Skip to main content
Erschienen in: Die Ophthalmologie 1/2022

Open Access 08.01.2021 | Postpartale Depression | Kasuistiken

Postpartale Keratopathie

verfasst von: Dr. med. J. Jakob-Girbig, D. Meller

Erschienen in: Die Ophthalmologie | Sonderheft 1/2022

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN

Falldarstellung

Keratopathien mit untypischem klinischem Verlauf und wiederholten Wundkontaminationen sollten an das Vorliegen von Selbstverletzung denken lassen. Vor allem in der sehr vulnerablen postpartalen Phase ist es notwendig, im Falle einer entsprechenden Befundkonstellation umgehend einen interdisziplinären Therapieansatz mit integrierter psychiatrischer Mitbetreuung zu ermöglichen.

Anamnese

Eine 25-jährige Patientin entwickelte ca. 2 Wochen nach komplizierter Spontangeburt mit begleitendem HELLP-Syndrom eine streng einseitige Durchwanderungskeratitis mit zentralem Hornhautulkus des linken Auges. Sie wurde daraufhin extern bei Nachweis koagulasenegativer Staphylokokken im Bindehautabstrich antibiogrammgerecht mittels Chloramphenicol-Augensalbe und Levofloxacin-Augentropfen rezidivierend stationär behandelt. Bei zunehmender Befundprogredienz mit Visusabfall auf Handbewegungen wurde uns die Patientin 2 Monate postpartal zuverlegt.

Klinischer Befund

Es konnte am rechten Auge ein Visus von 0,2 LogMAR und am linken Auge von Lichtscheinprojektion ermittelt werden. Der Vorderabschnitt rechts zeigte mit einer glatten, klaren Hornhaut, reizfreier Bindehaut, fehlendem Vorderkammerreiz und altersentsprechender Linse einen unauffälligen Befund. Auch der Fundus rechts entsprach einem altersentsprechenden Normalbefund. Der Vorderabschnitt des linken Auges hingegen zeigte eine extreme Injektion der Bindehaut, eine in toto getrübte Hornhaut mit einem flächigen zentralen Ulkus und einer mitteltiefen Vorderkammer ohne sichtbare Details. Auffällig waren multiple schwarze Anlagerungen eines stoffähnlichen Materials im Bereich der Hornhaut (Abb. 1). Sonographisch konnten eine zirkulär anliegende Netzhaut und ein infiltratfreier Glaskörper dargestellt werden.

Verlauf

Zur stationären Aufnahme wurde das stoffähnliche Material von der Hornhaut links entfernt und ein erneuter Bindehautabstrich genommen. Es wurde Gentamycin subkonjunktival appliziert, die übrige Lokaltherapie vorerst belassen und eine Augenklappe verordnet. Die Patientin wurde darauf hingewiesen, am Auge nicht zu reiben und die Augenklappe zu belassen.
Am nächsten Tag zeigte sich ein stabiler Befund ohne weiteres Flusenmaterial (Abb. 2).
Am Folgetag jedoch fanden sich erneut massive Anlagerungen am linken Auge und eine beginnende Einschmelzung des Ulkus (Abb. 3). Im Kontakt wirkte die Patientin seit Aufnahme affektverflacht und wenig zugewandt. Fragen wurden von ihr nur sehr knapp beantwortet, und Blickkontakt war kaum möglich. In Zusammenschau der Befunde wurde der Verdacht auf eine Manipulation ihrerseits immer wahrscheinlicher, sodass der psychiatrische Konsildienst hinzugezogen wurde. Hierbei wurde der Verdacht auf eine depressive Episode bzw. auf eine artifizielle Störung geäußert. Die Patientin lehnte allerdings entsprechende therapeutische Maßnahmen ausdrücklich ab. Nach Eingang des mikrobiologischen Befundes erfolgte eine Umstellung der Lokaltherapie auf Gentamycin- und Ofloxacin-Augentropfen, und es wurden Gentamycin und zusätzlich Dexamethason subkonjunktival appliziert.
Im weiteren Verlauf kam es zum Fortschreiten des Ulkusbefundes mit rezidivierenden flusenartigen Anlagerungen. Unter Einbeziehung des Ehemannes und intensiver Gesprächsangebote psychiatrischerseits räumte die Patientin eine zunehmend gedrückte Stimmung seit der Geburt ihres Kindes ein, wobei die Manipulation am Auge weiterhin verneint wurde. Somit wurde die Diagnose einer postpartalen Depression mit begleitendem selbstverletzendem Verhalten gestellt. Die Lokaltherapie war bei fortschreitendem Befund zwischenzeitlich um Voriconazol Augentropfen erweitert worden.
Schließlich stimmte die Patientin einer antidepressiven medikamentösen Behandlung zu, und eine orale Therapie mit Sertralin wurde eingeleitet. Hierunter kam es zu einer raschen Stabilisierung der allgemeinen Stimmungslage der Patientin, und auch die flusenartigen Anlagerungen am linken Auge waren nicht mehr nachweisbar.
Bei therapieresistenter Erosio corneae links wurde im Verlauf 2‑malig eine Amnionmembrandeckung erforderlich, die komplikationslos durchgeführt wurde. Nach 40 Tagen stationärem Aufenthalt wurde die Patientin in die Häuslichkeit entlassen.
Zur bisher letzten ambulanten Befundkontrolle zeigte sich am linken Auge eine in toto vaskularisierte Hornhaut mit ausgeprägter zentraler Eintrübung und verschlossenem Epithel (Abb. 4). Der Visus lag bei Handbewegungen. Es wurde eine Lokaltherapie mit Dexa Sine Augentropfen und hyaluronsäurehaltigen Pflegepräparaten ordiniert.
Im Verlauf soll über die Durchführung keratoregenerativer Eingriffe wie Limbusstammzelltransplantation und Keratoplastik entschieden werden.

