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Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie 3/2022

Open Access 26.04.2022 | Sehhilfen | Originalien

Spülung mit Leitungswasser oder Natriumchlorid nach Augenkontamination

Aktualisierte retrospektive Ergebnisse aus einem Großunternehmen der chemischen Industrie

verfasst von: Michael Schuster, B.Sc., Daniel Frambach, Christoph Oberlinner, Franz-Josef Simons, Matthias Claus

Erschienen in: Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie | Ausgabe 3/2022

Zusammenfassung

Hintergrund

Ziel des Beitrags war es, die Verwendung von Leitungswasser und/oder Natriumchlorid als Augenspüllösung nach Augenkontaminationen anhand von Sehtestergebnissen zu untersuchen und ggf. Empfehlungen sowie Optimierungsmaßnahmen hinsichtlich der Notfallversorgung abzuleiten.

Material und Methoden

Es handelt sich um eine retrospektive Auswertung aller zwischen dem 01.01.2011 und 31.12.2020 dokumentierten Augenkontaminationen in einem Großunternehmen der chemischen Industrie. Verglichen wurde als Zielgröße die Sehschärfe (Visus) vor und nach Produktkontamination mittels Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Tests.

Ergebnisse

Innerhalb des Beobachtungszeitraums erlitten, nach Ausschluss von Fremdfirmenmitarbeitenden, 393 Personen eine Augenkontamination. Darunter befanden sich 299 Fälle, für die Sehtestergebnisse vor und nach Produkteinwirkung zur Verfügung standen. Zwischen Produkteinwirkung und nachfolgendem Sehtest vergingen im Median (Interquartilsabstand) 0,3 Jahre (0,1–0,9). Der Visus betrug vor Produkteinwirkung 1,0 (0,8–1,0) auf beiden Augen und nach Produkteinwirkung ebenfalls 1,0 (0,8–1,0) auf beiden Augen. Zwischen dem Visus vor und nach Produkteinwirkung konnte sowohl bei einseitiger Augenbeteiligung (n = 180) auf dem betroffenen und nicht betroffenen Auge als auch bei beidseitiger Augenbeteiligung (n = 119) auf dem linken und rechten Auge kein signifikanter Unterschied festgestellt werden. Zu den Fällen, die extern weiterbehandelt wurden und eine Visusminderung aufzeigten, waren in der elektronischen Anamnese keine Langzeitschäden dokumentiert.

Diskussion

Im Rahmen der Notfallversorgung konnte nach chemischer Augenkontamination und anschließender Spülung mit Leitungswasser und/oder Natriumchlorid keine Visusminderung festgestellt werden. Maßnahmen und Investitionen in Prävention und Aufklärungsarbeit könnten zur Reduzierung von chemischen Augenkontaminationen führen.
Chemische Augenkontaminationen können zu schwerwiegenden Komplikationen sowie Langzeitschäden des Auges führen und die Betroffenen dadurch stark beeinträchtigen. Eine sofortige und ausgiebige Spülung nach Gefahrstoffkontakt kann dabei die Verlaufsprognose entscheidend beeinflussen. In der Literatur wird eine Vielzahl an Augenspüllösungen mit ihren Vor- und Nachteilen diskutiert. Dieser Artikel untersucht die Verwendung von Leitungswasser und/oder Natriumchlorid (NaCl) als initiale Spüllösung im Rahmen der Notfallversorgung in einem Großunternehmen der chemischen Industrie.

