Periphere arterielle Tonometrie als leitliniengerechte Alternative zur kardiorespiratorischen Polygraphie

Die ambulante schlafmedizinische Diagnostik ist auch für niedergelassene Fachärzte für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde interessant, die schlafbezogene Atmungsstörungen und ihre Folgen diagnostizieren und behandeln. Welche Möglichkeiten verfügbar sind, und worin sie sich unterscheiden, erklärte Prof. Dr. Boris A. Stuck, Direktor der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde am Universitätsklinikum Marburg. Prof. Dr. Boris A. Stuck, Direktor der Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Universitätsklinikum Marburg Stuck × 2020 wurde die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Schlafmedizin (DGSM) zu den schlafbezogenen Atmungsstörungen teilweise aktualisiert. Was ist neu und Ihrer Ansicht nach interessant in der Diagnostik von Schlafstörungen? Stuck: Neben vielen kleinen Änderungen ist aus meiner Sicht die wichtigste Neuerung, dass zur ambulanten Diagnostik jetzt als alternatives Verfahren zur klassischen kardiorespiratorischen Polygraphie auch die periphere arterielle Tonometrie (PAT™) in der Leitlinie verankert ist [1]. Worum handelt es sich bei der PAT-Technologie und inwiefern ist sie eine Alternative zu den verfügbaren Lösungen? Stuck: Die PAT wurde zwar schon vor mehr als 20 Jahren entwickelt, ist aber erst kürzlich in die Leitlinie als Alternative zur kardiorespiratorischen Polygraphie in der ambulanten Diagnostik für Patienten aufgenommen worden, bei denen auf Basis der Anamnese und der klinischen Untersuchung eine hohe Prätest-Wahrscheinlichkeit für eine schlafbezogene Atmungsstörung besteht. Beide Untersuchungsverfahren sind als nächster diagnostischer Schritt zur Bestätigung des Verdachts und zur Einteilung des Schweregrads vorgesehen. Als Alternative zu der seit Jahrzehnten etablierten kardiorespiratorischen Polygraphie ist sie interessant, da man sich der Diagnose schlafbezogener Atmungsstörungen mit der PAT-Technologie (WatchPAT™) auf einem ganz anderen Weg nähert. Während die Polygraphie die Atmung direkt aus dem Atemfluss aufzeichnet, misst die Tonometrie keine Luftflüsse, sondern neben dem Sauerstoffgehalt des Blutes vor allem den peripheren arteriellen Gefäßtonus. Anhand dieses Verlaufs und weiterer Parameter, z.B. der von einem Aktigraphen erfassten Bewegung oder der Atemgeräusche etc., kann man so auch ohne direkte Messung des Atemflusses Aussagen über respiratorische Ereignisse wie Atempausen treffen. Und das quasi indirekt, indem die Reaktion des Herz-Kreislauf-Systems auf eine Atemunterbrechung erfasst wird. Welche Vorteile bietet die PAT-basierte Technologie in der klinischen Praxis? Stuck: Die PAT-Technologie bietet eine Reihe von Vorteilen: Zum einen kommt sie mit deutlich weniger Sensorik aus als die Polygraphie. Bei der Polygraphie werden ein Bauchgurt, ein Brustgurt und eine Staudruckbrille an Mund und Nase benötigt. Das kann die Schlafqualität stören und ist zudem relativ artefaktanfällig. Bei der PAT-Technologie wird hauptsächlich ein Fingersensor genutzt, sie hat also weniger Ableitkanäle und ist angenehmer zu tragen. Ein weiterer Vorteil ist, dass man mit der PAT relativ stabil Schlaf und Schlafstadien erfassen kann. Dabei wird der REM-Schlaf durch eine deutliche PAT-Signalabschwächung in Verbindung mit einem speziellen Signalmuster in der PAT-Amplitude angezeigt; REM- und Non-REM-Schlafphasen können zuverlässig durch spezielle Signalmuster der PAT- und Pulswellensignale erkannt werden [z.B. 2, 3] und zusätzlich liefert ein Algorithmus Informationen zur Unterscheidung von Wach- und Schlafphasen [4, 5]. Das ist auch qualitativ ein entscheidender Unterschied, da wir respiratorische Störungen während des Schlafs untersuchen. Und das