Lernziele
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können Sie die 5 häufigsten Ursachen von Bewusstseinsstörungen im Kindes- und Jugendalter benennen.
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ziehen Sie die richtigen Schlüsse aus der klinisch-neurologischen Beurteilung.
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verwenden Sie einen diagnostischen Algorithmus für eine rasche, gezielte Abklärung.
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können Sie die Aussagekraft von Labordiagnostik, Elektroenzephalographie (EEG) und kranialer Bildgebung sicher einordnen.
Einleitung
Intrakranielle Ursachen | Extrakranielle Ursachen |
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Schädel-Hirn-Trauma | Hypoglykämie |
Epileptische Anfälle | Elektrolytentgleisung |
(Meningo‑)Enzephalitis | Intoxikation |
Hirndrucksteigerung | Angeborene Stoffwechselerkrankungen |
Schlaganfall | „Psychogen“ |
Tiefe der Bewusstseinstrübung | Klinische Zeichen |
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Somnolenz | Abnorme Schläfrigkeit, weckbar, befolgt Aufforderungen |
Sopor | Kurze Reaktion auf laute akustische Reize, kein Befolgen von Aufforderungen, adäquate Reaktion auf Schmerzreiz |
Koma | Keine Weckbarkeit auf Außenreize, Augen geschlossen, Reaktion auf Schmerzreiz kann erhalten sein |
Glasgow Coma Scale, normal 15 Punkte; minimal 3 Punkte; <8 Punkte Koma | ||
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Augen öffnen | Spontan | 4 |
Auf Ansprache | 3 | |
Auf Schmerzreiz | 2 | |
Nicht erzielbar | 1 | |
Verbale Reaktion | Orientiert | 5 |
Desorientiert | 4 | |
Unzusammenhängende Worte | 3 | |
Unverständliche Laute | 2 | |
Keine | 1 | |
Motorische Reaktion | Befolgt Aufforderungen | 6 |
Gezielte Abwehr | 5 | |
Ungezielte Abwehr | 4 | |
Abnorme Flexion | 3 | |
Abnorme Extension | 2 | |
Keine | 1 |
James Scale, normal 15 Punkte; minimal 3 Punkte; <8 Punkte Koma Adaptierte Glasgow Coma Scale für Kinder <5 Jahren | ||
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Augen öffnen | Spontan, schaut umher | 4 |
Auf Ansprache oder Anruf | 3 | |
Auf Schmerzreiz | 2 | |
Nicht erzielbar | 1 | |
Verbale Reaktion | Lautiert spontan, spricht Sätze | 5 |
Vermindert, irritabel | 4 | |
Schreien bei Schmerz | 3 | |
Stöhnen bei Schmerz | 2 | |
Keine | 1 | |
Motorische Reaktion | Unauffällige Spontanmotorik | 6 |
Retraktion bei Berührung | 5 | |
Retraktion bei Schmerz | 4 | |
Flexion bei Schmerz | 3 | |
Extension bei Schmerz | 2 | |
Keine | 1 |
Orientierende Anamnese
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Eine rasch eintretende Bewusstseinstrübung lässt an ein epileptisches Ereignis, evtl. auch an einen Schlaganfall/eine Hirnblutung denken.
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Bei Fieber und Bewusstseinstrübung steht die (Meningo‑)Enzephalitis als Differenzialdiagnose im Vordergrund.
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Ausnahmezustände bei vorangehenden Infektionen und/oder eine selektive Diät können Hinweise auf metabolische Krisen im Rahmen seltener angeborener Stoffwechselerkrankungen liefern.
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Bei Säuglingen mit Kindesmisshandlung wird in der Anamnese häufig kein Ereignis berichtet oder ein in Anbetracht der Verletzungen nicht plausibler Unfallhergang geschildert [7].
Internistische Untersuchung
Neurologische Untersuchung
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Zukneifen ohne Grimassieren und ohne Abwehr spricht für ein psychogenes Koma.
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Auch Medikamente können die LR der Pupille beeinflussen: Opioide führen zu beidseitiger Miosis; Amphetamine, Atropin, trizyklische Antidepressiva und Anticholinergika zu beidseitiger Mydriasis.