Hintergrund

Die wichtigste Erste-Hilfe-Maßnahme nach einer chemischen Augenkontamination ist die sofortige und ausgiebige Augenspülung [14, 69, 18, 21, 23, 25, 2729, 31, 32], um eine schnellstmögliche Entfernung der Substanz und Wiederherstellung des physiologischen pH-Werts der Augenoberfläche gewährleisten zu können [9, 30]. Dadurch können schwere Verläufe, chirurgische Eingriffe und Verschlechterungen der finalen Sehschärfe verhindert bzw. verringert werden [5, 16]. Im Rahmen der Notfallversorgung nach einer chemischen Augenkontamination steht eine Vielzahl an Spülflüssigkeiten zur Verfügung, u. a. Leitungswasser, Ringer-Laktat, phosphatgepufferte Salzlösung, Natriumchlorid- oder aktive Dekontaminationslösungen, deren Nutzen bereits in mehreren Studien evaluiert und diskutiert wurde [1, 3, 7, 8, 13, 14, 17, 21, 31]. Die Veröffentlichungen hierzu basieren meist auf In-vivo-Experimenten in Tiermodellen oder kleinen Beobachtungsstudien [3, 5]. Augenkontaminationen können zu diversen Komplikationen führen, einschließlich einer Reduktion der Sehschärfe [7, 18]. Nach einem Unfallereignis am Auge sollte stets eine Sehschärfenkontrolle erfolgen [24], wodurch eine objektive Bewertung des Verlaufs ermöglicht wird [22].
Die vorliegende Untersuchung wurde in einem Chemieunternehmen durchgeführt, in welchem Leitungswasser und/oder NaCl-Lösung zur initialen Spülung nach Augenkontamination angewendet wird. Der Beitrag stellt dabei ein Update einer früheren Publikation dar [20] und zielt darauf ab, die Verwendung von Leitungswasser und/oder NaCl-Lösung als Spülflüssigkeit anhand von Sehtestergebnissen vor und nach Produkteinwirkung zu evaluieren. Die zentrale Fragestellung lautete dabei, ob hinsichtlich der unternehmensinternen Notfallversorgungsmaßnahmen Optimierungsbedarf besteht.

Material und Methoden

Studiendesign und Rahmen

Im Rahmen einer retrospektiven Auswertung von routinemäßig erhobenen arbeitsmedizinischen Daten in einem Großunternehmen der chemischen Industrie am Hauptstandort in Ludwigshafen am Rhein wurden sämtliche Vorfälle mit einer Produkteinwirkung am Auge einbezogen, die zwischen dem 01.01.2011 und 31.12.2020 im internen arbeitsmedizinischen Informationssystem dokumentiert wurden. Dabei handelt es sich um eine Aktualisierung eines bereits veröffentlichten Artikels, in dem nach chemischer Augenkontamination mit anschließender Spülung weder eine Visusminderung noch schwerwiegende Langzeitschäden festgestellt werden konnten [20].
Im Unternehmen befinden sich in sämtlichen Produktionsbereichen mit einer potenziellen Gefahrstoffexposition festinstallierte Not- und Augenbrausen, welche Leitungswasser zur sofortigen Spülung bereithalten. Das betrifft insbesondere Arbeitsplätze, an denen ein offener Umgang mit Gefahrstoffen stattfindet, beispielsweise durch Probeentnahme oder Filterwechsel, an Aufgabe‑, Umfüll- und Abfüllstellen sowie bei Reparaturen und Wartungen, die zu Undichtigkeiten führen könnten. Ist eine Installation von Not- und Augenbrausen aus technischen Gründen nicht möglich, werden tragbare Augenspülflaschen mit NaCl-Lösung zur Verfügung gestellt. Grundlage für die entsprechenden Arbeitsschutzmaßnahmen sind die Ergebnisse der Gefährdungsbeurteilung (GBU), die für jeden Arbeitsplatz individuell durchgeführt wird. Im Rahmen dieser GBU werden durch den Verantwortlichen, gemeinsam mit Fachkräften für Arbeitssicherheit und bei Bedarf des Werksarztes, Gefährdungen ermittelt und beurteilt. Im Anschluss werden aufgrund dieser Beurteilung Arbeitsschutzmaßnahmen festgelegt. Ist eine Substitution nicht möglich und können keine technischen oder organisatorischen Maßnahmen eingeführt werden, die die Gefahr beheben, ergibt sich die Notwendigkeit, eine persönliche Schutzausrüstung (PSA) zu tragen. Die Wirksamkeit der festgelegten Maßnahmen wird fortwährend überprüft und diese bei Bedarf angepasst. Nach Gefahrstoffkontakt am Auge muss eine unmittelbare Augenspülung durch die nächstgelegene Not- und Augenbrause bzw. tragbare Augenspülflasche erfolgen. Die Betroffenen kommen in der Regel über den im Betrieb alarmierten, werksinternen Rettungsdienst in die Ambulanz der arbeitsmedizinischen Abteilung. Der Rettungsdienst gewährleistet während des Transports eine nahtlose Fortführung der Augenspülung mittels einer NaCl-Lösung, bei Bedarf in Kombination eines Lokalanästhetikums, bis zur Wiederherstellung der pH-Neutralität. Je nach Befund des Notarztes kann auch eine direkte Weiterleitung an einen externen Behandler ohne Kontakt mit der Werksambulanz stattfinden. In der Ambulanz wird ebenfalls, sofern noch keine pH-Neutralität erreicht wurde, eine Augenspülung mit einer NaCl-Lösung durchgeführt. Um Folgeschäden möglichst ausschließen zu können, wird über eine freiwillige Sehtestnachkontrolle in der arbeitsmedizinischen Abteilung informiert, die nach 4 Wochen stattfinden soll. Betroffene, welche nach Ablauf der 4 Wochen nicht zur Untersuchung erscheinen, werden nochmals per E‑Mail an das Angebot erinnert. Falls nach ärztlicher Befundung eine externe Weiterbehandlung erforderlich ist, erfolgt eine Weiterleitung per Rettungsdienst zum Durchgangsarzt oder in die nächstgelegene Fachklinik. Nach Rückmeldung des externen Behandlers und Zustimmung des Mitarbeitenden werden die Befunde im internen medizinischen Informationssystem dokumentiert.

