Kommunikation in Psychotherapien findet auf unterschiedliche Art und Weise statt. Neben der verbalen Ebene sind Therapiegespräche ebenfalls von der Bewegungsform der Patient*innen und Therapeut*innen geprägt: Das Bewegungsverhalten der Hände geschieht zumeist unbewusst und lässt sich während der gesamten Interaktion beobachten (Lausberg
2013). Nonverbales Bewegungsverhalten korreliert mit dem Wohlbefinden von Patient*innen während ärztlicher Anamnesegespräche (Little et al.
2015; Kraft-Todd et al.
2017; Schmid Mast
2007): Dabei hängt das Wohlbefinden von Patient*innen mit Verhaltensweisen wie Augenkontakt und physischer Nähe der Ärztin oder des Arztes zusammen (Schmid Mast
2007). Ärzt*innen mit offener Körperhaltung und mit Augenkontakt wurden von Patient*innen empathisch wahrgenommen, im Vergleich zu geschlossener Körperhaltung und keinem direktem Augenkontakt (Kraft-Todd et al.
2017).
In Psychotherapien werden durch systematische Beobachtung des Bewegungsverhaltens z. B. Symptomveränderungsprozesse und Informationen zur therapeutischen Arbeitsbeziehung erfasst.
Irreguläre Bewegungen bei Patient*innen, die aus feinen, kontinuierlichen Finger- oder Handbewegungen mit geringer Amplitude bestehen (Lausberg
2013), korrelieren mit der Schwere einer depressiven Symptomatik bei Angstpatient*innen (Reinecke et al.
2020). Zudem wurde ein Zusammenhang zwischen einer Gehirnerschütterung, Auffälligkeiten im Handbewegungsverhalten und anhaltenden psychischen Beschwerden nachgewiesen (Helmich und Lausberg
2019). Das Bewegungsverhalten von Patient*innen wurde in Verbindung mit ihrer klinischen Symptomatik analysiert: Patient*innen mit einer sozialen Phobie führen häufig Zappel- und Knibbelbewegungen aus (Heerey und Kring
2007), die hinsichtlich der Bewegungsstruktur mit irregulären Bewegungen gleichzusetzen sind (Lausberg
2013; Reinecke et al.
2020). Frequenz und Zeitanteil von Handbewegungen am Körper nehmen nach der Besserung der klinischen Symptome signifikant ab (Lausberg und Kryger
2011). Nach einer abgeschlossenen Psychotherapie haben sich die Patient*innen bezüglich der irregulären Bewegungen sowie der Bewegungsaktivität den Bewegungen der Therapeut*innen angenähert (Kreyenbrink et al.
2017). Die Psychotherapieforschung befasst sich außerdem mit dem Ausmaß von Synchronie der Bewegungen von Patient*innen und ihren Therapeut*innen innerhalb der Psychotherapiesitzung und stellt diese in Bezug zur Symptomatik (Ramseyer und Tschacher
2011,
2014; Ramseyer
2019). Auch Veränderungen in Simultanbewegungen zwischen Patient*in und Therapeut*in korrelieren im Therapieverlauf mit Symptomveränderungen (Reinecke et al.
2022). Die Koordination beider Hände erscheint im Zusammenhang mit Symptomveränderungen ebenfalls bedeutsam (Reinecke et al.
2021). Innerhalb von psychotherapeutischen Interaktionen finden sich somit bei Patient*innen und deren Therapeut*innen Auffälligkeiten in der Bewegungsstruktur, in Simultanbewegungen und in der Koordination der Hände, die sich in reduzierter Expressivität und Flexibilität ausdrücken (Reinecke
2022).
Analysen von Bewegungen im Rahmen der Gespräche zwischen Patient*innen und Therapeut*innen haben zudem gezeigt, dass Gesten als Indikatoren von Therapieprozessen gelten: Eine Patientin mit einer Anorexia nervosa lokalisierte ihre Mutter zu Beginn der Psychotherapie mit einer Zeigegeste auf den eigenen Körper. Jedes Mal, wenn sie über ihre Mutter sprach, richtete sie den Zeigefinger auf ihren Körper, z. B. die Bauchregion. Im Laufe der Therapie modifizierte sich die Geste so, dass die Patientin die Mutter zum Therapieende mit einer Zeigegeste in den Raum, abseits ihres Körpers, lokalisierte. Nicht nur auf verbaler und emotionaler Ebene, sondern zusätzlich auf nonverbaler Ebene manifestierten sich die Symptomverbesserung und die Entwicklung der Patientin (Lausberg & Kryger,
2011). Zudem werden Selbstberührungen im Therapieverlauf seltener ausgeführt (Lausberg & Kryger,
2011).
Körpersprache hat im Vergleich zum verbalen Inhalt von Gesprächen eine hohe Bedeutung (Mehrabian
1971), trotzdem wird dies in der praktischen Psychotherapie vernachlässigt oder bislang nur unsystematisch berücksichtigt. Um das nonverbale Verhalten im Rahmen von Gesprächen mit Patient*innen nutzen zu können, stellen die auf der klinischen Forschung mit NEUROGES®-ELAN basierenden NEUROGES®-Kurzskalen (vgl. Lausberg,
2018, Abb.
1,
2 und
3) ein Tool für die systematische Bewegungsanalyse in der klinischen Praxis dar. Die vorgestellte Kasuistik veranschaulicht die praktische Anwendung der Kurzskalen zur systematischen Analyse des Bewegungsverhaltens in der Therapiesitzung exemplarisch.