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Im tiefen Koma kann ein Meningismus erlöschen.
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Bei Todd-Parese sollte sich über mehrere Stunden eine kontinuierliche Besserung des Kraftgrades zeigen, andernfalls muss eine Bildgebung erwogen werden.
Ursachen und Abklärung akuter Bewusstseinstrübungen
Intrakranielle Ursachen
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Ausnahmen sind das Schütteltrauma oder andere Formen der Kindesmisshandlung, bei denen keine wegweisende Anamnese oder inkongruente Angaben erfolgt/erfolgen [7].
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Bei älteren Kindern können vereinzelt nicht fremdbeobachtete Traumen mit Commotio vorkommen.
Erhöhter Hirndruck
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Eine Stauungspapille kann vorliegen. Ihr Fehlen schließt einen erhöhten Hirndruck jedoch nicht aus.
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Sinusvenenthrombosen verursachen eine unspezifische Symptomatik der intrakraniellen Druckerhöhung und müssen in der kranialen Bildgebung mithilfe der Kontrastmittelgabe gesucht werden.
Epileptische Ereignisse
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Handelt es sich um eine postiktale Bewusstseinstrübung, kann ohne therapeutische Maßnahmen ein kontinuierliches Aufklaren erwartet werden. Hierbei muss eine evtl. verabreichte Bedarfsmedikation zur Anfallsunterbrechung (in der Regel Benzodiazepine) berücksichtig werden. Tritt nach einem Anfall ohne Medikamentengabe über 30–60 min keine Besserung der Vigilanz ein, muss rasch eine erweiterte Diagnostik erfolgen [12]. Dies gilt auch für Fieberkrämpfe.
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Bei nonkonvulsiven Anfällen (z. B. Absence-Status) ist ein EEG in der symptomatischen Phase (iktal) diagnostisch. Ein nonkonvulsiver Status kann auch die Manifestation eines Anfallsleidens darstellen.
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Bei „psychogenem Koma“ ist eine unauffällige EEG-Ableitung zum Zeitpunkt der gestörten Reaktionslage beweisend für eine nichtorganische Ursache. Wie bei nichtepileptischen Anfällen ist die Einleitung einer Psychodiagnostik und Psychotherapie angezeigt.
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Ein unauffälliges EEG im asymptomatischen Intervall (interiktal) schließt das Vorliegen einer Epilepsie nicht aus.
(Meningo‑)Enzephalitis
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Bei viraler Enzephalitis kann die Liquorpleozytose fehlen; ebenso kann das cMRI unauffällig sein.
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Das EEG ist unspezifisch, aber sehr sensitiv und zeigt eine diffuse oder regionale Hirnfunktionsstörung.
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Säuglinge weisen bei (Meningo‑) Enzephalitis evtl. dominierend Allgemeinsymptome wie Trinkschwäche, Schläfrigkeit und Berührungsempfindlichkeit auf.
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Intoxikationen, aber auch Stoffwechselentgleisung können sehr ähnliche „enzephalitiforme“ Symptome verursachen.
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Die Diagnose einer Autoimmunenzephalitis basiert auf dem Nachweis spezifischer neuronaler Antikörper im Plasma und/oder im Liquor - daher immer ein „Reservepärchen“ abnehmen.
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Bei ADEM (s. Kasuistik) sollte nach Antikörpern gegen das Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG) gesucht werden, die einen monophasischen Verlauf und günstige Prognose anzeigen [16].
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PatientInnen mit Anti-N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor-Autoimmunenzephalitis können sich auch durch primär psychiatrische oder schwere vegetative Symptome, jene mit „Anti-voltage-gated-potassium-channel-complex“- oder Anti-γ-Aminobuttersäure-Rezeptor-Autoimmunenzephalitis mit dem Bild rezidivierender Krampfanfälle oder limbischer Enzephalitis präsentieren.
Vaskuläre Ereignisse
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Der kindliche Schlaganfall wird häufig durch verzögerte Zuweisung sowie Abklärung zu spät erkannt [17].