Diskussion

Augenverletzungen stellen eine ungewöhnliche, aber sehr wichtige Form von selbstverletzendem Verhalten dar [1]. Dabei findet sich ein breites Spektrum möglicher Verletzungsarten, das von milden Vorderabschnittstraumata bis hin zur Selbstenukleation reicht [2]. Am häufigsten werden die eigenen Finger zur Beibringung der Verletzungen genutzt, aber auch Instrumente wie Scheren, Messer [3] oder Rasierklingen [4] kommen zum Einsatz. Mögliche Ursachen dieses Verhaltens sind Schizophrenien, durch Substanzmissbrauch induzierte Psychosen, Zwangsstörungen, mentale Retardierung, rituelle Praktiken, organische Erkrankungen, wie z. B. Neurosyphilis oder strukturelle Hirnverletzungen, Depressionen [2] und auch Autismus [5].
Die ersten 12 Monate nach der Geburt eines Kindes stellen für jede Mutter eine sehr vulnerable Phase dar, innerhalb derer es zu ausgeprägten körperlichen, seelischen und sozialen Veränderungen kommt [6]. Vor allem innerhalb der ersten 3 Monate postpartal ist die Inzidenz neu auftretender psychischer Erkrankungen hoch [7]. So leiden 8–15 % der Neumütter unter postpartalen Depressionen [8]. Frauen, die postpartal Symptome von Depression oder Angststörung zeigen, haben ein erhöhtes Risiko für selbstverletzendes Verhalten [9]. Sollte dies auftreten, erhöht sich wiederum das Risiko eines späteren Suizides [10].
Im vorliegenden Fall führte eine postpartale Depression zu einem schweren selbstverletzenden Verhalten, welches sich gegen das linke Auge der Patientin richtete. Erst durch den untypischen Krankheitsverlauf und die sich wiederholende Kontamination des Auges mit Stoffpartikeln wurde der Verdacht auf Selbstverletzung gestellt. Da sich auch das übrige Verhalten der Patientin im sozialen Kontext als auffällig erwies, konnte unter psychiatrischer Mitbeurteilung schließlich die Diagnose einer postpartalen Depression mit begleitendem selbstverletzendem Verhalten gestellt und die Patientin einer entsprechenden Therapie zugeführt werden.
In der Literatur konnten keine weiteren Beispiele für selbst beigebrachte Augenverletzungen im Rahmen einer postpartalen Depression gefunden werden. Aufgrund der Schwere des Krankheitsbildes und der möglichen Folgekomplikationen, v. a. im Hinblick auf die erhöhte Suizidrate, ist es aus unserer Sicht sehr entscheidend, diese mögliche Diagnose zu kennen und bei entsprechenden Befundkonstellationen in differenzialdiagnostische Überlegungen einzubeziehen.

