwar im Vergleich zur Prä-NGS-Ära deutlich höher, allerdings weit entfernt von 100 % ist. Hierbei spielen diverse Faktoren eine Rolle. Prinzipiell können Varianten in Genabschnitten liegen, welche durch WES nicht abgedeckt werden. Das betrifft generell Introne, je nach Sequenzierqualität ca. 2 % aller Exone und z. B. Regionen, die reich an CpG-Dinukleotiden (Desoxycytidin, Phosphorsäure, Desoxyguanosin in 5’→3’-Richtung) sind. Des Weiteren werden bestimmte Varianten (z. B. Trinukleotid-Repeats) mit der gängigen Sequenzier-Methode nicht detektiert; auch ist die Methode z. B. ungeeignet, die Kopienzahlbestimmungen der SMN1- und SMN2-Gene vorzunehmen, sodass eine vorliegende spinale Muskelatrophie (SMA) nicht diagnostiziert werden kann. Außerdem ist von ca. 70 % der Gene des Menschen immer noch keine Funktion bekannt (oder ihnen wurde eine falsche Funktion zugeordnet), und Varianten können in diesen Genen falsch interpretiert werden. Eine jährliche Reanalyse der Daten ist daher sinnvoll [18]. Des Weiteren ist es schwierig, heterozygote Varianten als pathogen einstufen, weshalb es bei Verdacht auf Krankheiten (Entwicklungsverzögerung, Epilepsie), die häufig durch heterozygote de novo Varianten verursacht werden, sinnvoll ist, DNA von den Eltern-Kind-Trios zu sequenzieren. Eine weitere Herausforderung stellt dar, dass bei einer nichtgeringen Anzahl von Patienten mehrere monogene Krankheiten parallel und somit ein gemischter Phänotyp vorliegen [2].
Tab. 3
Typische pädiatrischen Indikationsstellungen für genetische Diagnostik
Typische pädiatrisches Krankheitsbild
Geeignete genetisch-diagnostische Methode
Diagnoserate (Next-generation-sequencing-Methode)
Verminderte Sehfähigkeita
Gen-Panel
51 % (48 % Gen-Panel, zusätzlich 2 % WES bei negativem-Gene-Panel; [8])
Schwerhörigkeit/Taubheit
Gen-Panel
57 % (30 % Einzelgenanalyse, 39 % WES; [6])
Intelligenzminderung, isoliert
Trio-WES
Kumulativ 42 % (11,6 % Array, 24 % WES nach negativem Array, 26 % WGS nach negativem Array und negativer WES; [5])
Epileptische Enzephalopathie
Trio-WES
32,5 % WES; [28]
Entwicklungsstörung
Trio-WES
27 % Array plus Trio-WES [32]
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Abhängig von Phänotyp (z. B. Karyogramm bei V. a. Trisomie 21, Array bei V. a. Mikrodeletionssyndrom, Trio-WES bei V. a. RASopathie wie z. B. Noonan-Syndrom)
WES 8,4 % [23]
Mitochondriale Erkrankungen
(Trio‑)WES
31 % WES (eigene Daten)
Vital bedrohter Säugling (<100 Tage alt)
Trio-WES
26 % Karyotypisierung und/oder Einzelgenanalyse [16]; 37 % WES, WGS, [17]; 57 % WGS, [31]
Klein‑/Großwuchs
Abhängig vom Phänotyp (z. B. Karyogramm bei V. a. Turner-Syndrom, z. B. methylierungssensitive PCR bei V. a. Prader-Willi-Syndrom etc.)
36 % Trio-WES [7]
V. a. neurometabolische Erkrankung
WES
68 % WES [27]
Erhöhte Blutungsneigung
Einzelgenanalyse gemäß Gerinnungsanalyse
Kardiovaskuläre Erkrankungen
Je nach Phänotyp Array (z. B. bei V. a. velokardiofaziales Syndrom oder Williams-Beuren-Syndrom), (Trio)-WES bei Kardiomyopathie, Einzelgenanalyse bei V. a. Marfan-Syndrom
Immundefekt/Neutropenie
Abhängig vom Immunstatus, Gen-Panel oder (Trio)-WES
Metabolische Entgleisung (Intoxikationsbild/Hyperammonämie), Hypoglykämie
Einzelgenanalyse gemäß Metabolitenprofil
Akutes Leberversagen
(Trio‑)WES (nach Ausschluss infektiöser/metabolischer Ursachen)
Auffälliges Neugeborenenscreening
Einzelgenanalyse gemäß Metabolitenprofil bzw. endokrinologischer Befunde
Intersexuelles Genitale
Chromosomenanalyse
Angeborene Fehlbildungen, Dysmorphien, Fehlbildungen des Skeletts, der Organe etc.
Abhängig von Phänotyp
aEinschließlich retinaler Veränderungen, Katarakt, Optikusatrophie etc.
PCR „polymerase chain reaction“, WES „whole exome sequencing“, WGS „whole genome sequencing“

