Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Die in den letzten Jahrzehnten bei Kindern in Deutschland beobachtete massive Kariesabnahme (DMFT) von 8,8 kariösen, gefüllten oder fehlenden Zähnen (1983) auf 0,44 (2016; [
15]) konnte auch bei den 35- bis 44- und den 65- bis 74-jährigen DMS- und SHIP-Teilnehmern, wenn auch in vermindertem Umfang, beobachtet werden. In den aktuellsten Studien DMS V und SHIP-Trend‑0 konnten im Vergleich zu den Vorgängerstudien DMS III bzw. SHIP‑0 bei den jüngeren Teilnehmern insgesamt mehr Zähne erhalten werden, vor allem mehr gesunde (füllungsfreie) Zähne. Hingegen stieg bei den älteren Teilnehmern in beiden Studien parallel zur Gesamtzahnzahl auch die Anzahl der gefüllten Zähne an. Nichtsdestotrotz konnten bei ihnen mehr gefüllte Zähne erhalten werden als noch in DMS III und SHIP‑0. Diese Beobachtungen passen mit den Abrechnungsdaten der gesetzlichen Krankenkassen zusammen: Zwischen 1997 und 2018 reduzierte sich die Anzahl der gelegten Füllungen von 67.914 auf 49.671 Mio. und die Anzahl der Extraktionen von 14.349 auf 12.417 Mio. [
16]. Im längerfristigen Vergleich ist auch erkennbar, dass die Zahl der gelegten Füllungen noch deutlich stärker rückläufig war als die Zahl der Extraktionen.
Veränderung der oralen Gesundheit
Der Sanierungsbedarf ist seit 1997 unverändert klein: Im Schnitt wiesen 0,3 bis 0,4 Zähne eine behandlungsbedürftige Kavität auf. Diese geringe Quote lässt sich sicherlich damit begründen, dass über 85 % der Bevölkerung mindestens einmal jährlich zum Zahnarzt gehen und weit über zwei Drittel der Patienten aus Kontrollgründen und nicht ausschließlich aufgrund von Schmerzen oder anderen Problemen zum Zahnarzt gehen. Die Halbierung der Zahnlosigkeit bei den 65- bis 74-Jährigen ist wahrscheinlich auf den massiven Kariesrückgang und eine stärkere Fokussierung der zahnärztlichen Behandlung auf den Zahnerhalt zurückzuführen [
18]. Diese massive Abnahme der totalen Zahnlosigkeit stimmt mit einem weltweiten Trend überein [
4].
Aus den DMS-Daten können keine belastbaren Rückschlüsse auf eine Veränderung der parodontalen Situation gezogen werden. Zum einen wurde das Untersuchungsprotokoll zwischen DMS III und DMS V geändert, sodass für den Vergleich der beiden Studien nur Daten von sehr wenigen Zähnen und Zahnflächen herangezogen werden konnten. Damit sind die Befunde nur bedingt belastbar und führen zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Prävalenzen in den DMS. Zum anderen wurden ausschließlich Sondierungstiefen gemessen. Sondierungstiefen spiegeln die aktuelle Erkrankungslast wider, da der Zahnarzt durch eine effektive Parodontalbehandlung nur die Sondierungstiefen reduzieren kann. Er hat jedoch kaum Einfluss auf die Veränderung der Attachmentverluste. Letztlich sei angemerkt, dass ein Vergleich der CPI-Werte aus DMS und SHIP aufgrund der unterschiedlichen Teilbefundprotokolle nicht möglich ist.
Aus den SHIP-Daten ist hingegen klar zu erkennen, dass die mittleren Attachmentverluste sich verbessert haben, während sich die mittleren Sondierungstiefen nur unwesentlich verändert haben [
19]. Für den Versorgungsalltag bedeutet dies, dass die parodontale Behandlungslast im Beobachtungszeitraum nicht abgenommen, sondern im Gegenteil durch die Zunahme der Zahnzahl und die demografische Verschiebung hin zu einer älteren Bevölkerung wahrscheinlich zugenommen hat [
20] und möglicherweise weiterhin zunehmen wird. Wahrscheinlich hat die in der SHIP-Population beobachtete Verminderung der mittleren Attachmentverluste auch in DMS stattgefunden. Sollte dem so sein, kann vermutet werden, dass die verminderten Attachmentverluste zu weniger Extraktionen und damit auch zu einem größeren Zahnerhalt beigetragen haben. Dies ist damit zu begründen, dass ein Zahnarzt sich aufgrund der Zahnlockerung beziehungsweise des Knochenabbaus zu einer Extraktion aus parodontalen Gründen entscheidet [
21].
