Wenn Haare schneiden schmerzt, eine Verbrühung aber nicht

Menschen mit Autismus empfinden Schmerzen vielfach anders als Gesunde. Schmerzhafte Reize werden mitunter nicht wahrgenommen und an sich harmlose Situationen andererseits als schmerzend empfunden. Das erschwert die Interaktion mit dem Arzt, unmöglich ist sie aber nicht. Die International Association for the Study of Pain (IASP) und die European Pain Federation (EFIC) haben das 2019 zum „Global Year Against Pain in the Most Vulnerable” ausgerufen – zu einem Jahr also, in dem an besonders verwundbare Patientengruppen gedacht werden soll. Dazu zählen sicher auch Patienten mit Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), bei denen die Schmerzwahrnehmung und -kommunikation anders als bei Gesunden funktioniert. Diese Entwicklungsstörung tritt mit einer Prävalenz von schätzungsweise 1:100 bis 1,6:100 auf, wobei Männer dreimal häufiger als Frauen betroffen sind. Um zu verstehen, warum Menschen mit ASS gerade im Bereich Schmerzmedizin besonderer Beachtung bedürfen, hilft ein Blick in das Gehirn der Betroffenen. Autismus sei eine Informationsverarbeitungsstörung, erklärte Björn Ruschinzik, Leiter der Therapiepraxis Autismo in Bochum, auf dem Deutschen Schmerzkongress in Mannheim. In unserem Alltag prasseln jeden Augenblick zahlreiche Sinneseindrücke und Informationen auf uns ein. Während ein gesundes Gehirn filtern könne, was davon wichtig ist und worauf sich das Bewusstsein richten soll, funktioniere dieser Filter bei Autisten nicht. „Die Amygdala ist hypersensitiv. Viel zu viele Informationen werden als wichtig anerkannt.“ Das macht es dem Gehirn schwer zu priorisieren, worauf es fokussieren soll. Hyper- als auch Hypoalgesie Auch falle es vielen Menschen mit Autismus schwer, einzuordnen und zu artikulieren, was sie fühlen. Während Nicht-Autisten beispielsweise Magenknurren eindeutig als Hunger zu benennen vermögen, gelinge das ASS-Betroffenen nicht immer. Genau das könne auch nach einem Schmerzreiz passieren. Da sie viele Sinneseindrücke und Empfindungen als gleichermaßen wichtig wahrnehmen, kommt es oft sowohl zu Hyper- als auch Hypoalgesie. „Es ist schon vorgekommen, dass Autisten sich über einen dampfenden Topf auf dem Herd gebeugt haben, weil sie Teller aus einem Schrank darüber holen wollten, und nicht bemerkt haben, wie sie sich verbrühen“, führte Ruschinzik aus. Andererseits würden auch an sich schmerzlose Situationen – etwa Haareschneiden oder duschen – als schmerzhaft wahrgenommen. Erschwerend kommt hinzu, dass es vielen Menschen mit Autismus schwer fällt, den Schmerz zu lokalisieren und daher beispielsweise angeben: „Irgendwo zwischen meiner Schulter und der rechten Hand.“ Auf eine bildliche Sprache verzichten Als Arzt könne man einige Dinge berücksichtigen, um die Kommunikation und Behandlung mit autistischen Patienten zu erleichtern. So sei es sinnvoll, die optischen und akustischen Reize im Warteraum so gut es geht zu reduzieren, schlug Ruschinzik vor: „Wenn unter anderem die Verwaltungskräfte telefonieren und das Radio läuft, kann das dazu führen, dass die Schmerzwahrnehmung später bei der Behandlung anders wiedergegeben wird, weil der Patient mit Autismus keine Kapazität hatte, sich auf seinen Schmerz zu konzentrieren.“ Wichtig sei auch, dass der Arzt den Patienten nicht etwas fragt, während er ihn gleichzeitig körperlich untersucht. Denn wenn der Betroffene von den Worten des Arztes abgelenkt wird, könne es passieren, dass „auch starke Reize wie Schmerz im Hirn nicht priorisiert behandelt werden, sondern der Reiz möglicherweise gleichwertig ist mit der Information ‚Der Arzt hat mir eine Frage gestellt.‘“ Bei der Kommunikation sollte auf eine bildliche Sprache verzichtet werden, weil ASS-Betroffene diese oft nicht verstehen. Konkret bedeute dies, etwa keine Umschreibungen wie „stumpfer Schmerz“ oder „spitzer Schmerz“ zu verwenden. Als Schmerzskalen böten sich solche an, bei denen die Betroffenen den Schmerz mit ihnen bekannten Empfindungen vergleichen sollten. Sinnvoll könne auch sein, einen Vertrauten des Patienten als eine Art Dolmetscher einzuschalten, der dessen Schmerzen einzuschätzen vermag und bei der Kommunikation helfen kann. Basierend auf: Symbosium „MitGefühl für vulnerable Personengruppen mit Schmerzen – ‚IASP Global Year‘ Thema“, Vortrag „Schmerz (-wahrnehmung) bei Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung“; Deutscher Schmerzkongress, 11.10.2019, Mannheim

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