Neue Leitlinienempfehlungen und ihre Konsequenzen für die Praxis

Mit der kontinuierlichen Entdeckung zielgerichtet therapierbarer Treibermutationen beim nicht kleinzelligen Lungenkarzinom (NSCLC) nehmen auch die Zulassungserweiterungen und Neuzulassungen zu. Schnell ändern sich damit auch die Therapiealgorithmen, sodass die Leitlinienempfehlungen in regelmäßigen Abständen angepasst werden müssen. Die aktualisierte S3-Leitlinie Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms enthält wichtige Neuerungen [1], die es nun auch im Praxisalltag zu implementieren gilt. Wesentliche Neuerungen der S3-Leitlinie zur Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge des Lungenkarzinoms [1] betreffen Diagnostik/Früherkennung, Pathologie, NSCLC der Stadien I und II und operables Stadium IIIA, NSCLC im nichtoperablen Stadium III, Systemtherapie beim Plattenepithelkarzinom ohne Treibermutation, Systemtherapie beim Nichtplattenepithelkarzinom ohne Treibermutation, Systemtherapie bei Treibermutation, Behandlung des kleinzelligen Lungenkarzinoms (SCLC) im Stadium IV und Grundsätze des Therapiemanagements. Zur Diagnostik und Früherkennung soll laut neuen Empfehlungen ein Computertomographie-Screening für asymptomatische Risikopersonen (nach Zulassung der Behörden) durchgeführt werden, erklärte Prof. Dr. Wolfgang Schütte, Ärztlicher Direktor und Chefarzt, Klinik für Innere Medizin II, Krankenhaus Martha-Maria, Halle-Dölau. Das Lungenscreening bei 50–74-jährigen Raucherinnen und Rauchern senkte in einer Studie mit 15.792 Teilnehmenden das Risiko, innerhalb der nächsten zehn Jahre zu Versterben, um 24% bei den Männern bzw. 33% bei den Frauen [2]. Für inzidentelle solide Lungenrundherde außerhalb von Screeningprogrammen wurde in der S3-Leitlinie ein initialer Abklärungsalgorithmus erarbeitet [1]. Testung auf therapierbare Treibermutationen Bezüglich der Pathologie werden in der aktuellen Leitlinie folgende molekulare Testungen empfohlen: Von allen NSCLC im Stadium IV sollen molekularpathologische Untersuchungen anhand des zur Verfügung stehenden Tumorgewebes hinsichtlich aller therapeutisch relevanten molekularen Veränderungen, u.a. RET-Fusionen (Therapieoption z.B. mit Selpercatiniba, b), eingeleitet werden. Bei nicht ausreichendem Gewebe soll eine Liquid Biopsy durchgeführt werden. Frühe Stadien sollen auf EGFR-Mutationen getestet werden. Eine molekulare Testung soll auch in der Rezidivsituation erfolgen. Bei NSCLC-Patientinnen und -Patienten mit Plattenepithelkarzinom und Nicht-Plattenepithelkarzinom hat sich das therapeutische Spektrum bei fehlenden Treibern sowohl bei einer PD-L1-Expression ≥50% als auch unabhängig vom PD-L1-Status erweitert, konstatierte Schütte. Liegt eine Treibermutation vor, wird eine spezifische Therapie in Abhängigkeit vom molekularen Treiber empfohlen. Unter den therapierbaren genetischen Alterationen werden EGFR, ALK, ROS1, BRAFV600, NTRK 1–3, RET, MET-Exon-14-skipping und KRASG12C angeführt. Schließlich wurden bezüglich der Grundsätze des Therapiemanagements neue Empfehlungen zur Erstvorstellung und Therapiemodifikation formuliert: Jede(r) neu diagnostizierte Patientin/Patient mit Lungenkarzinom soll einem thoraxonkologischen Tumorboard vorgestellt werden. Entsprechend der individuellen Behandlungssituation sollten Therapiemodifikationen zum Vorteil der Patientin/des Patienten vorgenommen werden. Herausforderungen der Zweitlinientherapie begegnen Die Zweitlinientherapie ist herausfordernd, auch weil die Studien zu den Leitlinienempfehlungen bei Tumoren ohne molekulare Treiber