Ursachen für die Verbesserung der Mundgesundheit
Zum einen hängen die beobachteten Trends mit der Verbesserung der Mundgesundheit und der grundlegenden Verschiebung von einer restaurativen zu einer präventiven Zahnmedizin zusammen. Der Rückgang in der Füllungstherapie liegt vermutlich, wie bei den Kindern, hauptsächlich in der Einführung der fluoridierten Zahnpasta in den 1970er-Jahren begründet [
17]. Der Rückgang der Extraktionen könnte, außer durch die abnehmende Karieslast, auch durch die Absenkung des Zuschusses für prothetische Leistungen 1997/1998 und die Einführung des Festkostenzuschusses für prothetische Versorgungen 2004/2005 beeinflusst worden sein. Wahrscheinlich ist die Halbierung der Zahnlosigkeit bei den 65- bis 74-Jährigen auf dieselben Gründe zurückzuführen. Aus unseren Analysen kann nicht abgeleitet werden, ob die Individualprophylaxe einen Einfluss auf den Zahnerhalt hat, da dazu in DMS III und SHIP‑0 keine Angaben vorlagen.
Zum anderen ist eine Betrachtung der Veränderung der bekannten Risikofaktoren unumgänglich, wenn man verstehen möchte, warum sich die Prävalenz der Karies und der Parodontitis und somit auch die Zahnverlustraten in den letzten Jahren verändert haben. Die wesentlichen Risikofaktoren umfassen den sozioökonomischen Status, welcher sich wiederum auf die Prävalenzen von Rauchen, Diabetes mellitus, Übergewicht und mangelnder Bewegung sowie auf die Mundhygiene auswirkt. Die Relevanz einiger dieser Faktoren wird anschließend kurz diskutiert.
Der sozioökonomische Status wird in DMS und SHIP anhand der Schulbildung erhoben. Als möglicher kausaler Pfad zwischen Schulbildung und Gesundheit werden bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, ein höheres Einkommen, bessere kognitive und emotionale Fähigkeiten und größere soziale Netzwerke angesehen [
22‐
24]. Zum Beispiel können Personen mit höherem Bildungstand und Einkommen mehr Geld für häusliche und professionelle orale Prophylaxe ausgeben. Darüber hinaus ist Rauchen oder übermäßiger Konsum von hochkalorischer Nahrung bei Personen mit kürzerem Schulbesuch häufiger zu beobachten [
25]. In einer Auswertung von englischen Kohorten konnte gezeigt werden, dass durch einen um ein Jahr verlängerten Schulbesuch die Wahrscheinlichkeit von Zahnlosigkeit um 9 % vermindert wurde [
26]. Nach der Theorie des „Humankapitals“ kann Bildung somit als Investition in die künftige Gesundheit betrachtet werden [
27].
Die Raucherprävalenz hat sich in beiden Studien nicht sehr stark verändert. Diese geringfügige Abnahme stimmt mit den deutschlandweiten Untersuchungen des Robert Koch-Instituts überein. So sank bei Männern im Alter zwischen 25 und 69 Jahren die Raucherprävalenz von 37,6 % (1998) auf 34,9 % (2012; [
28]). Rauchen wirkt sich vor allem auf die parodontale und nicht auf die Kariessituation aus und kann langfristig den parodontal induzierten Zahnverlust beeinflussen [
29]. In einem Review schätzte Bergström, dass Rauchen das Risiko für Parodontitis um das 5‑ bis 20-Fache erhöht [
30]. Er konnte auch zeigen, dass eine abnehmende Raucherprävalenz mit einer Abnahme der Parodontitis in der Bevölkerung einhergeht [
31].
