Akute Vergiftungen stellen eine häufige Indikation für eine intensivmedizinische Behandlung dar. Der klinische Verlauf betroffener Patienten variiert in Abhängigkeit von der eingenommenen Substanz und deren Dosis sowie klinischer und demographischer Charakteristika des betroffenen Patienten als auch der Ursache der Vergiftung. Patienten mit akuten Vergiftungen repräsentieren sowohl national als auch international ein relevantes Kollektiv im intensivstationären Bereich, wenn auch die Mortalität gering ist. Mit unserem Beitrag bieten wir einen beispielhaften Überblick über klinische Charakteristika der Behandlung akut intoxikierter Patienten auf einer medizinischen Intensivstation in Deutschland im Verlauf der letzten 20 Jahre.
Einleitung
Vergiftungen, Überdosierungen und selbstverletzendes Verhalten stellen nach wie vor ein relevantes Problem auf den Intensivstationen in aller Welt dar [
3,
10,
11]. Eine Intoxikation geschieht hierbei in den meisten Fällen im Kontext einer suizidalen Absicht des betroffenen Patienten [
12]. Die Häufigkeit der für die Intoxikation verwendeten Substanzen ist abhängig von der geographischen Lage: Antidepressiva, Alkohol und Benzodiazepine sind in Westeuropa die am häufigsten verwendeten Substanzen, während in Asien unter anderem Pestizide zu den vielfach gebrauchten Substanzen gehören [
2,
13,
23].
Vergiftete Patienten repräsentieren in westlichen Ländern 3–6 % aller Intensiveinweisungen [
11,
17]. Eine Intoxikation hat dabei nicht nur Auswirkungen auf den Gesundheitszustand der Patienten: Auch die erforderlichen Behandlungsmaßnahmen auf der Intensivstation verbrauchen wertvolle personelle und materielle Ressourcen.
Unsere Arbeit präsentiert eine 20-jährige retrospektive Beobachtungsstudie, die akut vergiftete Patienten und deren intensivmedizinisches Management analysiert. Die Untersuchungen umfassen demographische Daten mit Schwerpunkt auf Veränderungen im Konsumverhalten über die Zeit sowie Auffälligkeiten im klinischen Verlauf der Patienten.
Diskussion
Die in unsere Studie eingeschlossenen, akut intoxikierten Patienten wiesen ein breites Spektrum an verwendeten Substanzen auf. Die dargestellten Häufigkeiten der Substanzen sind vergleichbar mit den Ergebnissen anderer europäischen Studien [
2,
6,
12]. Darüber hinaus steht die Assoziation der verwendeten Substanzen mit dem Geschlecht und Alter des Patienten sowie dem Motiv der Vergiftung im Einklang mit einer vergleichbaren deutschen Studie [
20]. So gehörten beispielsweise Antidepressiva in jeder Altersgruppe zu den am häufigsten konsumierten Substanzen. Als nächstes zeigten Paracetamol und Benzodiazepine ein häufiges Vorkommen in der jüngsten bzw. ältesten Altersgruppe. Dies steht im Einklang mit Huang et al., die einen Anstieg der Paracetamolvergiftungen im jüngeren Drittel ihrer Kohorte feststellten [
7]. Die internationalen Unterschiede bei Substanzen, die zu akuten Vergiftungen führen, sind auffallend variierend, insbesondere wenn man den asiatischen und den europäischen Kontinent vergleicht: So gehört Kohlenmonoxid (CO) in einer Studie aus Hongkong zu den 4 häufigsten Substanzen, während in unserer Studie nur bei 11 Patienten (1,1 %) eine Vergiftung durch CO festgestellt wurde [
10]. Dies könnte zum einen an der erhöhten medialen Berichterstattung über CO-assoziierte Suizidversuche, zum anderen aber auch an den weniger strengen Auflagen zur Luftreinhaltung im asiatischen Raum liegen, die infolge Müllverbrennungen und ungeschützten Kochnischen passiert [
10]. In Deutschland hingegen werden Luftreinhaltepläne durch Richtlinien vorgegeben. Zusätzlich waren Vergiftungen mit Pestiziden, die in unserer Kohorte selten auftraten, im Nahen Osten und in China von größerer Bedeutung [
8,
13,
23]. Ursächlich für den hohen Stellenwert der Pestizide in Asien könnten die einfachere Verfügbarkeit, der extensive und unsichere Gebrauch in der Landwirtschaft sowie die unkontrollierte Lagerung zu Hause sein [
8,
10]. In Deutschland hingegen unterliegen beispielsweise Pflanzenschutzmittel strengen Regulationen des Bundesamtes für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit und sind somit weniger breit verfügbar [
15]. Wir schlussfolgern, dass Intoxikationen mit Pestiziden für medizinisches Personal in europäischen Ländern weniger relevant sind [
1,
14].