Kollektiv

Die Studienpopulation setzt sich aus allen Mitarbeitenden am Standort zusammen, die innerhalb des Beobachtungszeitraums eine Produkteinwirkung am Auge erlitten. Ausgeschlossen wurden Mitarbeitende von Fremdfirmen, da diese meist nur kurzfristig im Unternehmen tätig sind und Ergebnisse arbeitsmedizinischer Vorsorgeuntersuchungen nicht oder nicht vollständig vorhanden sind. Weiterhin wurden Fälle mit fehlendem Sehtest vor und/oder nach Produkteinwirkung sowie fehlenden Informationen zum betroffenen Auge oder zur durchgeführten Augenspülung nicht berücksichtigt (Abb. 1).

Variablen und Datenquellen/Messmethoden

Zielgrößen der Auswertung waren der zuletzt verfügbare Fernvisus vor der Augenkontamination sowie der zuerst verfügbare Fernvisus nach dem Unfall und die Differenz aus beiden Messungen. Die Sehschärfe wurde in der arbeitsmedizinischen Abteilung mit dem Sehtestgerät Optovist (Vistec AG, Olching, Deutschland) ermittelt. Benötigen die Mitarbeitenden eine Sehhilfe, welche das Ergebnis des Fernvisus beeinflusst (Fern‑, Gleitsicht‑, Bifokal‑, Trifokalbrille oder Kontaktlinsen), so wurde der Visus standardmäßig unter Zuhilfenahme dieser gemessen. Der Landolt-Ring diente dabei als Normsehzeichen nach DIN 58220 [20]. Weitere erhobene Variablen waren Geburtsdatum, betroffenes Auge (links, rechts oder beide), Spülung durchgeführt durch Mitarbeitenden, Rettungsdienst und/oder werksinterne Ambulanz und externe Weiterbehandlung (ja oder nein). War keine externe Behandlung erforderlich, so wurde von einem leichtgradigen Fall ausgegangen. Für die Fälle mit externer Weiterbehandlung, die eine Visusminderung auf dem betroffenen Auge zeigten, erfolgte eine Recherche der elektronisch dokumentierten Anamnese, um etwaige Komplikationen und Spätfolgen zu identifizieren, die nicht mit der Sehschärfe in Zusammenhang stehen. Die vorgenannten Variablen und Informationen wurden aus dem internen Informationssystem der arbeitsmedizinischen Abteilung extrahiert.

Statistische Methoden

Kategoriale Variablen wurden anhand von absoluten und relativen Häufigkeiten beschrieben, kontinuierliche Variablen mithilfe von Median und Interquartilsabstand (IQR). Die Verteilung der Sehschärfe vor (prä) und nach (post) Produkteinwirkung wurde bei einseitiger Augenbeteiligung nach betroffenem/nicht betroffenem und bei beidseitiger nach linkem/rechtem Auge stratifiziert und anhand von Box-Whisker-Plots visualisiert. Aus beiden Sehtests wurden Differenzen gebildet (Sehschärfe nach – Sehschärfe vor Gefahrstoffkontakt) und mittels Streudiagrammen dargestellt. Mithilfe des Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Tests für gepaarte Stichproben wurde untersucht, ob sich die zentralen Tendenzen der Sehtestergebnisse vor und nach der Produkteinwirkung unterscheiden. Es wurden mehrere Sensitivitätsanalysen durchgeführt. Zum einen wurde die Analyse auf Personen ohne Verwendung von Sehhilfen zu beiden Messzeitpunkten beschränkt, um mögliche Einflüsse der Sehhilfe auf das Testergebnis auszuschließen, zum anderen wurden Analysen auf Personen beschränkt, bei denen der Abstand zwischen Kontamination und Sehtestnachkontrolle weniger als ein Jahr betrug.
Ein p-Wert < 0,05 wurde als statistisch signifikant angenommen. Die statistischen Auswertungen wurden mit SAS 9.4 (SAS Institute, Cary, NC, USA) durchgeführt.

