Suchtmedizin: ein spannendes und vielfältiges Betätigungsfeld

Was führt Mediziner*innen zur Suchtmedizin? Und welche Vor- und Nachteile bringt die Tätigkeit mit sich? Hierüber berichten drei in Augsburg niedergelassene Kolleg*innen, die neben ihren eigenen Praxen gemeinsam eine suchtmedizinische Schwerpunktpraxis betreiben. Die Arbeit mit den Patient*innen empfinden sie als Bereicherung. Wie sind Sie zur Suchtmedizin gekommen? Michael Rink, niedergelassener Schmerztherapeut, Augsburg M. Rink × Rink: Ich habe mich vor neun Jahren als Schmerztherapeut mit einer Einzelpraxis in einem Stadtteil Augsburgs niedergelassen, der für seine Drogenszene bekannt ist. Schon während der Praxiseröffnung wurde ich mehrfach darauf angesprochen, ob ich nicht substituieren möchte. Nach einiger Zeit habe ich dann beschlossen, mit der Substitutionstherapie zu beginnen und dazu gleich eigene Räume angemietet, die etwas von meiner Praxis entfernt sind. Die Nachfrage war so immens, dass ich froh war, nach einem Jahr Herrn Dr. Geppert als Allgemeinmediziner dazugewinnen zu können. Nachdem die Zahl der Patient*innen weiter gestiegen ist, verstärkt seit diesem Jahr noch Frau Dr. Tiltscher als Psychiaterin das Team. Bei der Versorgung der Substitutionspatient*innen decken wir somit drei Fachgebiete ab – Schmerztherapie, Allgemeinmedizin und Psychiatrie. Dr. Jürgen Geppert, niedergelassener Allgemeinarzt, Augsburg J. Geppert × Geppert: Herr Rink und ich kannten uns damals bereits seit vielen Jahren. Einer der Gründe für mich, in die Suchtmedizin einzusteigen, war die hohe Belastung durch die Not- und Wochenenddienste. Denn wenn man als Suchtmediziner*in 365 Tage im Jahr Patient*innen versorgt, kann man sich vom Notdienst befreien lassen. Durch Frau Tiltscher sind wir nun glücklicherweise auch bei der Verordnung von Psychopharmaka besser aufgestellt. Tiltscher: Ich habe 2002 als Ärztin im Praktikum angefangen und bin zuerst auf der geschlossenen Suchtstation gelandet. Anschließend habe ich weiter in der Psychiatrie gearbeitet – und dort ist die Suchtproblematik auf allen Stationen ein Thema. Was macht den Reiz der Suchtmedizin aus? Dr. Cordula Tiltscher, niedergelassene Psychiaterin, Augsburg C. Tiltscher × Tiltscher: Die Suchtmedizin ist ein sehr vielfältiges und spannendes Betätigungsfeld, denn es geht um viel mehr als nur darum, Patient*innen auf ihr Substitutionsmittel einzustellen. Die Patient*innen haben viele Komorbiditäten, etwa im internistischen, orthopädischen oder psychiatrischen Bereich. Dies alles können wir in einer einzigen Praxis vereinbaren – und es wird nie langweilig. Geppert: Ich empfinde es als Privileg, in eine andere Welt eintauchen zu dürfen. Dabei erlebe ich Dinge, die man sonst nur aus den Medien kennt. Wir haben eine Schlüsselfunktion zwischen den Patient*innen und der Politik, um die Versorgung der Suchtkranken zu verbessern. Das ist etwas Einzigartiges – so etwas gibt es sonst in diesem Beruf nicht. Welche Vor- und Nachteile bringt die Suchtmedizin mit sich? Rink: Ein Nachteil ist, dass Suchtmediziner*innen dazu verpflichtet sind, ihre Patient*innen an 365 Tagen im Jahr zu versorgen. Einen großen Vorteil sehe ich aber darin, dass es sich dabei häufig um Patient*innen handelt, die sonst wenig Zugang zur Gesundheitsversorgung haben und medizinisch entsprechend schlecht versorgt sind. Das beobachten wir leider häufig, zum Beispiel was die Nachsorge nach einem stationären Aufenthalt betrifft. Die Patient*innen sind sehr dankbar, wenn Ärzt*innen den Menschen in ihnen sehen und ihre Sorgen und Probleme ernst nehmen. Tiltscher: Einen Vorteil sehe ich darin, dass bei der Substitution klar geregelt ist, was erlaubt ist und was nicht. Dies erleichtert Ärzt*innen den Einstieg in die Therapie. Aufgrund