Schnelle und sichere Diagnose der Migräne

In Deutschland leben bis zu 14 Millionen Menschen mit Migräne. Viele sind nicht diagnostiziert und erhalten keine wirksame Behandlung. Im Interview erklärt der Frankfurter Neurologe und Schmerztherapeut PD Dr. Charly Gaul, welche Fragen zur Diagnose führen und was man wissen muss, um die optimale Therapie für jede Patientin und jeden Patienten zu finden. PD Dr. Charly Gaul Kopfschmerzzentrum Frankfurt C. Gaul × Wissen alle Migränepatient*innen, worunter Sie leiden? Gaul: Nicht bei allen Betroffenen tritt die Migräne so häufig auf, dass sie das Bedürfnis haben, wegen gelegentlicher Attacken eine Diagnose einzufordern. Viele Patient*innen wissen nicht, dass Migränekopfschmerzen auch beidseitig auftreten können und ordnen nur halbseitige Kopfschmerzen einer Migräne zu. Insgesamt ist von einer deutlichen Unterdiagnose der Migräne auszugehen. Was sind häufige Fehldiagnosen? Gaul: Beidseitige Kopfschmerzen werden häufig als Spannungskopfschmerzen eingeordnet, dabei ist das Auftreten von Licht- oder Geräuschempfindlichkeit, von Übelkeit – selbst bei nur leichter Ausprägung –, und vor allem die Zunahme der Schmerzen bei körperlicher Anstrengung ein deutlicher Hinweis auf die Diagnose einer Migräne. Durch die gemeinsame Verarbeitung von Signalen aus dem Bereich der oberen Halswirbelsäule mit Impulsen aus dem Nervus trigeminus (trigemino-zervikaler Komplex im Hirnstamm) sind Nackenschmerzen bei Migräneanfällen häufig. Patient*innen und auch behandelnde Ärztinnen und Ärzte gehen dann vermeintlich davon aus, dass es sich um einen zervikogenen Kopfschmerz handelt, weil die Schmerzen aus dem Schulter-Nacken-Bereich aufsteigen. Wie lange dauert es in der Regel bis zur richtigen Diagnose? Gaul: Wenn bei weiteren Familienmitgliedern die Diagnose gestellt ist, wissen Patient*innen häufig auch um ihre eigene Diagnose. Ansonsten kann es aber Jahre dauern, bis die korrekte Diagnose gestellt wird. Dies ist besonders dann bedauerlich, wenn frei verkäufliche Schmerzmittel nicht ausreichen, um die Attacken zu behandeln. Was macht es darüber hinaus schwierig, die korrekte Diagnose zu stellen? Gaul: Vielfach gilt die Migräne noch immer als „Frauenkrankheit“ – bei Männern wird die Diagnose dann verzögert oder gar nicht gestellt. Besteht ein Übergebrauch der Akutmedikation, kann es sein, dass die Begleitsymptomatik der Migräne dadurch deutlich abgeschwächt wird und das klinische Bild der Migräne nicht mehr in Reinform zu erkennen ist. Hilfreich kann es dann sein, zu fragen, wie die Migräneattacken waren, bevor sie so häufig wurden, dass es zum Übergebrauch der Akutmedikamente kam. Gelegentlich berichten Migränepatient*innen auch autonome Begleitsymptome wie Augentränen oder Naselaufen, was die Abgrenzung zum Clusterkopfschmerz schwierig machen kann. Man muss auch berücksichtigen, dass die Migränesymptomatik individuell sehr variabel ausgeprägt ist und nicht alle Patient*innen das Vollbild der Attacken mit Licht- und Geräuschempfindlichkeit sowie Übelkeit und Erbrechen berichten. Wie gehen Sie bei der Diagnostik vor? Gaul: Bei Kopfschmerzerkrankungen ist die ausführliche Anamnese der entscheidende diagnostische Schritt. Zusatzdiagnostik ist meist nicht nötig. Die körperliche Untersuchung und Bildgebung dienen dann dazu, andere Erkrankungen nicht zu übersehen. Hilfreich ist es, wenn Patient*innen über einige Wochen ein Kopfschmerztagebuch führen und dies zum ersten Termin