Ergebnisse

Innerhalb des Beobachtungszeitraums wurden 712 Produkteinwirkungen am Auge bei 698 Personen dokumentiert. Demnach ereigneten sich über den Beobachtungszeitraum im Median 70 Fälle pro Jahr (Range: 60–88). Nach Ausschluss von Fremdfirmenmitarbeitenden (für die keine weiterführenden Informationen vorhanden waren), Fällen mit fehlenden Sehtests vor Produkteinwirkung (n = 18), nach Produkteinwirkung (n = 45) und zu beiden Zeitpunkten (n = 10) sowie Fällen mit fehlender Dokumentation des betroffenen Auges und einer durchgeführten Spülung, erfüllten 299 die Einschlusskriterien (Abb. 1).
Die Mitarbeitenden mit Augenkontamination waren überwiegend männlich (88,3 %) und hatten zum Zeitpunkt der Augenkontamination ein medianes Alter von 35 Jahren. Bei etwa zwei Drittel der Fälle (60,2 %) war nur ein Auge betroffen. Knapp die Hälfte (46,5 %) der Betroffenen war weder vor noch nach Produkteinwirkung auf eine Sehhilfe angewiesen, 5,0 % (n = 15) benötigten erst nach Produkteinwirkung eine Sehhilfe. Insgesamt vergingen zwischen Sehtest vor und nach Produkteinwirkung rund 2,1 Jahre. Die mediane zentrale Sehschärfe betrug vor und nach Produkteinwirkung jeweils 1,0 auf beiden Augen (Tab. 1).
Tab. 1
Deskriptive Statistik soziodemographischer und augenkontaminationsbezogener Variablen der finalen Studienpopulation (n = 299) und separat für Fälle mit externer Weiterbehandlung (n = 111)
 