„Garbage in, garbage out“

Die Kenntnis dieser technischen Limitationen ist sehr wichtig, nicht nur, um den richtigen ersten diagnostisch-genetischen Schritt zu setzen, aber auch um bei einer negativen WES den nachfolgenden diagnostischen Schritt auszuwählen. An dieser Stelle soll ebenfalls darauf hingewiesen sein, dass die Qualität der Befundung jedes diagnostischen Tests von der Qualität der Fragestellung und den zur Verfügung gestellten Informationen in der Anforderung abhängt. In der Informatik wurde hierfür der Begriff „garbage in, garbage out“ geprägt.
Als letzter Aspekt soll nicht unerwähnt bleiben, dass betroffene Kinder nicht selbst in die Untersuchung einwilligen bzw. diese ablehnen können. Damit ergibt sich eine zusätzliche Verantwortung für den betreuenden Arzt und es sollte darüberhinaus bedacht werden, dass im Rahmen von NGS-Untersuchungen nicht behandelbare, sich erst im höheren Erwachsenenalter manifestierende Erkrankungen als Nebendiagnosen auffallen können.

Zusammenarbeit zwischen Pädiatrie und Humangenetik

Das Wissen über die Herausforderungen und Limitierungen genomweiter Analysen und die korrekte Aufklärung des Patienten sind ein nicht zu unterschätzender Teil der genetischen Beratung und Diagnostik. Dies erfordert die enge Zusammenarbeit zwischen dem Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin/Jugendheilkunde, dem Facharzt für Humangenetik und dem genetischen Labor.

