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Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung 1/2023

Open Access 23.12.2021 | Ohrgeräusche | Originalarbeit

Eine alternative Methode zur Behandlung von Tinnitus: Sporttherapie zur Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens

verfasst von: Carolin Schulze

Erschienen in: Prävention und Gesundheitsförderung | Ausgabe 1/2023

Zusammenfassung

Hintergrund

Trotz nachgewiesener positiver Wirkungen auf die psychische, physische und soziale Gesundheit werden sporttherapeutische Interventionen momentan äußerst selten bei der Behandlung von Tinnitus eingesetzt.

Fragestellung

Wirkt sich ein sporttherapeutisches Interventionsprogramm positiv auf die individuelle Belastung durch den Tinnitus, das globale Wohlbefinden und die subjektiv wahrgenommene Lautstärke bei PatientInnen mit Tinnitusbeschwerden aus?

Material und Methode

Es wurde ein Prä-Post-Design mit Interventions- und Kontrollgruppe (Sportprogramm vs. keine Intervention) durchgeführt. Die gekürzte Fassung des Tinnitusfragebogens (Erfassung der individuellen Belastung), der Gesichterskala (Erfassung des globalen Wohlbefindens) und einer selbstkonstruierten Skala zur Erhebung der subjektiv eingeschätzten Lautstärke wurden als Erhebungsinstrumente eingesetzt.

Ergebnisse

Insgesamt nahmen 64 Personen an der Untersuchung teil (jeweils 32 in der Interventions- und Kontrollgruppe). Signifikante Gruppenunterschiede resultierten bezüglich der Veränderung der individuellen Belastung (2,84 ± 1,11 Punkte; F= 2,64; p = 0,010) und der subjektiv eingeschätzten Lautstärke (2,56 ± 0,68 Punkte; F = 3,79; p= 0,000). Die Interventionsgruppe zeigte eine signifikant stärkere Abnahme im Vergleich zur Kontrollgruppe. Hinsichtlich der Veränderung der globalen Stimmung resultierten keine signifikanten Gruppenunterschiede (−0,53 ± 0,38 Punkte; F = −1,39; p = 0,690).

Schlussfolgerungen

Sport zeigt vielfältige positive Wirkungen auf die selbst eingeschätzte Symptomatik einer Tinnituserkrankung und sollte dementsprechend innerhalb der Therapie häufiger eingesetzt werden.
Tinnitus und daraus entstehende Sekundärsymptome stellen hohe Herausforderungen für die Betroffenen und das Gesundheitssystem dar. Die möglichen Ursachen von Tinnitus sind vielfältig, wobei ein Hörverlust als häufigster ursächlicher Faktor [10] und Stress als wesentlicher auslösender und aufrechterhaltender Faktor angenommen werden kann [21]. Durch regelmäßige sportliche Aktivität kann das Stressniveau gesenkt werden [17, 26]. Dennoch werden sporttherapeutische Maßnahmen aktuell äußerst selten in der Tinnitustherapie eingesetzt. Dies kann auch damit begründet werden, dass wissenschaftlich fundierte Nachweise bezüglich der Wirkung auf die Tinnitussymptomatik fehlen.