Neben der Schulbildung hatte möglicherweise die häuslich durchgeführte Mundhygiene einen wesentlichen Einfluss auf den Erhalt zusätzlicher Zähne in DMS und SHIP. Die Anwendung von Hilfsmitteln zur Interdentalhygiene hat laut DMS in den letzten 17 Jahren um 33 % bei den 35- bis 44-Jährigen und um 44 % bei den 65- bis 74-Jährigen zugenommen. Neuere Metaanalysen konnten für interdentale Hilfsmittel jedoch nur eine mäßige Evidenz für die Reduktion von Plaque und Zahnfleischentzündung (Gingivitis) und keine Evidenz für die Reduktion patientenrelevanter Endpunkte wie Approximalkaries (Interdentalkaries), Parodontitis oder Zahnverlust nachweisen [
32,
33]. Hingegen lieferte eine vertiefte epidemiologische Analyse der DMS-Daten Hinweise, dass interdentale Hilfsmittel neben den fluoridierten Zahnpasten ebenso, wenn auch nur mäßig, zur Kariesprävention beitrugen und dadurch mehr Zähne erhalten wurden [
34]. Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit einer kürzlich veröffentlichten Studie, in der durch die Anwendung von Zahnseide das Ausmaß von Parodontitis, Karies und Zahnverlust über 5 Jahre bei Senioren (> 65 Jahre) verringert wurde [
35]. Außerdem stieg von DMS III zu DMS V die Anwendung von elektrischen Zahnbürsten von 14,9 % auf 48,3 % bei den 35- bis 44-Jährigen und von 7,2 % auf 36,9 % bei den 65- bis 74-Jährigen. Laut einer 11-jährigen longitudinalen Untersuchung, bei der Anwender einer elektrischen Zahnbürste eine verringerte Parodontitisprogression und eine erhöhte Zahnretention aufwiesen [
36], kann man davon ausgehen, dass der Gebrauch elektrischer Zahnbürsten nicht nur dem manuell eingeschränkten Benutzer, sondern auch dem normalen Konsumenten einen Vorteil bringt. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Industrie und die Zahnärzte mit ihren Teams eine hervorragende deutschlandweite Aufklärungsarbeit betrieben haben, die in den letzten 17 Jahren zu einer deutlichen Verbesserung der oralen Gesundheit durch eine verbesserte Mundhygiene geführt hat.
Mögliche Präventionsstrategien
Die Ergebnisse unserer Analysen illustrieren hervorragend die von Rose benannten Strategien des ärztlichen Handelns: die Hochrisikostrategie („high-risk strategy“) sowie die Bevölkerungsstrategie („population strategy“; [
37]). Unter dem Begriff der „Hochrisikostrategie“ versteht man das Fokussieren der Zahnärzte auf individuelle Patienten mit einer großen Krankheitslast, z. B. manifester Karies. Hier konnten sie durch Füllungen ein weiteres Fortschreiten der Karies verhindern (wie die kleine Anzahl unversorgter kariöser Läsionen zeigt) und schlussendlich eine Wurzelbehandlung unnötig machen. Dies spiegelt sich für den Beobachtungszeitraum der DMS auch in der Abnahme der abgerechneten Füllungen sowie in der zeitverzögert auftretenden Abnahme der abgerechneten Wurzelfüllungen wider [
18]. Dieser Strategie gegenüber stellt Rose die „Bevölkerungsstrategie“, die dem Individuum nur einen kleinen, eventuell unmerklichen gesundheitlichen Nutzen, der Bevölkerung insgesamt aber einen großen Vorteil bringt. Die vermehrte Anwendung von interdentalen Hilfsmitteln und der elektrischen Zahnbürste illustrieren diesen Aspekt hervorragend. Obwohl auf individueller Patientenebene anhand von Metaanalysen für interdentale Hilfsmittel und elektrische Zahnbürsten keine patientenrelevanten Verbesserungen nachgewiesen werden konnten, wurde auf Populationsebene tatsächlich ein sehr großer Nutzen nachgewiesen [
38‐
40]. Vermutlich hat die Anwendung fluoridierter Zahnpasten einen noch größeren Nutzen für die Bevölkerung. Immerhin sind inzwischen über 90 % der Zahnpasten in Deutschland fluoridiert. In DMS und SHIP liegen allerdings keine Daten zur Fluoridierung von Zahnpasten vor, sodass deren Einfluss auf die Kariesgesundheit nicht analysiert werden konnte.
