Einleitung
Sepsis ist ein lebensbedrohliches Organversagen, das durch eine fehlgesteuerte Immunantwort des Körpers auf eine Infektion ausgelöst wird [
1]. Sie kann zu Schock, Multiorganversagen und Tod führen, insbesondere wenn sie nicht früh erkannt und rechtzeitig behandelt wird [
2]. Eine aktuelle Analyse der Global-Burden-of-Disease-Studie schätzt, dass weltweit 49 Mio. Menschen an Sepsis erkranken und 20 % der globalen Todesfälle mit Sepsis assoziiert sind [
3]. Häufig tritt die Sepsis als Komplikationen nichtübertragbarer Erkrankungen und nach Unfällen auf [
3]. Sie stellt auch die Gesundheitssysteme von Industriestaaten vor große Herausforderungen [
4].
Todesfälle im Zusammenhang mit Sepsis und mögliche regionale Unterschiede sind in Deutschland bisher unzureichend erforscht. Sepsis wird in der Systematik der Todesursachen als „intermediär“ oder „unmittelbar zum Tod führende Erkrankung“ klassifiziert. Da nur das ursächliche Grundleiden in die deutsche Todesursachenstatistik einfließt („monokausale Aufbereitung“), kann eine direkte Abschätzung der sepsisassoziierten Todesfälle über diese Datenquelle nicht erfolgen. Eine erste Schätzung der sepsisassoziierten Todesfälle in Deutschland lieferte in 2020 die Global-Burden-of-Disease-Studie, in der die Daten multikausaler Todesursachenstatistiken aus 4 Ländern (USA, Brasilien, Mexiko, Taiwan) unter Adjustierung für den Zugang und die Qualität des Gesundheitswesens für andere Länder extrapoliert wurden. Die Studie schätzt für Deutschland 54.666 sepsisassoziierte Todesfälle im Jahr 2017 [
3]. Die Genauigkeit dieser Schätzung ist allerdings noch unbekannt und durch die geringe Primärdatenbasis limitiert.
Da sich 87 % der Sepsistodesfälle im Krankenhaus ereignen [
5], kann die Analyse von Krankenhaustodesfällen mit Sepsis zu einem besseren Verständnis sepsisassoziierter Todesfälle beitragen [
6] und wird in vielen Ländern zur Erfassung der Sepsismortalität einer Population verwendet [
7]. Im Jahr 2007 fanden sich, basierend auf einer vorausgegangenen Analyse der deutschlandweiten Krankenhausentlassdaten der fallpauschalenbezogenen Krankenhausstatistik (DRG-Statistik), 26.606 sepsisassoziierte Todesfälle [
8]; bis 2015 hat sich diese Zahl auf 56.875 mehr als verdoppelt [
9].
Ziel dieser Analyse ist es, basierend auf der Datengrundlage DRG-Statistik, sepsisassoziierte Krankenhaustodesfälle in Deutschland mittels unterschiedlicher Identifikationsmethoden zu analysieren und regionale Unterschiede zu beschreiben.
Diskussion
Die vorliegende Studie zeigt für das Jahr 2016, dass in Deutschland 14,1 % der Krankenhaustodesfälle und 6,4 % aller Todesfälle mit krankenhausbehandelter Sepsis nach expliziter Definition assoziiert waren. Der höchste Anteil von sepsisassoziierten Todesfällen fand sich in der Altersgruppe der 40- bis 64-Jährigen; hier waren fast 10 % aller deutschlandweiten Todesfälle mit krankenhausbehandelter Sepsis assoziiert. Ein Drittel der Sepsisverstorbenen hatte im terminalen Krankenhausaufenthalt keine intensivmedizinische Komplexbehandlung erhalten. Die zugrunde liegenden Infektionsfokusse unterschieden sich deutlich zwischen männlichen und weiblichen Verstorbenen; neonatale und maternale Sepsis lagen nur bei einem sehr geringen Teil der Verstorbenen vor. Identifiziert man Sepsis über implizite Codieransätze, das heißt das Vorhandensein eines ICD-10-GM-Codes für Infektion und Organversagen, erhöht sich der Anteil von mit krankenhausbehandelter Sepsis Verstorbenen an allen Todesfällen auf 21,6 %.