Gesamt
Externe Weiterbehandlung
 
(n = 299)
(n = 111)
Kategoriale Variablen
n
(%)
n
(%)
Geschlecht
Männlich
264
(88,3)
100
(90,1)
Weiblich
35
(11,7)
11
(9,9)
Betroffenes Auge
Links
89
(29,8)
38
(34,2)
Rechts
91
(30,4)
36
(32,4)
Beide
119
(39,8)
37
(33,3)
Augenspülung
Mitarbeitende
Ja
176
(58,9)
71
(64,0)
Nein
123
(41,1)
40
(36,0)
Rettungsdienst
Ja
220
(73,6)
86
(77,5)
Nein
79
(26,4)
25
(22,5)
Werksambulanz
Ja
109
(36,5)
45
(40,5)
Nein
190
(63,6)
66
(59,5)
Sehhilfe vor (T1)/nach (T2) Unfall
T1: nein/T2: nein
139
(46,5)
50
(45,1)
T1: ja/T2: ja
118
(39,5)
51
(46,0)
T1: nein/T2: ja
15
(5,0)
6
(5,4)
T1: ja/T2: nein
8
(2,7)
2
(1,8)
K. A.
19
(6,4)
2
(1,8)
Kontinuierliche Variablen
Median
(IQR)
Median
(IQR)
Alter (Jahre)
35
(25; 47)
36
(26; 47)
Dauer (Jahre) zwischen
Sehtest vor und am Unfalltag
1,3
(0,6; 2,2)
1,3
(0,6; 2,1)
Unfalltag und Sehtest danach
0,3
(0,1; 0,9)
0,5
(0,2; 1,1)
Sehtest vor und nach Unfall
2,1
(1,1; 3,0)
2,2
(1,2; 3,0)
Visus vor Produkteinwirkung
Links
1,0
(0,8; 1,0)
0,8
(0,8; 1,0)
Rechts
1,0
(0,8; 1,0)
1,0
(0,8; 1,0)
Visus nach Produkteinwirkung
Links
1,0
(0,8; 1,0)
1,0
(0,8; 1,0)
Rechts
1,0
(0,8; 1,0)
1,0
(0,8; 1,0)
IQR Interquartilsabstand
Bei einseitiger Augenbeteiligung betrug der Visus unter den Fällen insgesamt (n = 180) auf dem betroffenen Auge im Medianprä 1,0 (IQRprä = 0,8; 1,0) und Medianpost 0,9 (IQRpost = 0,8; 1,0) (Abb. 2). Erfolgte eine externe Weiterbehandlung (n = 74), so lag die mediane(prä & post) Sehschärfe auf dem betroffenen Auge vor und nach Produkteinwirkung bei je 1,0 (IQR(prä & post) = 0,8; 1,0). Insgesamt konnte kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen dem Sehtest vor und nach der Produkteinwirkung festgestellt werden, weder für das betroffene (p = 0,5960) noch das nicht betroffene (p = 0,8353) Auge. Unter den Fällen mit externer Weiterbehandlung war ebenfalls kein signifikanter Unterschied auf dem betroffenen (p = 0,6633) und nicht betroffenen (p = 0,8502) Auge feststellbar.
Waren beide Augen betroffen (n = 119), so betrug die Sehschärfe insgesamt vor und nach dem Gefahrstoffkontakt auf beiden Augen im Median(prä & post) je 1,0 (IQR(prä & post) = 0,8; 1,0). Unter den Fällen mit externer Weiterbehandlung (n = 37) betrug der Visus auf dem linken Auge im Medianprä 0,8 (IQRprä = 0,8; 1,0) und Medianpost 1,0 (IQRpost = 0,8; 1,0). Auf dem rechten Auge lag der Median(prä & post) bei je 1,0 (IQR(prä & post) = 0,8; 1,0). Zwischen dem Sehtest vor und nach Gefahrstoffkontakt konnte insgesamt kein signifikanter Unterschied auf dem linken (p = 0,1245) und rechten (p = 0,6094) Auge beobachtet werden. Auch unter den Fällen mit externer Weiterbehandlung zeigte sich sowohl auf dem linken (p = 0,6802) als auch rechten (p = 0,5611) Auge kein signifikanter Unterschied.
Die mediane Differenz der Sehschärfe nach und vor Produkteinwirkung ergab bei einseitiger Augenbeteiligung insgesamt auf beiden Augen je 0,0 (IQR = −0,2; 0,2). Erfolgte eine externe Weiterbehandlung, so betrug die Visusdifferenz im Median 0,0 (IQR = −0,2; 0,1) auf dem betroffenen und 0,0 (IQR = −0,2; 0,2) auf dem nicht betroffenen Auge (Abb. 3). Waren beide Augen von einer Produktkontamination betroffen, so lag die mediane Differenz auf dem linken und rechten Auge insgesamt sowie mit externer Weiterbehandlung bei je 0,0 (IQR = 0,0; 0,2).
Unter den Fällen, für die eine externe Weiterbehandlung erforderlich war und die eine Visusminderung auf dem betroffenen Auge zeigten, waren in der intern vorliegenden elektronischen Anamnese keine Anhaltspunkte für Komplikationen und Spätfolgen dokumentiert.
Die Ergebnisse der Sensitivitätsanalysen waren mit den Hauptergebnissen vergleichbar. Wurde die Analyse auf Personen beschränkt, die zu beiden Sehtests keine Sehhilfe benötigten (n = 139), lag der Visus vor und nach Produkteinwirkung ebenfalls im Median(prä & post) bei je 1,0 (IQR(prä & post) = 0,8; 1,0). Nach Ausschluss von Personen, bei denen mehr als ein Jahr zwischen Unfallereignis und Sehtestnachkontrolle verging (n = 68), lag der mediane(prä & post) Visus vor und nach Produkteinwirkung auf beiden Augen ebenfalls bei 1,0 (IQR(prä & post) = 0,8; 1,0).

Diskussion

Hauptergebnisse

Ziel des Beitrags war es, die Verwendung von Leitungswasser und/oder NaCl als Spülflüssigkeit nach chemischer Augenkontamination im Rahmen der Notfallversorgungsmaßnahmen eines Großunternehmens der chemischen Industrie anhand von Sehtestergebnissen zu untersuchen. Sowohl bei einseitiger als auch beidseitiger Augenbeteiligung konnten keine Unterschiede zwischen dem Visus vor und nach Produkteinwirkung festgestellt werden. Die Differenz zwischen der Sehschärfe nach und vor Produkteinwirkung zeigte eine gleichmäßige Veränderung auf beiden Augen, unabhängig von der betroffenen Seite.