aus der Prä-Immuntherapie-Ära stammen. Wie die neuen Leitlinien als Hilfestellung im klinischen Alltag verwendet werden können, diskutierte Dr. Sylvia Gütz, Chefärztin der Inneren Medizin I, St. Elisabeth-Krankenhaus, Leipzig. Beim NSCLC ohne therapierbare genetische Alterationen im Stadium IV schaue man im ersten Schritt nach der PD-L1-Expression. Sind es mehr als 50% der Tumorzellen, die PD-L1 exprimieren, stünden beim Plattenepithelkarzinom als auch beim Nicht-Plattenepithelkarzinom verschiedene Immun-Monotherapien in der Erstlinie zur Verfügung. Für Patientinnen und Patienten mit PD-L1 <50% greife man auf Immunchemo-Kombinationen zurück. Bei Progress unter platinbasierter (Immun-)Chemotherapie könne man in der Zweitlinie, unabhängig von der Histologie, Ramucirumabc in Kombination mit Docetaxel verabreichen. Die Kombination von Chemotherapie und Antiangiogenese sei effektiv, betonte Gütz, wie u.a. in der placebokontrollierten doppelblinden Phase-III-Studie REVEL gezeigt wurde [3]. Das Gesamtüberleben (OS) wurde bei NSCLC-Patientinnen und -Patienten mit der zusätzlichen Gabe von Ramucirumab zu Docetaxel in der zweiten Therapielinie signifikant von median 9,1 Monaten auf 10,5 Monate verlängert (Hazard Ratio [HR] 0,86; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,75–0,98; p=0,023). Ein Ansprechen wurde bei 22,9% der Patientinnen und Patienten im Ramucirumab-Arm versus 13,6% im Placebo-Arm beobachtet [4]. Das progressionsfreie Überleben (PFS) lag bei median 4,5 Monaten versus 3,0 Monate [4]. Antiangiogenese nach Immuntherapie? Es gebe retrospektive Analysen, in denen die Effektivität von Angiogenesehemmung plus Docetaxel nach einer Immunchemotherapie untersucht wurde, so Gütz [5, 6]. Eine deutsche Analyse der Daten von 77 Patientinnen und Patienten aus neun Zentren ergab für die Zweitlinientherapie mit Ramucirumab plus Docetaxel eine Ansprechrate von 32,5% mit einem medianen PFS von 3,9 Monaten und einem medianen OS von 7,5 Monaten (Tabelle 1) [5]. Tabelle 1: Wirksamkeit von Ramucirumab plus Docetaxel nach einer Erstlinientherapie mit ICI/Chemotherapie im Real-World-Setting (modifiziert nach [5]) Springer Medizin Verlag GmbH × An 62 japanischen Zentren wurden 288 Patientinnen und Patienten mit Docetaxel und Ramucirumab behandelt, was zu einem Ansprechen bei 28,8% der Patientinnen und Patienten führte. Das mediane PFS betrug bei dieser Kohorte 4,1 Monate, das mediane OS 11,6 Monate. Diese Ergebnisse übertreffen die der REVEL-Studie [7]. Als Rationale für dieses bessere Ansprechen der antiangiogenen Therapie nach Immuncheckpoint-Therapie verwies Gütz darauf, dass angiogene Wachstumsfaktoren eine bedeutende Rolle beim Progress unter einer immunonkologischen Therapie spielen. Die antiangiogene Therapie führe zu einer Normalisierung der Gefäßstrukturen und einer verbesserten Perfusion der Tumorumgebung, sodass sowohl eine systemische Therapie (z.B. mit einem Zytostatikum) als auch die noch nachwirkende Immuntherapie den Tumor besser erreichen können [8]. Relevanz einer effektiven antiangiogenen Therapie in der Praxis Kasuistik von Dr. Sylvia Gütz, Chefärztin der Inneren Medizin I, St. Elisabeth-Krankenhaus, Leipzig Bei einem 1955 geborenen, nie rauchenden Informatiker stellte sich im September 2021 ein Reizhusten ein, der im November 2021 zur Diagnose eines NSCLC mit mediastinalen Lymphknotenmetastasen sowie einer Metastasierung der Nebenniere und Knochenmetastasen führte. In der Histologie wurde ein TTF1-negatives Adenokarzinom mit einer PD-L1-Expression <1% festgestellt. Die molekulare