mitbringen, sodass Attackenhäufigkeit und -länge sowie Begleitsymptome klar ersichtlich sind. Nutzen Sie Hilfsmittel wie Apps oder Fragebögen? Gaul: Letztlich macht es keinen Unterschied, ob Patient*innen einen papierbasierten Kalender nutzen oder eine App bevorzugen. Hier können die Patient*innen nach eigener Präferenz verfahren. Wenn Attacken immer gleich ablaufen und die Diagnose klar ist, reichen die Angaben der Anzahl der Attacken und der Tage mit Akutmedikation. Ist die Diagnose noch unklar, sind weitere Informationen über Begleitsymptomatik und Attackendauer sehr hilfreich. Welche Fragen führen zur Diagnose? Gaul: Zunächst lasse ich die Patient*innen frei von ihrer Kopfschmerzerkrankung berichten; insbesondere lasse ich mir eine Attacke mit Vor- und Begleitsymptomen ausführlich schildern. Gezielt frage ich dann nach Licht- und Geräuschempfindlichkeit sowie Übelkeit. Typisch für die Migräne ist die Zunahme der Kopfschmerzen bei körperlicher Anstrengung; häufig gehen dann auch zunächst drückende Kopfschmerzen in ein Pulsieren über. Um herauszufinden, ob ein Rückzugs- und Ruhebedürfnis besteht, lohnt sich die Frage: „Was würden sie am liebsten bei Kopfschmerzattacken tun?“ Dann berichten die Patient*innen, dass sie sich am liebsten hinlegen und ausruhen würden. Dies erwähnen sie ohne die Nachfrage nicht, weil sie oft nicht die Gelegenheit zum Ausruhen haben, z.B. am Arbeitsplatz. Regelhaft frage ich die Patient*innen danach, was zur Schmerzverstärkung führt. Viele können typische Situationen wie Nachtdienst oder Schlafmangel nennen, nach denen sehr häufig Kopfschmerzattacken auftreten. Wie nützlich ist ein strukturierter Fragebogen, den die Patient*innen im Vorfeld ausfüllen? Gaul: Ein strukturierter Fragebogen hilft, in der Sprechstunde Zeit zu sparen, denn man kann sich rasch einen Überblick verschaffen – und noch wichtiger: Die Patient*innen sind vorbereitet und können über ihre Dauermedikation oder ihre Begleiterkrankungen Auskunft geben. Spätestens bei der Verordnung von prophylaktischer Medikation ist es wichtig zu wissen, ob Bluthochdruck oder Asthma bronchiale vorliegen oder weitere Medikamente eingenommen werden, die zu Interaktionen führen können. Den Patient*innen sind solche Zusammenhänge nicht klar, deshalb müssen sie aktiv erfragt werden. Migräne: die wichtigsten Schritte zu Diagnose und Akuttherapie Das ausführliche Anamnesegespräch ist entscheidend. Mit einem strukturierten Anamnesefragebogen gewinnen Sie Zeit und Übersicht. Das Führen eines Kopfschmerztagebuches ist hilfreich. Wichtige Differenzialdiagnosen sind z.B. Spannungskopfschmerz, Clusterkopfschmerz, Kopfschmerz durch Medikamentenübergebrauch, selten sekundäre Kopfschmerzen. Migräneattacken sind inter- und intraindividuell sehr unterschiedlich und erfordern eine gezielte personalisierte Akuttherapie. Neben einfachen Analgetika stehen für mittelschwere und schwere Attacken sieben Triptane in vier verschiedenen Darreichungsformen für eine effektive Schmerzlinderung und nachhaltige Besserung der Lebensqualität zur Verfügung. Was sind wichtige Differenzialdiagnosen? Auf welche Warnzeichen ist zu achten? Gaul: Spannungskopfschmerz und Clusterkopfschmerz hatte ich ja bereits erwähnt. Bei nächtlichen Kopfschmerzen im Alter ist auch an einen primär schlafgebundenen Kopfschmerz (Hypnic Headache) zu denken. Bedrohliche Kopfschmerzerkrankungen wie eine Subarachnoidalblutung oder eine Meningitis treten üblicherweise nicht mit