Augenspülung mit Leitungswasser und/oder NaCl im Rahmen der Notfallversorgung

Sowohl bei einseitiger als auch beidseitiger Augenbeteiligung konnte nach Produkteinwirkung innerhalb der vorliegenden Studienpopulation keine Visusminderung festgestellt werden. Die gleichmäßige Veränderung des Visus auf dem betroffenen und nicht betroffenen Auge zwischen Sehtest vor und nach Augenkontamination scheint ebenfalls auf keinen Zusammenhang zwischen Sehtest und Produkteinwirkung hinzudeuten. In der intern vorliegenden elektronischen Anamnese konnten unter den Beschäftigten, die auf dem betroffenen Auge eine Visusminderung nach der Produkteinwirkung zeigten, keinerlei Anhaltspunkte für Komplikationen oder Langzeitschäden festgestellt werden. Demnach scheint Leitungswasser und/oder NaCl für die initiale Augenspülung nach chemischer Augenkontamination im Rahmen der Notfallversorgung ein adäquates Mittel zu sein. Leitungswasser ist leicht verfügbar, erfüllt die wesentlichen Kriterien einer Spülflüssigkeit [8], wird oftmals empfohlen [2, 4, 69, 15, 21, 25, 31] und gleichzeitig kritisch betrachtet [10, 11, 14, 19, 26]. Leitungswasser ist hypotonisch gegenüber dem Hornhautstroma und kann daher zu einer erhöhten Absorption von Wasser und der ätzenden Substanz innerhalb der Cornea [1, 3, 7, 17] und zur Schwellung derselben führen [3, 15]. Dennoch ermöglichen hypotone Flüssigkeiten eine Neutralisierung von Chemikalien, die Entfernung der chemischen Substanz aus dem Auge [6, 15] und eine Verringerung des Schweregrads einer chemischen Kontamination [7, 14, 31]. Der fehlende Zusammenhang zwischen Produkteinwirkung und Visusminderung im vorliegenden Beitrag könnte auf die im Unternehmen etablierte Rettungskette, angefangen mit den Sofortmaßnahmen vor Ort über Versorgung durch werksinternen Rettungsdienst und Werksambulanz bis hin zum Weitertransport zur externen Behandlung zurückzuführen sein. Möglicherweise wurden auch schwerwiegende Fälle durch Tragen der persönlichen Schutzausrüstung oder eine sofortige und ausgiebige Durchführung der Augenspülung vor Ort weitgehend verhindert. Dabei ist es essenziell, dass die initiale Spülung mindestens 15 bzw. 30 min andauert [8, 26, 30] bzw. solange, bis pH-Neutralität der Augenoberfläche wiederhergestellt wurde [5, 8, 9, 30]. Durch das etablierte Notfallbehandlungsregime im vorliegenden Unternehmen wird die erforderliche Spüldauer anhand einer sofortigen und unterbrechungsfreien Spülung sowie regelmäßiger pH-Tests gewährleistet. In einer bereits veröffentlichten Publikation, in der die Daten zwischen 1995 und 2010 ausgewertet wurden, konnten ebenfalls keine unfallbezogenen Verringerungen der Sehschärfe oder bleibende, schwerwiegende Langzeitschäden nach chemischer Augenkontamination mit erfolgter Spülung beobachtet werden [20]. Die Evidenz alternativer Spüllösungen zeigt gegenüber Leitungswasser keine Überlegenheit im Rahmen der Notfallversorgung [8]. Für die Verlaufsprognose ist die sofortige und ausgiebige Spülung entscheidender als die Wahl der Spülflüssigkeit [3, 30]. Daher wird als Spülmedium das zuerst verfügbare empfohlen [3, 18].