Der Anteil von mit explizit codierter Sepsis assoziierten Todesfällen an den deutschlandweiten Todesfällen liegt im Bereich der Ergebnisse von Studien mit Nutzung von expliziten Sepsisidentifikationsverfahren in multikausalen Todesursachenstatistiken. In Italien fand sich ein expliziter Sepsiscode in 6,3 % aller Totenscheine [
16]. In den USA wurden explizite Sepsiscodes bei 6,0 % aller Todesfälle im Totenschein angegeben [
5]. Dort ereigneten sich 87 % dieser Todesfälle im Krankenhaus. Der Anteil von mit implizit codierter Sepsis assoziierten Todesfällen liegt hingegen im Bereich der Schätzungen der Global-Burden-of-Disease Studie von etwa 20 % [
3], wobei ebenfalls ein implizites Identifikationsverfahren genutzt wird. Während explizite Identifikationsverfahren in Krankenhausabrechnungsdaten die Häufigkeit von Sepsis unterschätzen (etwa 2,2-fach nach Schätzungen einer monozentrischen Validierungsstudie [
12]), kann es bei der impliziten Strategie zu einer Überschätzung kommen, weil Infektion und Organdysfunktion nicht zwingend kausal verbunden sind [
17]. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Häufigkeit von sepsisassoziierten Todesfällen höher liegt, als in dieser Studie basierend auf den expliziten Sepsiscodes geschätzt.
Ob Sepsis die zugrunde liegende Todesursache der Patienten war, die während des Krankenhausaufenthalts mit Sepsis verstarben, lässt sich in unseren Daten nicht abschätzen. Das heißt sepsisassoziierte Todesfälle können entweder an oder mit Sepsis verstorben sein. Eine aktuelle US-amerikanische Studie fand, dass Sepsis die direkte Todesursache bei etwa zwei Drittel der Todesfälle war, bei denen Sepsis im terminalen Krankenhaus- oder Hospizaufenthalt vorlag [
18]. Etwa ein Drittel dieser Patienten verstarb nach der Akutphase der Sepsis; allerdings hatte Sepsis nach Sicht der Autoren trotzdem bei über 40 % dieser Patienten zum Versterben beigetragen [
18]. Damit weisen unsere Daten zumindest darauf hin, dass Sepsis eine der häufigsten Todesursachen in Deutschland ist. Im Vergleich waren 6,6 % aller Todesfälle in Deutschland auf einen Schlaganfall (2013) und 5,2 % bzw. 7,1 % aller Todesfälle bei Frauen bzw. Männern auf einen Herzinfarkt zurückzuführen [
19]. Die Krankenhaussterblichkeit dieser Erkrankungen lag im Vergleich bei ca. 9,2–10,5 % bei Schlaganfall (in Krankenhäusern mit bzw. ohne Spezialeinheiten für Schlaganfallpatienten; [
19]) und 11,3 % bei Herzinfarkt [
20].
Zur Akutsterblichkeit der Sepsis kommt außerdem eine relevante Langzeitsterblichkeit der Patienten, für die eine durch epigenetische Veränderungen hervorgerufene anhaltende Immunsuppression und eine verstärkte Arteriosklerose nach Sepsis, die zum häufigen Auftreten kardiovaskulärer Ereignisse führt, verantwortlich gemacht werden [
21]. Diese bleibt in unseren Analysen unberücksichtigt, trägt aber wesentlich zur Last an sepsisassoziierten Todesfällen bei. In einer systematischen Übersichtsarbeit und Metaanalyse wurde die postakute 12-Monats-Sterblichkeit auf 15 % geschätzt [
22]. In Deutschland lag sie nach Ergebnissen eines monozentrischen Sepsisregisters bei 19 % im ersten Jahr nach Sepsis [
23].
Auffällig sind die regionalen Unterschiede in der Sepsismortalität und im Anteil sepsisassoziierter Todesfälle, die auch nach Altersstandardisierung vorhanden bleiben. In einzelnen Kreisen waren bis zu 15,1 % aller Todesfälle mit expliziter, krankenhausbehandelter Sepsis assoziiert. Diese können einerseits durch eine höhere Sepsisinzidenz, andererseits durch eine höhere Sepsissterblichkeit in diesen Kreisen hervorgerufen werden. Sowohl Sepsisinzidenz als auch Sepsissterblichkeit werden durch das Vorliegen chronischer Erkrankungen [
24], durch die Häufigkeit invasiver oder immunsuppressiver Therapien sowie durch sozioökonomische Faktoren beeinflusst [
25]. Die genannten Faktoren können in Deutschland zwischen den Kreisen variieren und zu den hier beobachteten Unterschieden beitragen. Eine kausale Analyse ist durch das Fehlen von Daten der nicht im Krankenhaus behandelten Personen und personenbezogenen sozioökonomischen Informationen in der DRG-Statistik nicht möglich. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Unterschiede im Codierverhalten zu diesen Unterschieden beitragen, da eine höhere Aufmerksamkeit auf die Erkrankung („Sepsis-Awareness“), beispielsweise durch Kampagnen und Schulungen, auch zu einer häufigeren Codierung von Sepsisfällen führen kann (sogenanntes Will-Rogers-Phänomen; [
26]). Darauf weist hin, dass die regionalen Unterschiede bei impliziter Identifikation der Sepsisfälle deutlich geringer ausgeprägt sind als bei expliziter Erfassung (zum Beispiel 3,5-fache vs. 7,9-fache Variation der Sepsismortalität zwischen den Kreisen bei impliziter vs. expliziter Erfassung). Auch der Anstieg der mit explizit codierter Sepsis assoziierten Todesfälle, der sich im 10-Jahres-Intervall zwischen 26.606 Todesfällen in 2007 [
8] und 58.689 Todesfällen in 2016 zeigt, kann mit diesen Faktoren zusammenhängen; zur wirklichen Bewertung dieses Phänomens bedarf es allerdings weiterer Forschung.
