Immer mehr Leitlinien akzeptieren Cannabis-Wirkstoffe als Drittlinien-Therapie

Bei der Behandlung chronischer neuropathischer Schmerzen stößt die Standardtherapie oft an ihre Grenzen. In dieser Situation kann eine Add-on-Gabe Tetrahydrocannabinol-haltiger Cannabis-Wirkstoffe eine Option sein. Denn gerade bei therapierefraktären neuropathischen Schmerzen besteht unter den zahlreichen möglichen Anwendungsgebieten für cannabisbasierte Wirkstoffe derzeit die beste Evidenz. Dies spiegeln auch die Empfehlungen in nationalen und internationalen Leitlinien wider. Chronische neuropathische Schmer-zen stellen mit einer geschätzten Prävalenz von 6,9–10% ein häufiges Beschwerdebild dar, das die Patienten in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigen und mit erheblichen sozioökonomischen Folgen einhergehen kann [1]. Die etablierten Therapien führen bei diesen Patienten oft nicht zu einer befriedigenden Schmerzlinderung. Immer mehr Ärzte machen dann gute Erfahrungen mit cannabisbasierten Wirkstoffen als Add-on-Therapie. Auch in evidenzbasierten Leitlinien finden Cannabinoide zunehmend Akzeptanz – meistens als Drittlinienoption. Wirkstoffe wie zum Beispiel Dronabinol oder medizinische Cannabisblüten können zulasten der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) verordnet werden, wobei die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verordnung zu beachten sind [2]. Cannabisbasierte Wirkstoffe haben mittlerweile Eingang in mehrere nationale und internationale Leitlinien gefunden, in denen ihr evidenzbasierter Einsatz bei unterschiedlichen chronischen Schmerzentitäten evaluiert wird. Cannabinoide in deutschen und europäischen Leitlinien Von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF) liegt zurzeit noch keine zusammenfassende Leitlinie zum Einsatz von Cannabinoiden bei verschiedenen Indikationen vor. Dagegen hat die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) bereits 2018 eine Praxisleitlinie „Cannabis in der Schmerztherapie“ [3] publiziert, in der die Add-on-Therapie mit Cannabinoiden bei neuropathischen Schmerzen als sinnvoll bewertet wird, wenn mit anderen Maßnahmen keine zufriedenstellende Linderung erreicht wurde. Auch in der Leitlinie „Diagnose und nicht-interventionelle Therapie neuropathischer Schmerzen“ der Deutschen Gesellschaft für Neurologie/AWMF wird empfohlen, dass Cannabinoide bei Versagen anderer Schmerztherapien im Einzelfall erwogen werden können [4], wenn auch eine allgemeine Empfehlung wegen unzureichender Daten noch nicht möglich ist. Unter Federführung von Prof. Dr. Winfried Häuser, Klinikum Saarbrücken, hat die European Pain Federation (EFIC) ein Positionspapier zur Verwendung cannabisbasierter Wirkstoffe bei chronischen Schmerzen erstellt [5]. Im Hinblick auf chronische neuropathische Schmerzen wird zusammengefasst, dass cannabisbasierte Arzneien als Drittlinientherapie in Betracht gezogen werden können. Während in Deutschland vor allem Erfahrungen mit dem Rezepturwirkstoff Dronabinol vorliegen, der als einziges Cannabinoid bereits seit 1998 betäubungsmittelrechtlich verkehrs- und verordnungsfähig ist [3], werden in Ländern wie Israel und Kanada häufiger medizinische Cannabisblüten eingesetzt, die z.B. in Kanada bereits seit 2001 legalisiert sind. Cannabisbasierte Wirkstoffe in internationalen Leitlinien Einen ausführlichen Überblick zur Evidenz zu cannabisbasierten Wirkstoffen bei chronischen Schmerzen und den Empfehlungen in englischsprachigen Leitlinien gibt eine Publikation der Canadian Agency for Drugs and Technologies in Health (CADTH) [6] und bezieht sich dabei unter anderem auf eine systematische Übersichtsarbeit, in der die Empfehlungen verschiedener aktueller Leitlinien analysiert werden [7]. Die Autoren dieses systematischen Leitlinien-Reviews kommen zu der Schlussfolgerung [7], dass die Anwendung von Cannabinoiden bei neuropathischen Schmerzen sinnvoll ist, sofern drei vorherige Versuche mit üblichen Arzneimitteln keine ausreichende Wirksamkeit gezeigt haben. Die kanadische Hausarzt-Leitlinie [8] befindet, dass bei Patienten mit therapierefraktären neuropathischen Schmerzen der Einsatz cannabisbasierter Wirkstoffe erwogen werden