Limitationen

Die vorliegende Untersuchung unterliegt einigen Limitationen, die im Folgenden näher dargestellt werden sollen. Die Dauer zwischen Produkteinwirkung und erster durchgeführter Augenspülung, sowie die Länge des Spülvorgangs, wurden nicht systematisch dokumentiert. Da jedoch im Unternehmen potenzielle Gefahrbereiche flächendeckend mit stationären Not- und Augenbrausen ausgestattet sind und durch die werksinterne medizinische Abteilung eine adäquate und schnell verfügbare Notfallversorgung gewährleistet ist, kann von einer unverzüglichen und unterbrechungsfreien Spülung ausgegangen werden. Darüber hinaus liegt keine standardisierte Dokumentation des Schweregrads nach chemischer Augenkontamination, beispielsweise mittels Roper-Hall, Reim- oder Dua-Klassifikation [1, 9, 12], vor. Eine weitere Limitation besteht darin, dass durch Personen ohne Sehhilfe vor und mit Sehhilfe nach Produkteinwirkung sowie einer Sehhilfe zu beiden Zeitpunkten mit angepasster Sehstärke ein Zusammenhang zwischen Produkteinwirkung und Visusminderung potenziell verschleiert werden könnte, falls die Produkteinwirkung zu einer Anpassung der Sehstärke bzw. zur Notwendigkeit des Tragens einer Sehhilfe geführt hätte. Dagegen spricht allerdings, dass einerseits die Revision der elektronischen Patientenakte keinerlei Anhaltspunkte für Komplikationen und Schäden am Auge ergab und zum anderen, in einer Sensitivitätsanalyse, beschränkt auf Mitarbeitende ohne Sehhilfe zu beiden Zeitpunkten, ebenfalls keine Visusminderung nach Produkteinwirkung festgestellt werden konnte. Eine weitere Limitation besteht in dem teilweise großen Abstand zwischen Augenkontamination und Sehtestnachkontrolle. Visusminderungen könnten daher auch durch normale Altersprozesse oder sonstige nicht beobachtete Ereignisse hervorgerufen worden sein. Eine Beschränkung der Population auf Personen, bei denen der Abstand zwischen Kontamination und Nachkontrolle höchstens ein Jahr betrug, zeigte allerdings keinen Unterschied zu den Ergebnissen der vollständigen Studienpopulation.

Ausblick

Die Ergebnisse des vorliegenden Beitrags deuten auf ein im Unternehmen professionell etabliertes Notfallversorgungsmanagement nach chemischer Augenkontamination hin. Unter Berücksichtigung der Limitationen konnte nach initialer Spülung mit Leitungswasser und/oder Natriumchlorid keine Visusminderung festgestellt werden. Daher besteht aus momentaner Sicht kein Optimierungsbedarf hinsichtlich der Erste-Hilfe-Maßnahmen. Der Abstand zwischen Produkteinwirkung und Sehtestnachkontrolle könnte durch Optimierungen in der arbeitsmedizinischen Nachsorge reduziert werden. Weiterhin bleibt es unumgänglich, chemische Augenkontaminationen zu vermeiden bzw. zu reduzieren. Dies könnte durch verstärkte Maßnahmen und Investitionen im Bereich der Aufklärungsarbeit und Prävention erreicht werden.

Fazit für die Praxis

  • Im Rahmen der Notfallversorgung nach chemischer Augenkontamination führt die initiale Spülung mit Leitungswasser und/oder Natriumchlorid offenbar nicht zu einer Visusminderung.
  • Optimierte Maßnahmen hinsichtlich der arbeitsmedizinischen Nachsorge könnten den Abstand zwischen Produkteinwirkung und Sehtestnachkontrolle reduzieren.
  • Maßnahmen und Investitionen im Rahmen der Prävention und Aufklärungsarbeit könnten zur Reduktion von chemischen Augenkontaminationen führen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

M. Schuster, D. Frambach, C. Oberlinner, F.-J. Simons und M. Claus stehen in einem Beschäftigungsverhältnis zur BASF SE in Ludwigshafen. M. Schuster und C. Oberlinner sind Aktionäre der BASF SE. Darüber hinaus geben die Autoren an, dass keine weiteren Interessenkonflikte bestehen.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
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Metadaten
Titel
Spülung mit Leitungswasser oder Natriumchlorid nach Augenkontamination
Aktualisierte retrospektive Ergebnisse aus einem Großunternehmen der chemischen Industrie
verfasst von
Michael Schuster, B.Sc.
Daniel Frambach
Christoph Oberlinner
Franz-Josef Simons
Matthias Claus
Publikationsdatum
26.04.2022
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Schlagwort
Sehhilfen
Erschienen in
Zentralblatt für Arbeitsmedizin, Arbeitsschutz und Ergonomie / Ausgabe 3/2022
Print ISSN: 0944-2502
Elektronische ISSN: 2198-0713
DOI
https://doi.org/10.1007/s40664-022-00462-0

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