der zahlreichen Begleiterkrankungen der Patient*innen und des hohen Beratungsaufwandes ist die Substitutionstherapie aber sehr zeitintensiv. Muss ich Patient*innen wegen einer psychiatrischen Erkrankung zusätzlich noch in meiner eigenen Praxis versorgen, kann ich dies nicht ein zweites Mal abrechnen. Monetäre Vorteile sind deshalb aus meiner Sicht nur eingeschränkt vorhanden. Ich könnte auch nicht fünf Tage in der Woche ausschließlich Suchtmedizin betreiben, da es doch immer wieder um dieselben Themen geht. Welche Voraussetzungen sind nötig, um als Suchtmediziner*in tätig werden zu können? Rink: Eine formale Voraussetzung ist die Zusatzbezeichnung „suchtmedizinische Grundversorgung“. Zur Durchführung und Abrechnung über die Krankenkasse ist dann noch die Genehmigung für die „substitutionsgestützte Behandlung Opiatabhängiger“ bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zu beantragen. Welche Voraussetzungen müssen die Praxisräume aufweisen? Rink: Wir haben die Substitutionspraxis örtlich klar von unseren Einzelpraxen getrennt. Aus unserer Sicht ist dies ab einer gewissen Zahl an Substitutionspatient*innen auch notwendig. Denn das Thema Substitution ist doch sehr dominant. Hinzu kommt, dass die Urinkontrollen unter Sicht erfolgen müssen, was in einer Allgemein- oder Facharztpraxis schwer realisierbar ist. Die Praxisräume sind ja meist auch nicht schalldicht isoliert – und Themen wie Gefängnis und Heroinabhängigkeit, die mit Suchtpatient*innen besprochen werden, könnten andere Patient*innen irritieren. Tiltscher: Ich habe damals in meiner eigenen Praxis mit der Substitution begonnen. Bei zehn Patient*innen war aber die Obergrenze dessen erreicht, was möglich war. Es sind auch nicht alle Patient*innen wartezimmertauglich, zum Beispiel, wenn sie auf der Straße leben. Was empfehlen Sie interessierten Ärzt*innen? Geppert: Wer Interesse an der Substitutionstherapie hat, sollte in einer Praxis hospitieren, in der substituiert wird. Denn es kursieren viele falsche Vorstellungen, die sich so am besten ausräumen lassen. Wer es sich vorurteilsfrei anschaut, kann sich dann überlegen, ob er/sie Suchtmedizin machen möchte oder nicht. Rink: An der Substitutionstherapie interessierte Kolleg*innen können sich gerne an uns wenden. Sie sollten sich aber vorher vergewissern, ob ihr Praxispersonal ebenfalls offen dafür ist. Denn es ist doch ein sehr spezielles Gebiet. Tiltscher: Die Kolleg*innen sollten sich auch vergegenwärtigen, dass nicht immer alles eitel Sonnenschein ist. Es ist schön, wenn Patient*innen gut eingestellt sind und jeden Tag ihr Substitutionsmittel bekommen. Bei der Substitutionstherapie müssen Ärzt*innen aber auch mit aggressivem Verhalten, Beschimpfungen und Drohungen leben können. Vor allem müssen sie mit dem Thema „Tod“ umgehen können – und sich im Klaren darüber sein, auch jüngere Patient*innen zu verlieren. Sehen Sie hier mehr zu den Erfahrungen etablierter und angehender Suchtmediziner*innen. Bessere Lebensqualität dank Substitution In Deutschland sind etwa 80.000 Opiatabhängige unter Substitutionstherapie. Diese Therapie kann die Lebenserwartung erhöhen und die Lebensqualität verbessern. Bei einem leichten Anstieg lag die Zahl der gemeldeten Substitutionspatient*innen in Deutschland von 2010 bis 2019 relativ konstant zwischen etwa 75.000 und 80.000 – bei einer leicht rückläufigen Zahl der substituierenden Ärzt*innen von zuletzt rund 2600 [1]. Die Gesamtzahl der opiatabhängigen Personen in Deutschland wurde für 2016 auf knapp 170.000 geschätzt [2]. Der breitere Einsatz der Substitutionstherapie in den vergangenen Jahren hat die Lebenserwartung der Opiatkonsument*innen als Gruppe insgesamt erhöht. Weltweit ist die Opiatabhängigkeit eine der häufigsten substanzabhängigen