kann, wenn in der Erst- und Zweitlinientherapie mit anderen analgetisch wirksamen Substanzen kein ausreichender Behandlungseffekt erzielt wurde. Zu einem ähnlichen Vorgehen raten die Autoren der vom „College of Family Physicians of Canada“ (CFPC) herausgegebenen Leitlinie zur Verordnung von Cannabisblüten [9]. Die kanadische Schmerzgesellschaft (Canadian Pain Society) [10] betont bei ihrer Empfehlung zum Einsatz von Cannabinoiden für das Management von neuropathischen Schmerzen die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen Verordnungsverhaltens, da dort die Patienten mit ärztlich bestätigtem therapeutischem Bedarf medizinische Cannabisblüten beliebiger Sorte und Menge selbst kaufen können. Immer mehr evidenzbasierte Leitlinien erkennen also eine hinreichende Evidenz für cannabisbasierte Wirkstoffe als sinnvolle Option bei therapierefraktären chronischen neuropathischen Schmerzen an – häufig als Drittlinientherapie [5, 8–10]. In weiteren Leitlinien wird der Einsatz von Cannabinoiden bei anderen Krankheitsbildern wie Fibromyalgie, muskuloskelettalen Schmerzen, Morbus Crohn und Multipler Sklerose thematisiert. Allerdings ergibt sich hier im Hinblick auf die bisher vorliegende Evidenz ein weniger einheitliches Bild als bei den Neuropathien. Einen möglichen Benefit von Cannabinoiden sehen entsprechende Leitlinien auch bei Patienten mit therapierefraktärer Übelkeit oder Appetitmangel/Kachexie. Fazit Die beste Evidenz für cannabisbasierte Wirkstoffe besteht in der Indikation chronische neuropathische Schmerzen. Immer mehr Leitlinien bewerten cannabisbasierte Wirkstoffe als sinnvolle Option zur Add-on-Therapie bei chronischen neuropathischen Schmerzen, sofern die üblichen Therapien nicht den gewünschten Erfolg haben. Die Wirksamkeit von Cannabinoiden wird durch neue Einblicke in das Endocannabinoid-System (ECS) pharmakologisch untermauert (Kasten). Während in Deutschland Dronabinol seit 20 Jahren als Rezepturwirkstoff verfügbar ist, gibt es in anderen Ländern (Kanada, Israel) ähnlich lange gute Erfahrungen mit medizinischen Cannabisblüten. Pharmakologische Erkenntnisse stützen klinische Daten und Erfahrungen Das Endocannabinoidsystem (ECS) wurde erst in den 1990er Jahren entdeckt, und seine umfassende physiologische Bedeutung wird erst durch rezente Studien immer klarer erkennbar. Heute lässt sich die Funktion dieses im ganzen Körper zu findenden Regulationssystems in einem Satz auf den Punkt bringen: Das Endocannabinoid-System hat die Aufgabe, die Homöostase vieler wesentlicher Regulationsprozesse des menschlichen Körpers zu erhalten. Unter anderem ist es an der Regulation vielfältiger Funktionen im Zentralnervensystem (ZNS) beteiligt und spielt eine wichtige Rolle in der Schmerzmodulation. Cannabisbasierte Wirkstoffe sind die einzigen Wirkstoffe, die gezielt das ECS adressieren. Die Modulation des ECS durch Cannabinoide ermöglicht eine Normalisierung der neuronalen Überaktivität z.B. bei chronischen Schmerzzuständen. Die Autoren eines aktuellen Reviews [11] verweisen u.a. auf tierexperimentelle Studien, die belegen, dass die psychotropen Effekte des Tetrahydrocannabinols (THC) über die zerebralen Cannabinoid-Typ-1 (CB1)-Rezeptoren vermittelt werden, während die analgetische Wirkung bei chronischen Schmerzen vor allem über CB1-Rezeptoren im Rückenmark, im Hirnstamm und in den peripheren sensorischen Neuronen vermittelt wird. Die peripheren CB1-Rezeptoren spielen offensichtlich eine Schlüsselrolle in der Modulation der Nozizeption. Die Cannabinoid-Rezeptoren CB1 und CB2 werden im gesamten zentralen und peripheren Nervensystem (und vielen anderen Geweben) exprimiert. CB1-Rezeptoren finden sich reichlich im präfrontalen Cortex, Hippocampus, Basalganglien, Hypothalamus und Kleinhirn, Rückenmark und peripheren Nervensystem. Sie wurden in inhibitorischen GABAergen ebenso wie in exzitatorischen glutamergen Neuronen nachgewiesen und sind offenbar in die Regulation GABAerger ebenso wie glutamaterger Neurotransmission in zerebralen Schlüsselregionen involviert [11]. Unter physiologischen Bedingungen wird der CB2-Rezeptor hauptsächlich in der Peripherie exprimiert [12]. Bei Erkrankungen oder Verletzungen kommt