Fazit für die Praxis

  • Erkrankungen von Müttern innerhalb der postpartalen Phase bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit.
  • Untypische Krankheitsverläufe und sich wiederholende Wundkontaminationen sollten an selbstverletzendes Verhalten denken lassen.
  • Bestätigt sich der Verdacht auf selbst beigebrachte Augenverletzungen, ist es empfehlenswert, sich an die entsprechenden psychiatrischen Kollegen zu wenden.
  • Die Therapieplanung und -durchführung sollte interdisziplinär erfolgen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

J. Jakob-Girbig und D. Meller geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Die Ophthalmologie

Print-Titel

  • Umfassende Themenschwerpunkte mit klaren Handlungsempfehlungen
  • Praxisrelevante CME-Fortbildung in jedem Heft
  • Organ der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

Literatur
1.
Zurück zum Zitat Favazza AR (1998) The coming age of self-mutilation. J Nerv Ment Dis 186(5):259–268CrossRef Favazza AR (1998) The coming age of self-mutilation. J Nerv Ment Dis 186(5):259–268CrossRef
2.
Zurück zum Zitat Patton N (2004) Self-inflicted eye injuries: a review. Eye (Lond) 18:867–872CrossRef Patton N (2004) Self-inflicted eye injuries: a review. Eye (Lond) 18:867–872CrossRef
3.
Zurück zum Zitat Stannard K et al (1984) Oedipism reviewed: a case of bilateral ocular self-mutilation. Br J Ophthalmol 68:276–280CrossRef Stannard K et al (1984) Oedipism reviewed: a case of bilateral ocular self-mutilation. Br J Ophthalmol 68:276–280CrossRef
4.
Zurück zum Zitat Riedl JC et al (2019) Selbstverletzung am Auge. Ophthalmologe 116:372–375CrossRef Riedl JC et al (2019) Selbstverletzung am Auge. Ophthalmologe 116:372–375CrossRef
5.
Zurück zum Zitat Felfeli T, Mireskandari K (2018) Eye complications from self-injury in a child. CMAJ 190:E114CrossRef Felfeli T, Mireskandari K (2018) Eye complications from self-injury in a child. CMAJ 190:E114CrossRef
6.
Zurück zum Zitat Meltzer-Brody S et al (2018) Postpartum psychiatric disorders. Nat Rev Dis Primers 4:18022CrossRef Meltzer-Brody S et al (2018) Postpartum psychiatric disorders. Nat Rev Dis Primers 4:18022CrossRef
7.
Zurück zum Zitat Jones I et al (2014) Bipolar disorder, affective psychosis and schizophrenia in pregnancy and the post-partum period. Lancet 384:1789–1799CrossRef Jones I et al (2014) Bipolar disorder, affective psychosis and schizophrenia in pregnancy and the post-partum period. Lancet 384:1789–1799CrossRef
8.
Zurück zum Zitat Gavin NI et al (2005) Perinatal depression: a systematic review of prevalence and incidence. Obstet Gynecol 106:1071–1083CrossRef Gavin NI et al (2005) Perinatal depression: a systematic review of prevalence and incidence. Obstet Gynecol 106:1071–1083CrossRef
9.
Zurück zum Zitat Pope CJ et al (2013) A prospective study of thoughts of self-harm and suicidal ideation during the postpartum period in women with mood disorders. Arch Womens Ment Health 16:483–488CrossRef Pope CJ et al (2013) A prospective study of thoughts of self-harm and suicidal ideation during the postpartum period in women with mood disorders. Arch Womens Ment Health 16:483–488CrossRef
10.
Zurück zum Zitat Johannsen BM et al (2020) Self-harm in women with postpartum mental disorders. Psychol Med 50:1563–1569CrossRef Johannsen BM et al (2020) Self-harm in women with postpartum mental disorders. Psychol Med 50:1563–1569CrossRef
Metadaten
Titel
Postpartale Keratopathie
verfasst von
Dr. med. J. Jakob-Girbig
D. Meller
Publikationsdatum
08.01.2021
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Ophthalmologie / Ausgabe Sonderheft 1/2022
Print ISSN: 2731-720X
Elektronische ISSN: 2731-7218
DOI
https://doi.org/10.1007/s00347-020-01315-y

Weitere Artikel der Sonderheft 1/2022

Die Ophthalmologie 1/2022 Zur Ausgabe

Neu im Fachgebiet Augenheilkunde

Update Augenheilkunde

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.