Von der Diagnose zur Behandlung

Die Diagnose ist das primäre Ziel eines jeden Arztbesuchs, erst darauf basierend kann die korrekte Behandlung erfolgen. Das klingt banal, ist aber auch in der „NGS-Ära“ immer noch richtig. Exomdiagnosen galten lange als teuer und wenig erfolgsversprechend. Verbesserte Sequenzmethoden, Auswerte-Programme und umfangreiche Datenbanken haben das Bild inzwischen geändert. Das Primat der Diagnose bei der Versorgung von Patienten mit dem Verdacht auf eine monogene Erkrankung steht außer Frage. Eine korrekte, genetische Diagnose validiert den klinischen (biochemischen, radiologischen etc.) Phänotyp des Patienten und gibt ihr einen Namen. Für Eltern von Kindern mit Intelligenzminderung konnte gezeigt werden, dass eine Diagnose v. a. unter den folgenden Gesichtspunkten wichtig war. Die Diagnose bestätigte die Eltern darin, dass mit dem Kind „etwas nicht stimmt“. Sie fühlten sich ernst genommen und unterstützt beim Kampf für das Wohlergehen ihres Kindes. Eine Diagnose gleich welcher Art gab den Eltern sofort das Gefühl der Hoffnung für die Zukunft. Die Eltern gaben weiterhin an, dass die Diagnose half, die Erwartungen zu steuern. Die Bescheinigung einer Diagnose war außerdem notwendig im Umgang mit Behörden, z. B. zur Vorlage bei diversen Instanzen (Hilfsmittel, Schulwahl). Die Eltern teilten mit, dass eine Diagnose sie darin unterstützte, Kontakt zu anderen betroffenen Eltern zu finden und dadurch Hilfe zu erfahren. Der Wille, „es einfach wissen zu wollen“, ebenso wie die Bedeutung der Diagnose für die pränatale Testung waren bei den befragten Familien sehr unterschiedlich ausgeprägt [15].
Die genetische Diagnose validiert den klinischen Phänotyp des Patienten
Letztendlich soll die Diagnose die Behandlung des Patienten verbessern und bestenfalls eine Therapie und Heilung bieten. Letzteres ist momentan noch selten, allerdings ergeben sich mit zunehmender Kenntnis genetischer Mechanismen bzw. der betroffenen Stoffwechselwege neue Behandlungsmöglichkeiten.
Beispielhaft ist die Behandlung der SMA mit dem Antisense-Oligonukleotid Nusinersen zu nennen. Dieses intrathekal zu verabreichende Medikament beeinflusst das „splicing“ des SMN2-Gens und erhöht so indirekt die Menge an funktionsfähigem „survival motor neuron (SMN) protein“ im Liquor. Die Behandlung verbesserte bei 77 % von 61 SMA-Typ-1-Patienten die motorischen Funktionen; Langzeitergebnisse müssen folgen, insbesondere auch hinsichtlich der Behandlung von Patienten mit anderen SMA-Typen und bezüglich der Kosten-Nutzen-Analyse [20]. Ein weiteres Beispiel ist die Behandlung von Patienten mit dem seltenen CAD-Defekt (epileptische Enzephalopathie, Poikilozytose), einer Störung in der Pyrimidinsynthese, bei der die Gabe von Uridin zu sofortiger Anfallsfreiheit und sogar zum Wiedererlangen von Entwicklungsrückschritten führte [12]. Vor diesem Hintergrund ist auch zu erwähnen, dass eine möglichst frühzeitige Diagnosestellung den Behandlungserfolg für viele Patienten essenziell beeinflussen dürfte [26].
In einigen Fällen ist die Diagnose wichtig, gerade um eine Therapie nicht durchzuführen (z. B. Lebertransplantation bei Nachweis eines mitochondrialen Depletionssyndroms mit progressiver neurologischer Beteiligung) oder generell bei der Entscheidung zur Therapielimitierung. Zusammenfassend kann der Einsatz von NGS-Techniken die „diagnostische Odyssee“ vieler pädiatrischer Patienten stark verkürzen und so auch vielen Kindern invasive Untersuchungen ersparen (z. B. Muskelbiopsie bei V. a. mitochondrialer Erkrankung). Letztendlich erspart diese auch dem behandelnden Team viel Zeit und kann zur Kosteneffizienz im Gesundheitssystem beitragen [19].

