Nach aktueller Studienlage ermöglicht die Revision der McDonald-Kriterien von 2017 eine frühere Diagnosestellung der MS und somit einen früheren Therapiebeginn. Im Vergleich zur vorangegangenen 2010-Revision der McDonald-Kriterien führt die Anwendung der aktuellen Revision zu einem höheren Anteil an Patienten, welche zum Zeitpunkt des ersten klinischen Schubereignisses die Diagnose einer MS erhalten [
26]. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die Anwendung der neuen McDonald-Kriterien zu einer Verkürzung des Zeitraums zwischen erstem klinischen Schubereignis und definitiver MS-Diagnose geführt hat. So wurde berichtet, dass die MS-Diagnosestellung nach den McDonald-Kriterien von 2017 um 3 bis 10 Monate im Vergleich zur Revision von 2010 antizipiert werden konnte [
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33]. Rojas et al. und Tintore et al. konnten zeigen, dass sich der Trend zu einer immer früheren Diagnosestellung einer MS bzw. zu einer Verkürzung des Zeitraums zwischen erstem klinischen Schubereignis und definitiver MS-Diagnose über frühere Revisionen der McDonald-Kriterien bis hin zur aktuellen von 2017 fortsetzte [
21,
27]. Weiterhin zeigt die Studie von Tintore et al., dass das Ziel, eine effektive Therapie frühestmöglich zu beginnen, ebenfalls erreicht wurde [
27]. Auch diesbezüglich zeichnet sich ein Trend früherer Diagnosekriterien zu den aktuell revidierten von 2017 ab [
27].
Insgesamt führte die Revision der McDonald-Kriterien von 2017 zu einer Vereinfachung der diagnostischen Kriterien, da nicht mehr zwischen symptomatischen und asymptomatischen MRT-Läsionen bzw. kortikalen und juxtakortikalen Lokalisationen unterschieden wird [
26,
28]. Im Mittel sind 27 % (KI 19 %, 34 %) der zusätzlichen MS-Diagnosen nach den McDonald-Kriterien von 2017 auf die Veränderung der MRT-Kriterien der zeitlichen Dissemination zurückzuführen (keine Unterscheidung zwischen symptomatischen und asymptomatischen Entzündungsherden; [
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33]). Im Gegensatz hierzu beträgt dieser Anteil beruhend auf der Einführung liquorspezifischer oligoklonaler Banden als zusätzliches Kriterium der zeitlichen Dissemination im Mittel 75 % (KI 62 %, 88 %; [
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33]). Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass in den eingeschlossenen Studien zumeist nicht näher unterschieden wurde, ob die zusätzlichen MS-Diagnosen anhand des Nachweises oligoklonaler Banden oder der MRT-Bildgebung erfolgte. Der Einschluss des Nachweises der oligoklonalen Banden als zusätzliches Kriterium zur Erfüllung der zeitlichen Dissemination in die revidierten McDonald-Kriterien von 2017 hat zwar zu einer schnelleren MS-Diagnose geführt. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass oligoklonale Banden trotz der sehr hohen Prävalenz bei MS nicht spezifisch für eine MS sind [
32]. Im Gegenteil weisen sie eine intrathekale IgG-Synthese nach, welche auch bei anderen autoimmunen oder infektiösen ZNS-Erkrankungen oder neurologisch gesunden Patienten beobachtet werden kann [
17,
32]. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die erhöhte Sensitivität der aktuellen Revision der McDonald-Kriterien die Gefahr falscher MS-Diagnosen birgt [
3,
23,
24]. Vorsicht ist bei Patienten geboten, welche formell radiologisch die Diagnosekriterien erfüllen, sich aber mit untypischen klinischen Symptomen vorstellen [
3,
23,
24,
28]. Da die McDonald-Kriterien bei Patienten angewandt werden sollen, die sich mit einem „typischen“ erstmaligen inflammatorsich-demyelinisierenden Ereignis vorstellen, erfordert die Diagnosestellung einer MS und die Abgrenzung von verschiedenen Differenzialdiagnosen besondere Expertise [
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23,
24,
28]. Als „typische“ demyelinisierende Syndrome sind hierbei unilaterale Optikusneuritiden, internukleäre Ophthalmoplegien, gesichtsbetonte Hypästhesien, zerebelläre Syndrome (Ataxie, Nystagmen) und Beeinträchtigungen der Sensomotorik, welche einer Schädigung des Rückenmarks zuzuordnen sind, anzusehen [