Es ist bekannt, dass Suizidalität ein herausragendes Motiv für Vergiftungen darstellt und mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert ist. Mit unserer Studie und in Übereinstimmung mit einer kürzlich veröffentlichten deutschen Studie zeigen wir, dass sich dieser Aspekt in den letzten Jahren nicht verändert hat und dass die Motivation für Vergiftungen aufgrund von Suizidabsichten bei Frauen immer noch deutlich höher ist als bei Männern [
20]. Darüber hinaus konnten wir Suizidalität als ganzjähriges und nicht nur saisonales Problem charakterisieren, was abermals die Relevanz akuter Vergiftungen im intensivstationären Bereich unterstreicht.
Bei 5 der eingeschlossenen Patienten kam es zu einem Dreiorganversagen. Dabei wurden je 2 der Dreiorganversagen durch Alkohol und Paracetamol verursacht. Bei insgesamt 248 Patienten kam es zu einem Organversagen mindestens eines Organs, das in 18 % durch Alkohol ausgelöst wurde. Dieses Ergebnis muss sorgfältig betrachtet werden, da Brandenburg et al. paradoxerweise feststellen, dass eine Alkoholintoxikation eine wahrscheinlich nicht notwendige Behandlung auf der Intensivstation vorhersagen könnte [
3]. Bezüglich schwerer Verläufe nach Alkoholintoxikation umfasst unsere Studie nur 5 Patienten mit einem Dreiorganversagen; 2 davon nach Alkoholintoxikation, in 4 von 5 Fällen bestand anamnestisch ein vorbestehender schädlicher Alkoholkonsum. Unsere Hypothese ist, dass insbesondere Patienten mit chronischem Alkoholkonsum einem gesteigerten Risiko eines Mehrorganversagens ausgesetzt sind, jedoch vermag unsere Studie hierzu aufgrund der geringen Patientenanzahl mit höhergradigem, alkoholassoziiertem Organversagen keine generelle Aussage zu treffen.
Im Gegensatz zur Studie von Siedler et al. war der Einsatz von Aktivkohle (ACT) als Interventionsmaßnahme in unserer Patientenkohorte 3‑mal höher [
20]. Mit Aktivkohle können u. a. Antidepressiva, Benzodiazepine, NSAR und Paracetamol adsorbiert werden, die in beiden Kohorten zu den am häufigsten verwendeten Substanzen gehören [
9]. Die Applikation von Aktivkohle gehört zu den Maßnahmen der primären Giftelimination. Faktoren, die die Gabe von Aktivkohle indizieren, sind unter anderem ein gesicherter Atemweg, eine zu erwartende schwere Toxizität, kürzlich eingenommene Medikamente, Substanzen, von denen bekannt ist, dass sie an Aktivkohle adsorbieren, und das Fehlen eines spezifischen Antidots [
4]. Der Einsatz der Aktivkohle ist damit abhängig von der betreffenden Substanz sowie der Einnahmelatenz, was eine verschiedene Häufigkeit der Aktivkohle in verschiedenen Intoxikationskollektiven erklären kann. Die Latenz zwischen Intoxikation und intensivstationärer Aufnahme wird weder in unserer noch der zitierten Studie adressiert und kann bereits den unterschiedlich häufigen Einsatz der Aktivkohle erklären, ebenso ein unterschiedliches Verteilungsmuster der zugrundeliegenden Substanzen. Auch der Einsatz von Antidoten unterschied sich beim Vergleich beider deutschen Studien erheblich. Dieser Befund zeigt wichtige nicht nur internationale, sondern auch nationale Unterschiede im Hinblick auf die Indikationsstellung und Durchführung unterschiedlicher therapeutischer Strategien bei der Behandlung von Intoxikationspatienten auf.
Beim Vergleich der Gesamtzahl der Vergiftungsfälle von 1999–2009 und von 2010–2019 zeigte sich ein deutlicher Anstieg des Konsums von Antipsychotika, Antidepressiva und Alkohol. Benzodiazepinintoxikationen hingegen waren in unserer Kohorte in der 2. Dekade seltener als in der 1., was im Gegensatz zu früheren Studien steht [
6].
