Psychische Störungen bei jungen Kindern unterscheiden sich von denen bei älteren Kindern durch eine entwicklungsspezifische Symptomatik und durch eine hohe Bedeutung der Interaktion mit Bezugsperson [
1]. Im Vorschulalter wird der Eltern-Kind-Beziehung bzw. der Eltern-Kind-Interaktion sowohl bei der Entstehung als auch der Aufrechterhaltung der psychischen Symptomatik des Kindes eine zentrale Bedeutung beigemessen. Problematische Interaktions- und Beziehungsmuster können zu anhaltenden verhaltensregulatorischen Problemen eines Säuglings und Kleinkindes [
2] und einer eingeschränkten Responsivität bzw. Feinfühligkeit der Eltern [
3] führen. Dies wirkt sich wiederum negativ auf die Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kindern aus [
4,
5]. Vor diesem Hintergrund wurden neben vielzähligen ambulanten interaktionszentrierten Behandlungsprogrammen und der gemeinsamen (erwachsenenpsychiatrischen) stationären Behandlung von psychisch kranken Müttern und ihren Säuglingen auch Behandlungskonzepte zu kinderpsychiatrischen Eltern-Kind-Stationen entworfen. Bei diesen Stationen wird das Kind als Patient und die Eltern als Begleitperson aufgenommen. So konnte beispielsweise in einer Studie mit 60 Familien aufgezeigt werden, dass sich am Ende einer kinderpsychiatrischen stationären Eltern-Kind-Behandlung sowohl die Symptome der Kinder als auch das Stresserleben der Eltern signifikant reduzierten [
6]. Müller et al. konnten durch eine familientagesklinische Behandlung eine Symptomverbesserung bei Kleinkindern [
7] und eine reduzierte mütterliche Symptomatik nach der gemeinsamen Behandlung [
8] aufzeigen. Eine Abnahme des Belastungserlebens sowie die Veränderungen des Erziehungsverhaltens nach einer gemeinsamen vierwöchigen Behandlung blieben auch bei einer Follow-Up Messung nach vier Wochen stabil [
9]. Gleichzeitig stehen die psychischen Auffälligkeiten der Kinder aber auch mit einer erhöhten Belastung der Eltern im Zusammenhang, die im Sinne einer bidirektionalen Interaktion zu einer wechsel- oder einseitigen Überforderung führen kann [
10]. Somit können sich Belastungen bei den Eltern, bei den Kindern oder zwischen Eltern und Kind manifestieren. Eine erhöhte elterliche Stressbelastung ist assoziiert mit elterlichen psychischen Erkrankungen und ungünstigen Erziehungspraktiken. Besteht bei einem Elternteil eine psychische Erkrankung ist das Risiko des Kindes, ebenfalls psychisch zu erkranken, deutlich erhöht [
11]. Vor diesem Hintergrund sollten die (psycho-)therapeutischen Interventionen im Säuglings- und Kleinkindaltert nicht nur die hohe Entwicklungsdynamik, sondern auch die Bedeutung der Interaktion zwischen dem Kleinkind und seiner sozialen Umwelt maßgeblich berücksichtigen. Die elterlichen Bedürfnisse und Ressourcen sind dabei von zentraler Bedeutung. In Hinblick auf kindsbezogene Aspekte zeigen die Ergebnisse der 2. Erhebungswelle der KiGGS-Studie des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys des Robert-Koch-Instituts erhöhte Prävalenzen für psychische Erkrankungen bei älteren Kindern im Alter von 9 bis 11 Jahren im Vergleich zu den 3–5-jährigen. Zudem sind Jungen häufiger von psychischen Störungen betroffen als Mädchen [
12]. Global zeigt sich jedoch, dass allgemeine Prävalenzzahlen für die frühe Kindheit relativ einheitlich zwischen 12,5 und 18 % liegen. Das bedeutet, dass psychische Störungen im Vorschulalter genauso häufig auftreten, wie bei älteren Kindern und Jugendlichen [
13]. Durch die Erfassung der kinds- und elternbezogenen Merkmale der bisherigen Inanspruchnahmepopulation der Eltern-Kind-Station in Tirol soll der Bedarf der Eltern-Kind-Behandlung verdeutlicht werden, zukünftige Behandlungsstrategien abgeleitet sowie die bereits etablierten Strukturen verbessert werden.