zuverlässig, wie eine aktuelle Multizenterstudie zur Validierung der Methode gezeigt hat [6]. Die Polygraphie erfasst nicht, ob der Patient geschlafen hat oder nicht, und die Wachphasen in der Nacht, in denen der Patient keine Atempausen hat, können dann diagnostisch fehlleiten. Mit der PAT-Technologie haben wir somit eine ambulante Diagnostik, die mit wenig Sensorik die Herz-Kreislauf-Reaktionen auf respiratorische Ereignisse und gleichzeitig die Schlafstadien verlässlich aufzeigt. Methodisch ist das interessant, denn krankheitsrelevant sind wahrscheinlich die Hypoxie und Reoxygenierung, die man in beiden Fällen misst, vor allem aber die Herz-Kreislauf-Reaktion mit dem Arousal und der daraus resultierenden Ausschüttung von Stresshormonen mit Blutdruckanstieg etc. Das kann mit der Polygraphie allenfalls indirekt erfasst werden, z.B. durch einen Anstieg der Herzfrequenz. Die PAT dagegen liefert durch die Erfassung des autonomen Arousals, also der sympathischen Aktivierung des Gefäßsystems, nochmal einen ganz anderen kardiovaskulären Parameter. Inwieweit können Patienten Ihrer Ansicht nach profitieren, wenn der niedergelassene Arzt die PAT-Technologie einsetzt? Stuck: Der Vorteil für den Patienten ist, dass die PAT angenehmer durchzuführen ist. Wir haben gerade eine randomisierte Studie abgeschlossen, die zeigt: 90 % der Patienten bevorzugen die PAT-Technologie, nachdem sie Messungen mit beiden Verfahren mitgemacht haben. Auch die geringere Störanfälligkeit ist ein Vorteil für den Patienten, da damit auch das Risiko für wiederholte Messungen geringer ist. Ein Nachteil ist, dass dieses System in Deutschland bisher nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung vergütet wird. Der zweite Faktor, der den breiten Einsatz der Technologie aktuell noch einschränkt, besteht darin, dass die PAT nicht in der für die Diagnostik schlafbezogener Atmungsstörungen vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) festgelegten Stufendiagnostik akzeptiert ist. Das ist dadurch bedingt, dass der G-BA nicht vorgegeben hat, welche Informationen die ambulante schlafmedizinische Testung bringen muss, sondern dezidiert aufführt, welche Kanäle und Parameter gemessen werden müssen. Vermutlich hat man sich bei der Festlegung nicht vorstellen können, dass mit zukünftigen Techniken die gleichen Informationen auch auf einem anderen Weg würden gesammelt werden können. Könnte die PAT-basierte Diagnostik hinsichtlich Verlässlichkeit und Qualität der Diagnose einer Polygraphie überlegen sein? Stuck: Meine Erfahrung zeigt – aber das ist nicht evidenzbasiert –, dass bei Patienten mit ohnehin schlechter Schlafqualität, Neigung zu Durchschlafstörungen etc., die im Schlaflabor nicht schlafen können und auch mit der Verkabelung bei der Polygraphie nicht gut zurechtkommen, die Home-Sleep-Testung mit der PAT-Technologie Vorteile bietet. Auch können mit dieser Technik relativ einfach mehrere Nächte nacheinander gemessen werden, wobei lediglich der Fingersensor ausgetauscht werden muss. Das Ergebnis wird repräsentativer, da die meist erhebliche Nacht-zu-Nacht-Variabilität in die Diagnose einfließt, was gerade bei Patienten mit grenzwertigen Befunden relevant sein kann. Wie hoch ist der Aufwand für die Auswertung bei der luftstrombasierten und der PAT-basierten Technologie? Stuck: Beide Systeme haben automatische Auswertealgorithmen. Man kann sie überprüfen und überarbeiten, d.h. editieren. Insbesondere bei unklaren oder grenzwertigen Befunden sollte auf alle Fälle eine solche manuelle Editierung erfolgen, unabhängig von der verwendeten Technik. Die PAT ist erst seit Kurzem in o.g. Leitlinie verankert – sind Schlafmediziner mit dieser Methode bereits vertraut? Stuck: Ich habe den Eindruck, dass die PAT-Technologie erst langsam in der deutschen Versorgungslandschaft