es jedoch zu einer Hochregulation im Gehirn [12]. Kasuistik: Mehr Lebensqualität für Nebenwirkungs-empfindliche Schmerzpatientin Die 53-jährige Patientin litt seit frühester Kindheit an unspezifischen Rückenbeschwerden bei ausgeprägter Hyperlordose im LWS-Bereich mit Progression in den vergangenen 25 Jahren. Mit Einsetzen der Wechseljahre vor zehn Jahren kam es zu einer Schmerzexazerbation im Rücken mit zusätzlichen Gelenkbeschwerden. Die Schmerzen wurden als stechend, brennend und ziehend beschrieben (NRS-Skala 6–7). Unter einer Ende 2015 begonnenen Pregabalin-Therapie besserte sich die Schmerzsituation, doch unter steigender Dosierung bis 3× 75mg/Tag kam es zu einem ausgeprägten Libidoverlust, der die Lebensqualität der Patientin deutlich minderte. Zusätzlich auftretende nächtliche Nackenschmerzen mit Ausstrahlung in beide Arme (bis NRS 5–6) wurden durch die Pregabalingabe nicht gemindert. Schmerzlindernd wirken Aktivität, Wärmeanwendung, selbstständig durchgeführte physiotherapeutische Übungen. Eine passagere Opioidtherapie (erst mit Tilidin, dann mit Tapentadol 2× 50mg) führte zu dauerhafter Obstipation und Übelkeit, so dass die Patientin das Präparat absetzte. Ein Therapieversuch mit Amitryptilin blieb aufgrund von Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Tagesmüdigkeit und Gewichtszunahme erfolglos. Im Mai 2019 wurde Dronabinol Add-on auf 5–3–5 Tropfen (entspr. 10,5mg/d) auftitriert. Im Verlauf entschied die Patientin, Opioide und Antidepressiva abzusetzen. Die aktuelle Therapie besteht aus Dronabinol, zusätzlich niedrig dosiert Tilidin (50mg/4mg 1–0–1), da zwischenzeitlich eine leichte Schmerzprogression eintrat sowie Ibuprofen (600mg) bei Bedarf. Darunter zeigt die Patientin keine Nebenwirkungen bei guter Schmerzkontrolle bezüglich des neuropathischen Schmerzes. Ihre Konzentrationsfähigkeit im Alltag stuft sie als deutlich besser als unter Pregabalin/Antidepressiva und Opioiden ein. Die Lebensqualität der Patientin ist gestiegen, ihre Teilhabe am sozialen Leben hat sich gebessert und sie fühlt sich insgesamt subjektiv zufriedener. Die Kasuistik wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von einem Arzt für spezielle Schmerztherapie und Palliativmedizin aus dem Großraum Stuttgart. Literatur van Hecke O et al., Pain 2014, 155:654–662 Gesetz zur Änderung betäubungsmittel-rechtlicher und anderer Vorschriften, Bundesgesundheitsblatt Nr. 11, 9.3.2017 www.dgs-praxisleitlinien.de/index.php/leitlinien/cannabis (letzter Zugriff: 22.6.2020) Schlereth T et al., Diagnose und nichtinterventionelle Therapie neuropathischerSchmerzen, S2k-Leitlinie, 2019, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; www.dgn.org/leitlinien (letzter Zugriff: 22.6.2020) Häuser W et al., Eur J Pain 2018, 22:1547–1564 Banerjee S, McCormack S. Medical cannabis for the treatment of chronic pain: A review of Clinical effectiveness and guidelines. Ottawa: CADTH; 2019 Jul.(CADTH rapid response report: summary with critical appraisal) Deng Y et al., BMC Anesthesiol 2016, 16:12 Allan GM et al., Can Fam Physician 2018, 64:111–120 Authorizing dried cannabis for chronic pain or anxiety. Mississauga (ON): College of Family Physicians of Canada; 2014: https://portal.cfpc.ca/resourcesdocs/uploadedFiles/Resources/_PDFs/Authorizing%20Dried%20Cannabis% 20for%20Chronic%20Pain%20or%20Anxiety.pdf (letzter Zugriff: 22.6.2020) Moulin D et al., Pain Res Manag 2014, 19:328–335 Milligan AL et al., J Dual Diagn 2020, 16:106–119 Chayasirisobhon S, Acta Neurol Taiwan 2019, 28:27–39 Impressum „Therapierefraktäre neuropathische Schmerzen: Immer mehr Leitlinien akzeptieren Cannabis-Wirkstoffe als Drittlinien-Therapie“ Literatur und Kasuistik Berichterstattung: Dr. Kirsten Westphal, Heimstetten Artikel gedruckt in: Der Schmerz, Band 34, Heft 4, August 2020, und DGNeurologie, Band 3, Heft 5, September 2020 Mit freundlicher Unterstützung der Bionorica ethics GmbH, Neumarkt Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Andrea Krahnert Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführer: Joachim Krieger, Fabian Kaufmann Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. 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