wiederkehrenden Kopfschmerzattacken auf. Umgekehrt können solche Diagnosen jedoch übersehen werden, da bei Migränepatient*innen symptomatische Kopfschmerzen aller Art häufig migräneartigen Charakter haben. Aufhorchen sollte man, wenn eine Patientin bzw. ein Patient berichtet, dass der Kopfschmerz ganz anders ist als seit Jahren bekannt. Neu aufgetretene Kopfschmerzen nach dem 50. Lebensjahr erfordern den Ausschluss sekundärer Kopfschmerzerkrankungen. Auch wenn die übliche Akutmedikation völlig wirkungslos ist, sollte die Diagnose überprüft werden. Begleitsymptome wie Fieber oder Bewusstseinsverlust passen nicht zur Diagnose einer Migräne und erfordern eine entsprechende Diagnostik. Wieviel Zeit sollte man sich für die Erstanamnese nehmen? Gaul: Eher stellt sich hier die Frage, wie viel Zeit man sich nehmen kann. Dies hängt auch mit dem Setting zusammen, in dem man seine Patient*innen sieht. In Kopfschmerzsprechstunden stellen sich häufig Patient*innen mit komplexem, chronifiziertem Verlauf, langer Erkrankungsgeschichte und mehreren erfolglosen Vortherapien vor. Häufig kommt dazu noch ein hoher Leidensdruck in Kombination mit psychischer Komorbidität. Solchen Patient*innen kann man in aller Regel in 15–20 Minuten nicht gerecht werden. Zusätzlich sollten alle Patient*innen, die sich erstmals vorstellen, klinisch-neurologisch untersucht und ein psychopathologischer Befund erhoben werden. Hilfreich können Screening-Fragebögen zur Beeinträchtigung sein, z.B. MIDAS (Migraine Disability Assessment) oder HIT-6 (Headache Impact Test 6), sowie Screening-Fragebögen für psychische Komorbidität, z.B. HADS (Hospital Anxiety and Depression Scale) oder DASS (Depression, Anxiety and Stress Scale). Damit gewinnt man einen ersten Eindruck über die Einordnung der Kopfschmerzen und ihre Auswirkungen auf die Lebensgestaltung. Welche Aspekte sind für die Therapieplanung wichtig? Gaul: Um die Therapie zu planen, ist es wichtig zu wissen, welche Akutmedikation – frei verkäuflich oder verordnet – bereits versucht wurde, ob diese Medikation hilfreich war, zu schwach wirksam oder ob es dann zum Wiederkehrkopfschmerz nach initial erreichter Schmerzfreiheit kam. Patient*innen neigen dazu, Medikation zu sparen – eine unterdosierte Akuttherapie ist jedoch häufig unwirksam, ebenso die zu späte Einnahme. Neben der Auswahl der Substanzen für die Therapie spielt auch die Applikationsform eine Rolle. Es ist wichtig zu wissen, wie rasch sich Anfälle entwickeln, um zu entscheiden, ob eine orale Medikation ausreichend ist. Patient*innen, die über ausgeprägte Übelkeit und Erbrechen berichten, benötigen möglicherweise ein Triptan-Nasenspray oder eine subkutane Injektion von Sumatriptan. Häufig ist auch die Zugabe eines Antiemetikums – Metoclopramid oder Domperidon – notwendig. Was ist im Hinblick auf die Akutmedikation zu beachten? Gaul: Wurden schon verschiedene Analgetika ohne Wirkung eingesetzt, ist die Therapie mit einem Triptan der nächste Behandlungsschritt. Ist ein orales Triptan nicht wirksam gewesen, lohnt sich ein Triptanwechsel. Erfreulicherweise haben wir in Deutschland sieben verschiedene Triptane in vier verschiedenen Applikationsformen zur Verfügung, sodass für die Mehrzahl der Patient*innen eine adäquate Attackenbehandlung möglich ist. Wenn die Akutmedikation wirkt, die Kopfschmerzen jedoch regelmäßig wiederkehren, ist ein Versuch mit einer zusätzlichen Einnahme von Naproxen sinnvoll. Durch seine lange Halbwertszeit