Fuß fasst. Die neu geschaffene Möglichkeit, die Aufzeichnung manuell zu editieren, hat sicherlich zur zunehmenden Akzeptanz beigetragen. Bisher wird die PAT-Technologie auch in den etablierten Kursen zur Diagnostik und Therapie der schlafbezogenen Atmungsstörungen häufig gar nicht oder nur sehr kursorisch thematisiert. Deshalb entwickeln ein paar Kollegen und ich gerade ein Schulungskonzept. Dabei handelt es sich um eine Online-Video-Schulung, die man zukünftig mit dem Erwerb des Gerätes erhalten wird. Sie besteht aus Vorträgen und Interviews, in denen die Möglichkeiten und Grenzen der Technik vorgestellt werden. Wir arbeiten weiter daran, dass mittelfristig auch ein abgestuftes Curriculum zur Schulung in der Anwendung und Analyse des PAT-Gerätes angeboten werden kann. Seit dem Beginn der Corona-Pandemie beobachten wir eine deutliche Verlangsamung bei allen Aktivitäten, auch was die Schlafdiagnostik betrifft. Wie könnte die PAT-Technologie in dieser Situation von Nutzen sein? Stuck: Als besondere Lösung – gerade für die aktuelle Situation – gibt es inzwischen ein Single-Use-Device basierend auf der PAT-Technologie (WatchPAT™ ONE), das man dem Patienten zuschicken kann. Er kann das Gerät anlegen, die Messung machen, die Daten für den Arzt in die Cloud schicken und das Device dann wegwerfen. Das bietet Vorteile in einer Situation, in der der Patientenkontakt eingeschränkt ist, d.h. Patienten nicht ins Krankenhaus kommen oder keine ambulanten Polygraphien mehr durchgeführt werden können. Produktbild Itamar™-Medical Ltd. × Welches Feedback bekommen Sie von den Patienten zur PAT? Stuck: Von meinen Patienten bekomme ich die Rückmeldung, dass die PAT-Technologie deutlich einfacher anzuwenden ist als z.B. die ambulante Polygraphie. Sie nehmen das Uhr-ähnliche Gerät mit nach Hause, legen es am Handgelenk an und befestigen den Fingersensor und einen weiteren Sensor am Hals. Das dauert wenige Minuten. Ist das Gerät einmal angeschaltet, funktioniert es auch in aller Regel vollständig – während bei der Polygraphie häufig irgendein Sensor keine guten Daten liefert, z.B. weil der Brustgurt oder der Bauchgurt verrutscht ist. Die PAT ist diesbezüglich robuster. Sehen Sie einen Wert dieser Technologie jenseits der Diagnose der Schlaf-Apnoe? Stuck: Das wissen wir nicht. Ich würde sagen: ja. Spannend, auch aus einer wissenschaftlichen Perspektive, ist es zu schauen, was diese autonomen Arousals bedeuten. Die Aktivierung des sympathischen Nervensystems gibt es auch unabhängig von Atmungsstörungen und wir sind gerade sehr daran interessiert zu erforschen, ob die Häufigkeit der Arousals über die reine Häufigkeit der Atmungsstörung hinaus womöglich noch einen anderen Aspekt abbilden. Literatur Stuck et al., Somnologie, published online 09. September 2020, https://doi.org/10.1007/s11818–020–00257–6 Herscovici S et al., Physiol Meas 2007, 28:129–140 Hedner J et al., J Clin Sleep Med 2011, 7:301–306 Weimin I et al., Eur Arch Otorhinolaryngol 2013, 270:3099–3105 Schutte-Rodin S et al., Sleep 2014, 37:A373 Pillar G et al., Sleep and Breathing 2019; https://link.springer.com/article/10.1007/s11325–019–10904–5 Impressum „Ambulante schlafmedizinische Diagnostik: Periphere arterielle Tonometrie als leitliniengerechte Alternative zur kardiorespiratorischen Polygraphie“ Interview Berichterstattung: Ute Ayazpoor, Mainz Artikel 483965 gedruckt in „HNO“ Band 69, Heft 1, Januar 2021 Mit freundlicher Unterstützung der Itamar™-Medical Ltd., Caesarea, Israel Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Sabine Jost Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Ambulante schlafmedizinische Diagnostik - Periphere arterielle Tonometrie als leitliniengerechte Alternative zur kardiorespiratorischen Polygraphie

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