Die in der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) insbesondere durch die Kinderstomatologie durchgeführte staatlich organisierte Gesundheitsfürsorge hatte bei den 12-Jährigen anscheinend guten Erfolg: Die nach der Wende (1992) durchgeführte DMS II konnte zeigen, dass Kinder in Ostdeutschland im Durchschnitt fast einen Zahn weniger mit Karieserfahrung aufwiesen [
41]. Ebenso waren mehr 12-Jährige kariesfrei als in Westdeutschland. Dies könnte evtl. auch mit dem verbreiteten Einsatz von Fluoridtabletten und mit der Trinkwasserfluoridierung erklärt werden. Mit der DMS II konnte außerdem gezeigt werden, dass die jüngeren Erwachsenen (35- bis 44-Jährige) in Ostdeutschland 3 kariesfreie Zähne mehr hatten als jene in Westdeutschland [
41]. Andererseits bestanden erhebliche Unterschiede in der prothetischen Versorgung. In Westdeutschland war der Anteil prothetisch ersetzter Zähne um 22 Prozentpunkte höher als in Ostdeutschland. Zusätzlich fehlte bei den 35- bis 44-Jährigen in Ostdeutschland durchschnittlich bereits ein Zahn mehr als bei denen in Westdeutschland. Mit der Wiedervereinigung ist es in den „neuen Bundesländern“ zu tiefgreifenden Veränderungen der wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Situation gekommen, aber auch auf die „alten Bundesländer“ traf dies zum Teil zu. Mit der Einführung der Individual- und Gruppenprophylaxe für Kinder und Jugendliche sowie durch die breitere Verfügbarkeit von Fluoriden in den Zahnpasten gingen die Karieserkrankungen zurück: So wurde in der DMS III (1997) sowohl ein Rückgang der Karieserfahrung als auch eine Zunahme kariesfreier Gebisse verzeichnet, und zwar gleichermaßen in West- wie in Ostdeutschland [
11]. Dennoch zeigten die DMS-III-Ergebnisse, dass eine Angleichung der Verhältnisse in West- und Ostdeutschland noch nicht stattgefunden hatte – vielmehr wurde dieser Trend erst mit der DMS IV deutlich [
10]. Inzwischen ist für die Mundgesundheit jedoch eine nachhaltige Entwicklung hin zu einer West-Ost-Angleichung erkennbar [
8,
10]. Bei Kindern gibt es nur noch geringfügige Unterschiede hinsichtlich Kariesfreiheit und Karieserfahrung. Eine deutliche Angleichung sowohl der Karieserfahrung als auch der Anzahl fehlender Zähne wurde auch bei den Erwachsenen beobachtet. Ebenso hat sich der Anteil zahnprothetischer Versorgungen deutlich angeglichen.
Stärken und Schwächen
Die Stärken von DMS und SHIP umfassen den populationsbasierten Ansatz, den großen Stichprobenumfang, eine umfassende Schulung und Zertifizierung der Untersucher sowie eine qualitativ hochwertige Datenerhebung. Als Schwäche sollte die unterschiedliche Response der Studien diskutiert werden. Während in DMS III, DMS IV und SHIP‑0 noch über 60 % der ausgewählten Personen an der Studie teilnahmen, waren es in DMS V und SHIP-Trend‑0 nur noch 50 %. Eine ähnliche Abnahme der Teilnahmebereitschaft wurde auch bei anderen Bevölkerungsstudien beobachtet [
42‐
44]. Um einer Verzerrung der Ergebnisse entgegenzuwirken, wurden die Daten in beiden Studien gewichtet (für DMS nach Geschlecht, Altersjahrgang, Bundesland, BIK-Gemeindegrößenklasse und Schulausbildung; für SHIP nach Alter, Geschlecht und Methode der Stichprobenziehung). Falls dennoch Verzerrungen bei den Prävalenzschätzern aufgetreten sein könnten, wären deren Auswirkungen auf die Veränderung der Erkrankungsprävalenzen nur schwer abzuschätzen. Als weitere Schwäche ist die Teilbefundung beim Parodontalbefund aufzuführen [
45,
46], wodurch eine Bewertung der aktuellen parodontalen Situation nur eingeschränkt möglich ist. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die Teilbefundung gleichermaßen für die einzelnen Erhebungen in SHIP als auch in den DMS zu einer Unterschätzung der CPI-Prävalenzen geführt hat, wodurch keine übermäßigen Verzerrungen im Hinblick auf den Trend der CPI-Grade 3–4 zu erwarten sind. Weiterhin ist anzumerken, dass für SHIP auch der Kariesbefund nur halbseitig erhoben wurde. Unter der Annahme, dass die Verteilung der Karies symmetrisch ist [
47], kann von geringfügigen Verzerrungen der DMFT-Werte ausgegangen werden. Letztlich sei anzumerken, dass die klinische Befundung allein die Prävalenz der proximalen Karies im Vergleich zur Kombination von visueller Inspektion und Röntgen unterschätzt [
48].