Einleitung

Tinnitus kann als Wahrnehmung eines Geräusches ohne die zugehörige äußere Schallquelle definiert werden [29]. Unterschieden werden kann zwischen einem selten auftretenden objektiven Tinnitus, bei dem sich die Symptomatik auf eine innere Geräuschquelle rückführen lässt und einem weitaus häufiger auftretenden subjektiven Tinnitus. Beim letzteren fehlen sämtliche Geräuschquellen [29]. Bestehen Symptome länger als 3 Monate, wird von einem chronischen Tinnitus gesprochen [18]. Tinnitus ist weitaus verbreiteter, als die meisten Menschen annehmen. Aufgrund uneinheitlicher Definitionen gehen Prävalenzeinschätzungen häufig weit auseinander und liegen zwischen 5–30 % [29]. Auf Basis der aktuellen europäischen Leitlinie [6] und einer konservativen Einschätzung kann davon ausgegangen werden, dass 10–19 % aller Erwachsenen betroffen sind. In Deutschland tritt Tinnitus bei etwa 10 Mio. Menschen jährlich auf, wobei sich die Erkrankung bei etwa 250.000 PatientInnen chronifiziert [29]. Ein wesentlicher Faktor, der sowohl die Entstehung von Tinnitus als auch den klinischen Verlauf beeinflusst, ist Stress [21]. Wenn die Ohrgeräusche über einen langen Zeitraum bestehen, der Stress nicht reduziert werden kann und keine Habituation stattfindet, resultieren häufig Polysymptomatiken und Sekundärsymptome wie Schlafstörungen, depressive Verstimmtheit oder Konzentrationsmangel [32]. Durch eine Aufmerksamkeitsfokussierung auf die Ohrgeräusche, negative Bewertung und Emotionen entsteht eine Art Teufelskreislauf, welcher einen Rückzug sowohl aus dem beruflichen als auch dem privaten Leben zur Folge haben kann [11]. In besonders schlimmen Fällen kann es zu Suizidabsichten oder -durchführungen kommen [7, 19, 30]. Aus dieser Problematik ist ersichtlich, dass die Behandlung von Tinnitus vielschichtig, multidisziplinär und vor allem zeitnah erfolgen sollte, um mögliche Sekundärproblematiken zu vermeiden bzw. zu reduzieren und den Betroffenen Lebensqualität zurück zu geben. Trotz der hohen Prävalenz und des ausgeprägten Leidensdrucks von PatientInnen mit Tinnitusbeschwerden existieren aktuell keine speziellen Tinnitusmedikamente [22]. Gute Erfolge bei chronischem Tinnitus lassen sich durch verschiedene Therapieansätze, wie Verhaltens‑, Sauerstoff‑, Tinnitusretrainingstherapien oder Entspannungsverfahren erreichen. Unterstützend können Schlafmittel und Psychopharmaka gegen die Ohrgeräusche zum Einsatz kommen. Trotz der vielfältigen positiven Wirkungen von sportlicher Aktivität auf die psychische, physische und soziale Gesundheit werden sporttherapeutische Maßnahmen zum jetzigen Zeitpunkt nur äußerst selten bei der Behandlung von Tinnitus genutzt [4, 9, 11, 16]. Aktuell fehlen wissenschaftliche Untersuchungen, die die positiven Effekte von sportlicher Aktivität bei PatientInnen mit Tinnitusbeschwerden belegen. Bei bisherigen Studien wurden lediglich querschnittliche Daten bezüglich des Zusammenhangs von sportlicher Aktivität und dem Auftreten von Tinnitus untersucht [5, 20] oder es fehlt eine Kontrollgruppe, um mögliche positive Effekte sportlicher Aktivität zu untermauern [32].
Eine wissenschaftliche Bestätigung der positiven Wirkung von Sport und Bewegung bei PatientInnen mit diagnostizierten Tinnitus kann dazu beitragen, dass die Behandlungsmöglichkeit häufiger angeboten und durchgeführt wird. Die Untersuchung der Effekte einer sporttherapeutischen Intervention soll im Folgenden bezüglich der individuellen Belastung durch den Tinnitus, des globalen Wohlbefindens und der subjektiv eingeschätzten Lautstärke erhoben werden.

Methodik

TeilnehmerInnen

Voraussetzung für eine Teilnahme war, dass die ProbandInnen mindestens seit 2 Wochen wegen ihrer Ohrproblematik in ärztlicher Behandlung waren und aktuell keiner regelmäßigen sportlichen Aktivität nachgehen. Beides wurde im Vorfeld durch eine digitale Befragung („Sind Sie seit mindestens 2 Wochen wegen Ihres Tinnitus in ärztlicher Behandlung?“ und „Betreiben Sie aktuell regelmäßig Sport (mindestens einmal in der Woche)?“) abgeklärt. Weiterhin war es Bedingung, dass die ProbandInnen mindestens 18 Jahre alt waren. Bezüglich der Stärke der Ohrgeräusche oder des Geschlechts gab es keine Einschränkungen. Alle TeilnehmerInnen brauchten eine ärztliche Bestätigung, dass sie in der Lage sind, an der aktuellen Studie teilzunehmen. Die Genehmigung der lokalen Ethikkommission (Antrag V-368-21) wurde am 21.01.2021 erteilt. Eine schriftliche Einwilligung wurde von allen PatientInnen vor Studienaufnahme eingeholt.