Im Vergleich zu anderen deutschen Studien lag die Sterblichkeit in unserer Kohorte mit 2,6 % im Durchschnitt [
19,
20]. Die Risikostratifizierung und Prognosevorhersage bei akut vergifteten Patienten stellt eine Herausforderung in Zeiten mangelnder intensivmedizinischer Ressourcen dar. Nicht nur Intensivbetten sind im klinischen Alltag limitiert. Insbesondere in Pandemiezeiten ist uns bewusst, dass der Bettplatz mit technischer Ausstattung sowie das pflegerische und ärztliche Personal vorhanden sein muss, um die Patient:innen adäquat zu behandeln. Vergiftungspatienten werden mittels intensivmedizinischem Monitoring und therapeutischen Interventionen bis hin zum Organersatzverfahren aufwändig therapiert und binden somit wertvolles Personal. Wenn auch die Intoxikationspatienten im Mittel < 72 h auf der Intensivstation verbleiben, so werden materielle und personelle Ressourcen verbraucht, die an anderer Stelle fehlen. Der Prävention von Intoxikationen kommt deshalb auch in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Zudem sind weitere Studien zur Pharmakodynamik der verschiedenen Toxine sowie zur Effizienz der primären und sekundären Toxinelimination erforderlich, um Risikopatienten zu identifizieren und die Notwendigkeit einer Behandlung auf der Intensivstation zu beurteilen [
20].
Einzelne Limitationen der vorliegenden Studie sind zu erwähnen: Erstens wurden die Datenanalysen anhand der Kohorte eines einzelnen deutschen Zentrums durchgeführt, was eine Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse erschwert. Außerdem ist diese Studie durch ihr retrospektives Design begrenzt. Schließlich kann ein Informationsbias nicht vollständig vermieden werden, da einige Parameter, wie z. B. die Ursache der Intoxikation oder die Interventionsmaßnahmen, nicht für alle Patienten verfügbar waren.
Die in unsere Studie eingeschlossenen Patienten wurden im Rahmen ihres stationären Aufenthalts einer psychiatrischen Beurteilung sowie dem Angebot einer Anbindung zugeführt. Da eine psychiatrische/psychotherapeutische Weiterbehandlung jedoch teilweise in externen Versorgungsstrukturen erfolgte, liegen uns hierzu keine detaillierten Daten für die gesamte Kohorte vor. Dennoch kommt der poststationären Weiterbehandlung in unserem Kollektiv eine herausragende Bedeutung zu. In einer norwegischen Studie zu Vergiftungspatienten wurde beispielsweise gezeigt, dass ca. ein Drittel der Patienten nach einer Vergiftung keine weitere Anschlussbehandlung erhielt [
22]. Die anderen zwei Drittel fanden Zuwendung im Rahmen des sog. Opioid-substitution-treatment(OST)-Programms und regelmäßiger Hausarztbesuch. In weiteren Studien aus Spanien und Australien wird belegt, dass Patienten, die an einem OST-Programm teilnehmen, geringere Mortalitätsraten aufweisen als Patient:innen ohne Follow-up-Behandlung [
4,
21]. Spezifische Möglichkeiten für Anschlussbehandlungen sollten etabliert werden, um Umgang mit Medikamenten zu schulen und langfristig die Komorbidität und Mortalität zu senken.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass unsere Studie einen wichtigen Überblick bietet, indem sie demographische und klinische Aspekte von akut vergifteten Patienten aufzeigt und mehr als 1000 Patienten über einen Zeitraum von 20 Jahren umfasst. Unsere Studie ergänzt daher nicht nur die Ergebnisse früherer Studien, sondern erweitert diese, indem sie ein größeres Patientenkollektiv analysiert und Vergiftungsmotive und Interventionsmaßnahmen im Detail untersucht. Die Notwendigkeit einer Intensivtherapie bei Intoxikationspatienten ist ein weltweit bekanntes Problem. Während epidemiologische Merkmale, wie Alter und Geschlecht, konstant bleiben, zeigt unsere Studie Veränderungen bei Verhaltensaspekten wie verwendeten Substanzen und Interventionsmaßnahmen über die letzten Jahre. Anhand der in unserer Studie dargestellten epidemiologischen und demographischen Charakteristika der verschiedenen Geschlechter- und Altersgruppen sowie der Prävalenz verschiedener Kontexte der Intoxikation wird deutlich, dass Intoxikationen, insbesondere der akzidentelle Gebrauch, der Substanzabusus sowie Suizidversuche in allen Altersgruppen manifest werden können und eine generationsübergreifende Prävention notwendig ist. Insbesondere männliche Patienten können aufgrund der Häufung von akzidentellem Gebrauch und Substanzabusus in dieser Geschlechtergruppe von einer gezielten Prävention profitieren, wie unsere Studie belegt. Das weibliche Geschlecht hingegen ist mit einem höheren Risiko eines Suizidversuchs assoziiert. Auch hebt unsere Studie hervor, dass insbesondere Patienten mit psychiatrischen Vorerkrankungen hinsichtlich einer Intoxikation gefährdet sind und ein vulnerables Patientenkollektiv darstellen, sodass auch hier präventive Maßnahmen verfügbar sein sollten.
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