Erkrankungen überhaupt [2]. Ein Ziel der Substitutionstherapie ist die Verbesserung der Lebensqualität. Dieses Ziel wird durch verschiedene Substitutionsmittel in unterschiedlichem Maße erreicht, wie Daten einer an sechs Zentren in Berlin, Hamburg und Bayern durchgeführten Studie mit 248 substituierten Patient*innen darlegen [3]. So waren mit Buprenorphin substituierte Patient*innen (n=37) mit 46 Prozent signifikant häufiger in einem Angestelltenverhältnis als mit Methadon/Levomethadon substituierte Patient*innen (n=126) mit 18 Prozent (p<0,005). Mit Diamorphin (n=85) und Buprenorphin substituierte Patient*innen bewerteten in einem Fragebogen ihr körperliches Funktionieren und die generellen Verbesserungen der Lebenssituation besser als die mit Methadon/Levomethadon substituierten Patient*innen (s. Abb.). Springer Medizin Verlag GmbH × Hoher Bedarf an Behandlung Kassenindividuelle Verträge bei Zubereitungen sind nicht praktikabel, betont Christiane König, Leiterin der Marienapotheke in Neuss und Vizepräsidentin des Verbands der Zytostatika herstellenden Apothekerinnen und Apotheker e. V. (VZA). In Bezug auf die prioritären Behandlungsziele der Opioidabhängigkeit – darunter die Sicherung des Überlebens – ist die langfristige Substitutionstherapie effektiv [4]. Es bestehe jedoch ein „unverändert hoher, kontinuierlicher und individuell hochspezifischer Behandlungsbedarf“, so die Autoren eines Berichts zur langfristigen Substitution Opioidabhängiger [4]. Im Medizinstudium ist Suchtmedizin aber kein Thema; die meisten Suchtmediziner kommen damit später eher zufällig in Kontakt. Die „Junge Suchtmedizin“ als neue Untergruppe der Deutschen Gesellschaft für Suchtmedizin (DGS) hat es sich zum Ziel gesetzt, „mehr Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Facetten der suchttherapeutischen Arbeit zu lenken und andere für dieses spannende Feld zu begeistern“ [5]. Literatur Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bericht zum Substitutionsregister, Januar 20202. Kraus L et al., Dtsch Arztebl Int 2019, 116: 137–143 Kraus L et al., Dtsch Arztebl Int 2019, 116: 137–143 Guillery SPE et al., Eur Addict Res 2021, 27: 371–380 Wittchen HU et al., PREMOS – Schlussbericht an das Bundesministerium für Gesundheit; https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/premos-langfristige-substitution-opiatabhaengiger.html (letzter Zugriff: 18.11.2021) https://www.facebook.com/events/d41d8cd9/junge-suchtmedizin-digitale-roadshow/331203631765940/ (letzter Zugriff: 18.11.2021) Impressum „Suchtmedizin: ein spannendes und vielfältiges Betätigungsfeld“ Literaturarbeit Bericht: Dr. Matthias Herrmann, Berlin Artikel gedruckt in: „Ärzte Zeitung“ Nr. 90, 15. Dezember 2021 Mit freundlicher Unterstützung der Hexal AG, Holzkirchen Corporate Publishing (verantwortl. i. S. v. § 55 Abs. 2 RStV): Ulrike Hafner, Tiergartenstraße 17, 69121 Heidelberg Redaktion: Dr. Annette Schilling Springer Medizin Verlag GmbH Heidelberger Platz 3 14197 Berlin Tel: 0800 7780 777 (kostenfrei) | +49 (0) 30 827 875 566 Fax: +49 (0) 30 827 875 570 E-Mail: kundenservice@springermedizin.de Die Springer Medizin Verlag GmbH ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Nature Geschäftsführung: Fabian Kaufmann, Dr. Cécile Mack, Dr. Hendrik Pugge Handelsregister Amtsgericht Berlin-Charlottenburg HRB 167094 B Umsatzsteueridentifikationsnummer: DE 230026696 © Springer Medizin Verlag GmbH Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Für Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen kann vom Verlag keine Gewähr übernommen werden. Derartige Angaben müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. PDF: Suchtmedizin: ein spannendes und vielfältiges Betätigungsfeld

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