Voraussetzungen für die erfolgreiche Diagnosestellung

Diagnose und Behandlung von pädiatrischen Patienten mit genetischen Erkrankungen können nur im Team gelingen. Voraussetzungen hierfür sind die gute Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Spezialisten ebenso wie der Zugang zu den diversen genetischen und nichtgenetischen Diagnosemethoden. Es ist ein enger Austausch zwischen dem niedergelassenen Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, der die Familie am besten kennt, dem spezialisierten Kinderfacharzt (z. B. Neuropädiater), dem Facharzt für Humangenetik und dem diagnostischen Labor notwendig, um alle diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen und keine Diagnosen zu verpassen.
Die hauptverantwortlich betreuende Ärzteschaft, die den genetischen Test anfordert, muss zunächst den Phänotyp und eine Verdachtsdiagnose definieren; hierzu sind eine ausführliche Anamnese, eine Erhebung der Familienanamnese, einschließlich eines Stammbaums über 3 Generationen, ebenso wie eine gründliche klinische Untersuchung essenziell. (Diesen Ablauf zeigt Abb. 2 am Beispiel einer unklaren Entwicklungsverzögerung.) Als nächsten Schritt muss der behandelnde Arzt mögliche Differenzialdiagnosen einbeziehen. Basierend hierauf sollte die Methode ausgesucht werden, mit der am ehesten eine Diagnose erwartet werden bzw. eine signifikante Einengung der Differenzialdiagnosen erfolgen kann. Für einige wenige Erkrankungen wird diese eine Einzelgenanalyse sein, in den meisten Fällen die WES. Bei erfolgloser WES-Analyse sind Empfehlungen wichtig für den Zeitpunkt und die Art von Reanalysen. Eventuell gelingt die Rekrutierung im Rahmen eines Forschungsprogramms zur Entdeckung bisher unbekannter Gen-Phänotyp-Zusammenhänge. Bei erfolgreicher Diagnosestellung ist es wichtig, dass eine genetische Beratung über die erhobenen Befunde und ihre Konsequenz z. B. bezüglich der Familienplanung erfolgt. Auch ist es wichtig, dass sich die hauptbetreuenden Ärzte regelmäßig über Behandlungsmöglichkeiten (ebenfalls im Rahmen von Studien) informieren und diese mit der Familie besprechen. Die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen sollte multidisziplinär und in enger Absprache mit den heimatnahen Ärzten im Rahmen von Zentren für seltene Erkrankungen gebündelt werden.

Zukunftsaussichten

Die Technik der WES wird vermutlich auf Dauer von der WGS abgelöst werden, auch werden Integrative-multi-omics-Ansätze („metabolomics“, „proteomics“ etc.) genutzt werden. Das Neugeborenenscreening wird als genetisches Screening durchgeführt werden; die Daten werden lebenslang abrufbar sein. Der Patient wird sich je nach Lebenslage nach den relevanten Daten (z. B. Unverträglichkeit gewisser Chemotherapeutika bzw. Anästhetika, Risiko genetischer Erkrankungen bei Kinderwunsch etc.) erkundigen können.

Fazit für die Praxis

  • Jedes Kind mit Verdacht auf eine genetische Erkrankung und seine Eltern sollten umfassend über die Möglichkeiten der genetischen Diagnostik beraten werden.
  • Die neuen Sequenzierungsmethoden des „next generation sequencing“ (Gen-Panel, „whole exome sequencing“, „whole genome sequencing“) haben die molekulare Genetik und die Diagnostik in der Pädiatrie revolutioniert.
  • Eine Diagnosestellung ist nur im Team aus niedergelassenen Fachärzten für Kinder- und Jugendmedizin/Jugendheilkunde, den Spezialisten für das jeweilige pädiatrische Fachgebiet, Fachärzten für Humangenetik und genetischen Laborspezialisten möglich und sinnvoll.
  • Aus einer genetisch basierten Diagnosestellung kann sich das Potenzial für eine gezielte therapeutische Intervention ergeben.
  • Die Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen sollte multidisziplinär und in enger Absprache mit den heimatnahen Ärzten im Rahmen von Zentren für seltene Erkrankungen gebündelt werden.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

S.B. Wortmann und H.-C. Duba geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.

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Metadaten
Titel
Angewandte Genetik in der Pädiatrie
verfasst von
PD Dr. med. S. B. Wortmann, PhD
H.‑C. Duba
Publikationsdatum
15.06.2018
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Monatsschrift Kinderheilkunde / Ausgabe 9/2018
Print ISSN: 0026-9298
Elektronische ISSN: 1433-0474
DOI
https://doi.org/10.1007/s00112-018-0525-z

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