Die hier vorgestellte Studie bestätigt Beobachtungen vorheriger Studien, dass der Anteil sepsisassoziierter Todesfälle bei Männern und in mittleren Altersgruppen höher ist als bei Frauen bzw. bei hochaltrigen Patienten [
5]. Beachtlich ist auch der hohe Anteil von Patienten mit explizit codierter Sepsis, die im terminalen Krankenhausaufenthalt keine intensivmedizinische Komplexbehandlung erhielten. Diese Patientengruppe ist bisher nur unzureichend erforscht; US-Studien legen nahe, dass diese Patienten älter sind, eine geringere Zahl von Organdysfunktionen haben und häufiger unter Infekten wie Harnwegsinfekten leiden [
27]. Inwieweit Therapielimitierungen dazu beitragen, dass diese Patienten nicht auf Intensivstation behandelt werden, ist bisher unklar. Bei Patienten, die kurz nach Aufnahme auf die Intensivstation verstarben, kann aber auch die kurze Liegedauer dazu beitragen, dass der OPS-Code für intensivmedizinische Komplexbehandlung nicht codiert werden konnte, da die Mindestanforderung für die Codierung ein Intensivstationsaufenthalt von 24 h ist. Darüber hinaus müssen bestimmte Strukturvoraussetzungen erfüllt sein, um die OPS-Codes für eine intensivmedizinische Komplexbehandlung zu codieren, die möglicherweise nicht bei allen Krankenhäusern gegeben sind. Zu einem besseren Verständnis von Sepsistodesfällen ist es notwendig, auch die Gruppe nicht intensivmedizinisch behandelter Sepsispatienten verstärkt in Studien zu betrachten.
Unsere Studie hat Limitationen, die bei der Interpretation der Daten berücksichtigt werden müssen: Die Studie erfasst erstens ausschließlich krankenhausbehandelte Sepsisfälle und lässt daher keinen Rückschluss auf die Häufigkeit und den Anteil aller Sepsistodesfälle an den Gesamttodesfällen zu. Zweitens werden in unserer Studie nur Todesfälle als sepsisassoziiert erfasst, bei denen ein ICD-10-GM-Code für Sepsis (explizite Identifikationsstrategie) oder gleichzeitig ICD-10-GM-Codes für Infektion und Organversagen (implizite Identifikationsstrategie) bei Krankenhausentlassung vergeben wurden. Die niedrige Sensitivität der expliziten Sepsisdiagnosecodes kann zu einer Unterschätzung der Todesfälle führen [
12]. Darüber hinaus kann drittens, wie bereits diskutiert, keine Aussage zur kausalen Todesursache gemacht werden. Viertens wurde im Erhebungsjahr dieser Studie (2016) die neue Sepsisdefinition (Sepsis-3) publiziert [
1]. Auch wenn die entsprechende Änderung der S3-Leitlinie Sepsis und die Anpassung der klinischen Sepsis-ICD-Codes (R65.0 und R65.1) erst 2018 und 2020 erfolgten, kann nicht sicher ausgeschlossen werden, dass die neue Definition einen Einfluss auf die Diagnosekriterien der Sepsis in diesem Jahr (2016) hatte, was die Vergleichbarkeit zu den Vorjahren gegebenenfalls einschränkt.
Fazit
Sepsisassoziierte Todesfälle sind häufig und stehen mit einem relevanten Anteil der Todesfälle in Deutschland in Verbindung, wenn auch unklar bleibt, wie häufig Sepsis die unmittelbare Todesursache ist. Patienten, die an oder mit Sepsis versterben, sind häufig vorerkrankt, was die Notwendigkeit von Präventionsmaßnahmen für Sepsis in dieser Population unterstreicht, beispielsweise durch Impfungen. Es finden sich deutliche regionale Unterschiede im Anteil sepsisassoziierter Todesfälle an den Gesamttodesfällen auf Kreisebene, die bisher unzureichend verstanden sind und den Bedarf weiterer regionalisierter epidemiologischer Sepsisforschung, insbesondere unter Nutzung weiterer Datenquellen wie Krankenakten oder Register, nahelegen. Um sepsisassoziierte Todesfälle auch über die Todesursachenstatistiken abbilden und international vergleichen zu können, ist die Erweiterung der monokausalen hin zu einer multikausalen Statistik in Deutschland dringend notwendig.
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