kann Naproxen die Rate an Wiederkehrkopfschmerzen deutlich senken. Treten Attacken so rasch eskalierend auf, dass man mit der Akutmedikation regelmäßig zu spät kommt, besteht die Möglichkeit, auf ein Triptan-Nasenspray oder auf die subkutane Injektion von Sumatriptan zu wechseln. Dies gilt insbesondere für Attacken, die aus dem Nachtschlaf entstehen und bei denen die Patient*innen häufig berichten, dass sie mit ihrer Akutmedikation der Attacke immer „hinterherlaufen“. Wenn die Akutmedikation erbrochen wird, kann sie nicht wirken, aber auch ohne Erbrechen ist die gastrointestinale Resorption bei Migräne häufig beeinträchtigt. Dann kann ein Prokinetikum wie Metoclopramid sinnvoll sein. Welchen Stellenwert hat die personalisierte Attackentherapie, insbesondere bei Migränepatient*innen mit schweren und/oder sehr häufigen Kopfschmerzattacken? Gaul: Ziel ist es, durch Fragen zum Ablauf der Attacke (Attackenschwere, Attackendauer, Begleitsymptome) die nötigen Informationen zu erhalten, um den Patient*innen eine optimale, möglichst nebenwirkungsfreie und zuverlässige Attackentherapie anbieten zu können. Die oralen Triptane kann man in solche mit etwas langsamerer Anflutung und längerer Halbwertszeit, z.B. Naratriptan, und solche mit rascher guter Wirksamkeit, z.B. Rizatriptan oder Eletriptan, einteilen. Nasale Triptane haben einen etwas rascheren Wirkeintritt als orale Triptane. Goldstandard für schwere Attacken ist die Injektion von Sumatriptan 6 mg. Damit umgeht man das Problem der eingeschränkten Bioverfügbarkeit und verzögerten Aufnahme. Bei etwa 60% der Betroffenen kann damit eine Schmerzfreiheit innerhalb von zwei Stunden erreicht werden. Die Injektion von Sumatriptan 3 mg ist gegenüber der 6-mg-Dosierung besser verträglich und etwas weniger stark wirksam – etwa 50% der Betroffenen erreichen eine Schmerzfreiheit innerhalb von zwei Stunden. Wann raten Sie zu einer medikamentösen Prophylaxe? Gaul: Eine prophylaktische Behandlung der Migräne sollte dann erfolgen, wenn die Attacken dreimal oder häufiger im Monat auftreten, sehr lange dauern, es wiederholt zum Status migränosus kommt, die Akutmedikation unzureichend wirksam ist, ein Übergebrauch von Akutmedikation droht oder langanhaltende beeinträchtigende Auren bestehen. Kurz: Wenn die Lebensqualität durch die Migräne deutlich eingeschränkt wird. Wann sollten die Patient*innen an Spezialist*innen überwiesen werden? Gaul: Wenn die Diagnose unklar bleibt, komplexe Situationen vorliegen oder die Therapie nicht erfolgreich ist, sollte man sich nicht scheuen, kollegialen Rat in Anspruch zu nehmen. Eine gute Zusammenarbeit kann beiden Seiten helfen. Die Hausärzt*innen setzen die leitliniengerechte Therapie bei der Mehrzahl der Patient*innen ein – das hilft den Patient*innen und entlastet die Spezialist*innen, die sich dann auf die komplexen Fragestellungen konzentrieren können. Einen strukturierten Erstkontakt-Fragebogen zur Kopfschmerz-Anamnese finden Sie im PDF. Impressum „Kopfschmerz-Anamnese: Schnelle und sichere Diagnose der Migräne“ Interview Bericht: Dr. Kirsten Westphal, Heimstetten Artikel als Beilage in MMW – Fortschritte der Medizin, Band 164 Heft 5, März 2022 Mit freundlicher Unterstützung der Hormosan Pharma GmbH, Frankfurt am Main Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Annette Schilling Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden.

Springer Medizin

Bitte loggen Sie sich ein, um Zugang zu diesem Inhalt zu erhalten