Testung identifizierte keine therapierbaren, aktivierenden Mutationen oder Fusionen, aber eine prognostisch ungünstige STK11-Mutation. Entsprechend der S3-Leitlinie wurde der Patient mit Carboplatin, Paclitaxel, Bevacizumab und Atezolizumab (11/2021–02/2022) behandelt, denen fünf Applikationen mit Atezolizumab plus Bevacizumab (02/2022–06/2022) und weitere zwei Applikationen mit Atezolizumab folgten (06/2022–08/2022). Im September 2022 kam es zum Tumorprogress, der sich mit einem Reizhusten wie bei Diagnosestellung darstellte. Zusätzlich war die Leistung des Patienten vermindert und er litt unter Antriebslosigkeit. Der Patient erhielt daraufhin als zweite Therapielinie von September bis Dezember 2022 vier Zyklen Docetaxel plus Ramucirumab. Der Reizhusten war nach kurzer Zeit rückläufig und das Allgemeinbefinden verbesserte sich. Im November 2022 wurde in der computertomographischen Bildgebung bereits eine Regredienz aller Tumorläsionen beobachtet, die aktuell zu einer stabilen Situation unter Ramucirumab führte. Mike Auerbach × ALK=anaplastic large cell lymphoma receptor tyrosine kinase; BRAF=B-Raf proto-oncogene, serine/threonine kinase; EGFR=epidermal growth factor receptor; KRAS=kirsten rat sarcoma 2 viral oncogene homolog; MET=mesenchymal epithelial transition receptor; NTRK=Neurotrophe Tyrosin-Rezeptor Kinase; PD-L1=programmed cell death ligand 1; RET=RET proto-oncogene; ROS1=ROS proto-oncogene 1, receptor tyrosine kinase; STK11=serine/threonine kinase 11; TTF1=Thyreoidaler Transkriptionsfaktor 1 a Bedingte Zulassung: Dieses Arzneimittel wurde unter „Besonderen Bedingungen“ zugelassen. Das bedeutet, dass weitere Nachweise für den Nutzen des Arzneimittels erwartet werden [9]. b Selpercatinib (Retsevmo®) ist als Monotherapie zur Behandlung von Erwachsenen mit fortgeschrittenem RET-Fusions-positivem NSCLC zugelassen, die zuvor nicht mit einem RET-Inhibitor behandelt wurden [9]. c Ramucirumab (Cyramza®) ist in Kombination mit Docetaxel indiziert zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit einem lokal fortgeschrittenen oder metastasierten nicht kleinzelligen Lungenkarzinom mit Tumorprogress nach platinhaltiger Chemotherapie [10]. Fachinformationen www.lilly-pharma.de/retsevmo [9] www.lilly-pharma.de/cyramza [10] Literatur www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/lungenkarzinom (letzter Zugriff: 23.3.2023) De Koning HJ et al., N Engl J Med 2020, 382:503–513 Garon EB et al., Lancet 2014, 384:665–673 www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/cyramza-epar-product-information_de.pdf (letzter Zugriff: 3.4.2023) Brückl WM et al., Transl Lung Cancer Res 2021, 10:3093–3105 Nakamura A et al., Eur J Cancer 2023, 184:62–72 Guo F, Cui J, Life Sci 2020, 258:118163 Tozuka T et al., Lung Cancer 2020, 144:71–75 Fachinformation Retsevmo®, aktueller Stand Fachinformation Cyramza®, aktueller Stand Impressum „NSCLC: Leitlinien-Update in der Praxis“ Industriegefördertes wissenschaftliches Symposium anlässlich des 63. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), Düsseldorf, 30. März 2023 Bericht: Dr. Ine Schmale, Westerburg Artikel gedruckt in „Zeitschrift für Pneumologie“ Band 20, Heft 3, Mai 2023 Mit freundlicher Unterstützung der Lilly Deutschland GmbH, Bad Homburg v.d.H. Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Anne Kathrin Steeb Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF-Download: Nicht kleinzelliges Lungenkarzinom - Neue Leitlinienempfehlungen und ihre Konsequenzen für die Praxis

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