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Typisch sind der akute Beginn und das Vorliegen eines neurologischen Defizits. Begleitender Kopfschmerz ist möglich.
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Neben angeborenen Herzfehlern ist die Postvarizellenvaskulopathie die zweithäufigste Ursache des kindlichen Schlaganfalls.
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Das Zeitfenster für eine Lysetherapie oder Thrombektomie ist eng begrenzt; diese Maßnahmen werden nur bei thrombotischen Ereignissen in Betracht gezogen.
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Ein Kind mit akutem Schlaganfall muss daher umgehend in ein pädiatrisches Stroke-Zentrum verlegt werden.
Extrakranielle Ursachen
Störungen der Glucosehomöostase und des Elektrolythaushaltes
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Bis zum Alter von 4 bis 5 Jahren können Unterzuckerungen bei asthenischen Kindern und verlängerten Fastenperioden in Form einer „physiologischen“ ketotischen Hypoglykämie vorkommen.
Intoxikationen (endogen und exogen)
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Bei jeder unklaren Bewusstseinstrübung sollte neben einem Drogenscreening die Bestimmung von Ammoniak im Serum erfolgen. Diese setzt eine gute präanalytische Logistik mit Kühlung im Eiswasser bzw. rascher Probenverarbeitung voraus, ansonsten erhält man falsch-hohe Ammoniakwerte.
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Bei unklarer Ätiologie soll selbst bei unauffälligen Laborwerten eine Spezialanalytik auf angeborene Stoffwechselerkrankungen durchgeführt werden.
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Die Plasma- und Urinproben sollen im symptomatischen Zeitraum gewonnen werden und eine Bestimmung der Acylcarnitine und Aminosäuren im Plasma sowie Analyse der organischen Säuren im Urin erfolgen.
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Eine erweiterte Diagnostik sollte in Rücksprache mit einem Stoffwechselzentrum geplant und als diagnostischer Notfall angemeldet werden.
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Neugeborenenscreeningprogramme erfassen nur einen Teil der gut behandelbaren angeborenen Stoffwechselerkrankungen und weisen v. a. im Bereich der Harnstoffzyklusstörungen eine diagnostische Lücke auf.
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Patienten mit Migrationshintergrund haben evtl. gar kein Neugeborenenscreeningprogramm durchlaufen.
Fazit für die Praxis
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Die akute Bewusstseinsstörung stellt immer einen Notfall dar – die Beurteilung des Patienten erfolgt nach der ABCDE-Regel.
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Es werden die notfallmäßigen Bestimmungen des Blutzuckers sowie des Elektrolyt- und Säure-Basen-Haushalts durchgeführt.
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Bei unklarer Bewusstseinstrübung (mit oder ohne Fieber) wird Ammoniak im Plasma bestimmt.
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Die Tiefe der Bewusstseinstrübung wird mithilfe der Glasgow Coma Scale (GCS) erfasst und verlaufskontrolliert.
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In der neurologischen Beurteilung ist auf die Bulbusstellung, die Pupillenreaktion, den Muskeltonus, den Atemtypus und ein fokales neurologisches Defizit zu achten.
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Ein postiktaler Zustand sollte eine rasche Aufklarung des Bewusstseins innerhalb von 1–2 h zeigen. (Eine Medikamentengabe ist zu berücksichtigen.)
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Bei Säuglingen und Kleinkindern muss das Vorliegen einer Kindesmisshandlung in Betracht gezogen werden.
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Bei Fieber mit begleitender Bewusstseinstrübung steht die Verdachtsdiagnose einer (Meningo‑)Enzephalitis an erster Stelle.
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In der kranialen Bildgebung wird bei nicht traumatischen Ursachen der Bewusstseinstrübung das kraniale Magnetic resonance imaging (cMRI) bevorzugt.
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Veränderungen im Elektroenzephalogramm (EEG) können einen nonkonvulsiven Status klären oder aber das Ausmaß der Hirnfunktionsstörung belegen.
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Bei einem GCS-Wert <13 Punkte sollte vor einer geplanten Lumbalpunktion eine kraniale Bildgebung erfolgen.