24,
28]. Im Gegenteil weisen „red flags“ wie (bilaterale) schwere, nichtremittierende Optikusneuritiden, extensive langstreckige Myelitiden und Area-postrema-Syndrome wie Schluckauf oder Erbrechen auf andere differenzialdiagnostisch zu bedenkende demyelinisierende Syndrome hin [
18,
24]. Klinische Symptomatik und Ergebnisse der MRT-Bildgebung können auch bei Patienten mit Migräne und kardiovaskulären (insbesondere mikrovaskulären) Komorbiditäten fälschlicherweise den Verdacht auf eine MS lenken [
3,
23,
24]. Insbesondere in diesen Fällen gilt es, das typische perivaskuläre Verteilungsmuster von MS-assoziierten MRT-Läsionen zu beachten [
23,
24]. Auch wenn die aktuelle Revision der McDonald-Kriterien keine distinkte Anzahl oder Konfiguration der Läsionen zur Stellung der MS-Diagnose fordert, lassen sich MS-Fehldiagnosen vermeiden, wenn in diesen Patientenkollektiven mit Läsionen der weißen Substanz mindestens drei periventrikuläre Läsionen oder größere Läsionen zur Darstellung kommen [
24]. Zur weiteren Erhöhung der Spezifität bei der Interpretation auffälliger MRT-Befunde gilt es zu berücksichtigen, dass punktförmige Läsionen eine Größe von mindestens 3 mm im Durchmesser (oft sogar größer als 6 mm) aufweisen sollten und dass juxtakortikale und periventrikuläre Läsionen dem Kortex bzw. dem Seitenventrikel anliegen, ohne zwischenliegende normale weiße Substanz [
24]. Insbesondere die fehlerhafte Interpretation einzelner, sehr kleiner Läsionen mit ausgeprägtem Kontakt zur weißen Substanz trägt zur Fehldiagnose einer MS bei [
24]. Weiterhin lässt sich die MS-Diagnose sichern, wenn Entzündungsherde in MS-typischen neuroanatomischen Arealen (insbesondere auch spinal) in wenigstens zwei verschiedenen MRT-Sequenzen zu identifizieren sind [
24,
28]. Doch auch bei der Präsentation mit kontrastmittelaffinen spinalen Läsionen ist Vorsicht geboten, da beim Vorliegen eines weiteren zerebralen Entzündungsherdes die Stellung der MS-Diagnose bereits möglich ist [
28]. Da diese Läsionen jedoch nicht spezifisch für eine MS sind, sondern im Gegenteil sogar bei einer großen Anzahl andersartiger inflammatorischer oder infektiöser Differenzialdiagnosen vorliegen können, ist hier die Gefahr einer fehlerhaften MS-Diagnose gegeben [
3,
23,
24]. Dies unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer standardisierten MRT-Akquisition des Gehirns und des Rückenmarks sowie die standardisierte Interpretation und Befundung des Bildmaterials entsprechend internationalen Expertenkonsensusempfehlungen [
30]. Zusätzlich lässt der Nachweis oligoklonaler Banden eine MS-Diagnose wahrscheinlicher erscheinen [
11,
14]. Lassen sich initial keine oligoklonalen Banden nachweisen, sollte im Verlauf eine erneute Liquoranalyse durchgeführt werden, um eine Konversion des Status oligoklonaler Banden aufzuzeigen, insbesondere bei KIS-Patienten mit hohem Risiko, eine definitive MS zu entwickeln [
11,
22,
28]. Umgekehrt stellt der fehlende Nachweis oligoklonaler Banden bei Patienten mit untypischer klinischer Präsentation und fraglichen Entzündungsherden im MRT eine „red flag“ zum möglichen Vorliegen einer fehlerhaften MS-Diagnose dar [
3,
23,
24]. Zusammenfassend sollte bei Patienten mit atypischer Präsentation oder fraglichen Befunden darauf geachtet werden, dass mehr als die minimalen Anforderungen der Diagnosekriterien erfüllt werden, dass bei Patienten mit Migräne und kardiovaskulären Risikofaktoren oligoklonale Banden vorliegen (und die Bestimmung bei initial negativen Befunden ggf. wiederholt wird), dass bei Patienten fortgeschrittenen Alters größere oder mindestens 6 mm große Entzündungsherde im MRT dargestellt werden können (zur Abgrenzung vaskulär bedingter Veränderungen) und dass ein regelmäßiges klinisch-radiologisches Monitoring erfolgt, um mögliche (sub-)klinische Demyelinisierungsepisoden zu detektieren und somit fehlerhafte MS-Diagnosen zu vermeiden [
3,
23,
24].