Rahmenbedingungen der kinderpsychiatrischen Eltern-Kind-Station in Tirol
Bei der kinderpsychiatrischen Eltern-Kind-Station unserer Klinik wird das Kind mit psychischen Auffälligkeiten mit einem Elternteil als Begleitperson innerhalb der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik aufgenommen. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt 3 bis 4 Wochen. Durch das multimodale Behandlungsangebot mit einem Fokus auf eltern-, kinds- und beziehungsorientierten Elementen [
14,
15] soll die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung verbessert und die kindliche Symptomatik reduziert werden. Nach der Aufnahme erfolgt neben der videobasierten Diagnostik [
16] der Eltern-Kind-Interaktion in Spiel-Trennungs- und Essenssituationen bei Bedarf eine ausführliche (Entwicklungs‑) Diagnostik des Kindes (Anamnese, Fragebögen. Erstellung des psychopathologischen Befunds, körperliche Untersuchung). In der Diagnosestellung wird mit dem multiaxial aufgebauten DC:0–5 (Diagnostische Klassifikation seelischer Gesundheit und Entwicklungsstörungen der frühen Kindheit) [
17] als Ergänzung zu der ICD-10 [
18] gearbeitet. Die DC:0–5 ist ein speziell für 0–5-Jährige entwickeltes Klassifikationssystem, welches fünf Achsen zur Erfassung der komplexen Entwicklungsdynamik des Säuglings, Kleinkind- und Vorschulalters vorsieht. Auf
Achse I werden klinischen Störungen erfasst. Die
Achse II ist auf den Beziehungskontext und die
Achse III auf die medizinischen Diagnosen ausgerichtet. Auf
Achse IV werden die psychosozialen Stressoren erfasst und mittels
Achse V werden die Entwicklungskompetenzen der Kinder dokumentiert. Im Unterschied zur ICD-10 und zum DSM‑5 berücksichtigt die DC:0–5 bei der Diagnosestellung altersspezifische Besonderheiten, entwicklungspsychologische Zusammenhänge, schnelle Veränderungen in der sozioemotionalen Entwicklung und fokussiert auf die Bedeutung des Beziehungskontextes für die frühe Kindheit [
19].
Darüber hinaus werden spezifische therapeutische Behandlungen für die Kinder (Spiel‑/Psychotherapie, Ergo‑, Logo- und Physiotherapie), Eltern- und Familiengespräche, sowie Gruppenbehandlungen angeboten. Zu den therapeutischen Gruppenangeboten zählt die Eltern-Kind-Interaktionsgruppe, basierend auf dem bindungsorientierten Konzept
Watch-Wait–Wonder [
20]. Ebenso wird eine integrative klinische Tanztherapie für Eltern und Kindern gemeinsam im Gruppensetting angeboten. Für Kinder mit Problemen im Essverhalten kann in der
Pic-Nic-Gruppe ein spielerischer und sensorischer Zugang zu Nahrungsmitteln und der Esssituation aufgebaut werden. Die Elterngruppe bietet einen Rahmen, Bedürfnisse und Befindlichkeiten der Eltern zu thematisieren, psychoedukative Konzepte einzubauen sowie einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen. Bei Einzelgesprächen mit den Eltern werden biografische Erfahrungen sowie das emotionale Erleben in der Elternrolle im Hinblick auf den Einfluss auf die elterliche Feinfühligkeit und Aufrechterhaltung der kindlichen Symptomatik thematisiert und reflektiert. Des Weiteren findet wöchentlich eine Entspannungsgruppe für die Eltern statt. Aus dem Pflege- und sozialpädagogischem Bereich wird eine Kinderbetreuungsgruppe, sowie die Alltags- und Ausflugsgruppe angeboten. Die Kochgruppe stellt einen weiteren Baustein des Gruppenangebots dar, die gemeinsam mit Müttern/Vätern und ihren Kindern stattfindet.