Es konnte auch gezeigt werden, dass der Zugewinn an MS-Diagnosen mit einer Reduktion der Spezifität einhergeht. Die niedrigere diagnostische Spezifität der revidierten McDonald-Kriterien von 2017 war zu erwarten, da das Ziel der aktuellen Revision war, die Diagnose einer MS früher stellen zu können [
28]. Exemplarisch hierfür ist der Einschluss der oligoklonalen Banden in die McDonald-Kriterien von 2017: Einerseits führt die hochgradig sensitive Detektion einer intrathekalen IgG-Synthese durch die oligoklonalen Banden zu einer erhöhten diagnostischen Sensitivität der McDonald-Kriterien von 2017 [
32]. Andererseits stellen die oligoklonalen Banden einen unspezifischen Biomarker dar, der auch bei anderen entzündlichen neurologischen Erkrankungen vorkommen kann und somit mutmaßlich die erniedrigte diagnostische Spezifität der revidierten McDonald-Kriterien (59 % vs. 81 %) begründet [
32]. Weiterhin ist beim Vergleich älterer, restriktiverer Diagnosekriterien mit neuen, eher inklusiven, in meist retrospektiven Studien erhobenen Diagnosekriterien eine niedrigere Spezifität zu erwarten. Außerdem können Studiendesign, kleine Studienpopulationen und kurzer Follow-up-Zeitraum zu einem Bias führen, der die Interpretation der jeweiligen Studienergebnisse beeinflusst. Die wenigen prospektiv durchgeführten Studien bestätigen diese Vermutung. In diesen ist die diagnostische Spezifität der McDonald-Kriterien von 2017 signifikant höher, verglichen mit der der retrospektiven Studien (82 % vs. 59 %,
p = 0,0280; [
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33]). Ein weiterer Einflussfaktor, der die diagnostische Spezifität beeinflussen könnte, stellt der Einsatz von MS-Basistherapien während des Follow-ups von KIS-Patienten dar. Dieser könnte zu einer Verzögerung des Auftretens eines zweiten klinischen Schubs oder neuer Entzündungsherde führen, welche die verzögerte Diagnosestellung einer definitiven MS nach den McDonald-Kriterien von 2017 zur Folge hat. Belege hierfür finden sich in den Arbeiten von Pagani Cassara et al. und Hyun et al., in denen der Ausschluss von Patienten, welche ein MS-Basistherapeutikum erhalten haben, zu einer Steigerung der diagnostischen Spezifität von 54 % bzw. 53 % auf 88 % bzw. 85 % führte [
10,
16].
Weiterhin stellt die Diagnosestellung einer MS bei Kindern eine besondere Herausforderung dar. Alle McDonald-Kriterien basieren auf Studien, welche das erste klinische Ereignis vereinbar mit einem MS-Schub bei Erwachsenen zwischen 18 und 50 Jahren in einer Population kaukasischstämmiger Patienten (Europa, USA, Kanada) beschreiben [
4,
24]. Somit birgt die Diagnosestellung einer MS bei Patienten, die nicht diesem demografischen Profil entsprechen, ein erhöhtes Risiko für Fehldiagnosen [
24]. Für die Revision der McDonald-Kriterien von 2010 konnte gezeigt werden, dass diese bei Erwachsenen und Kindern ähnlich gut anwendbar sind [
4]. Problematisch stellte sich jedoch die Diagnosestellung bei Kindern unter 11 Jahren und mit multifokalen neurologischen Defiziten dar [
4]. Drei der vorliegenden Studien untersuchten die Anwendung der revidierten McDonald-Kriterien von 2017 in Patientenkollektiven mit einem medianen Patientenalter zwischen 13,7 und 14,8 Jahren [
4,
9,
31]. Hierbei zeigte sich, dass die berichtete diagnostische Sensitivität nicht wesentlich von der der übrigen Studien abwich (
p = 0,7526).