Erhebungsinstrumente

Zu Beginn der Untersuchung wurden soziodemografische Daten, wie das Geschlecht, das Alter, die Dauer und die Behandlungszeit der Tinnitusproblematik erhoben. Zur Erfassung der Beurteilung von Tinnitus-bedingten psychischen Belastungen wurde eine gekürzte Version des Tinnitusfragebogens („tinnitus questionnaire“ [TQ]) verwendet (Mini-TQ; [12]). Der Mini-TQ enthält 12 Items, welche auf einer 3‑Punkte-Likert-Skala (0 = „stimmt nicht“, 1 = „stimmt teilweise“, 2 = „stimmt“) bewertet werden konnten. Die Werte des Mini-TQ können zwischen 0 und 24 liegen. Für die Auswertung wurde die Gesamtpunktzahl addiert und durch anschließende Quartilberechnung einem Schwergrad (leichtgradig = 0–7 Punkte; mittelgradig = 8–12 Punkte; schwergradig = 13–18 Punkte; schwerstgradig = 19–24 Punkte) zugeordnet. Der Mini-TQ wurde bezüglich seiner Gütekriterien als sehr gut eingeschätzt [12]. Die Korrelation mit der ungekürzten Fassung des TQ liegt bei r > 0,90 und die erhobene Retestreliabilität beträgt r = 0,89. Die Validität wurde mittels Korrelation zu generellen psychopathologischen Symptomen nachgewiesen und liegt zwischen r = 0,26 (zwischenmenschliche Empfindsamkeit, Feindseligkeit) und r = 0,39 (allgemeiner symptomatischer Index [GSI]; [12]). Das globale Wohlbefinden wurde mittels der Gesichterskala [2] erfasst. Sie besteht aus nur einem Item, das sich aus sieben verschiedenen Gesichtern, die unterschiedliche Stimmungen zum Ausdruck bringen sollen, zusammensetzt. Die Gesichterskala ist ähnlich einer Likert-Skala aufgebaut, wobei Antworten zwischen sehr schlechter (trauriges Gesicht) und sehr guter (fröhliches Gesicht) Stimmung liegen können. Die TeilnehmerInnen sollten das am besten zutreffende Gesicht ankreuzen. Dieses Gesicht sollte das gegenwärtige Leben und die aktuelle Befindlichkeit am besten beschreiben. Die Gesichterskala zeigt gute Ergebnisse bezüglich der Gütekriterien [1, 31]. Die subjektiv eingeschätzte Lautstärke wurde auf einer selbstkonstruierten 10-Punkte-Skala (0 = nicht vorhanden; 9 = sehr laut) eingeschätzt.

Durchführung der Untersuchung

Die Untersuchung fand im Frühjahr 2021 statt. Alle TeilnehmerInnen wurden randomisiert zwei Gruppen zugeordnet. Die Randomisierung erfolgte mittels zufälliger Generierung einer Zahl in LimeSurvey und ist somit als objektiv zu beurteilen. Die Interventionsgruppe (IG) erhielt über 10 Wochen 20 Einheiten ausdauerorientiertes Bewegungstraining. Die Inhalte des Trainings wurden den TeilnehmerInnen wöchentlich via E‑Mail zugesandt. Die Einheiten bestanden aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten (Schließung Schwimmhalle und Fitnessstudio während des Lockdowns) aus Lauf- und Radeinheiten zwischen 30 und 60 min. Dabei wurde sowohl die Dauer- als auch die Intervallmethoden angewendet. Die Kontrollgruppe (KG) erhielt keine Intervention (Wartelistenkontrollgruppe). Die Postmessung erfolgte am Ende der letzten Sporteinheit bzw. nach 10 Wochen für die KG.

Datenanalyse

Die statistische Auswertung wurde mit dem Programm SPSS (Version 26.0, IBM Coporation, Armonk, NY, USA) [13] durchgeführt. Um Mittelwertunterschiede der Veränderungen der subjektiven Belastung durch den Tinnitus, der aktuelle Befindlichkeit und der selbst eingeschätzten Lautstärke zu untersuchen, wurde eine ANOVA mit Messwiederholung durchgeführt. Zur Überprüfung möglicher Einflussfaktoren wurden sowohl das Geschlecht, als auch das Alter, die Dauer der Tinnituserkrankung und die Dauer der Behandlung als Moderatoren in die ANOVA eingefügt.

Ergebnisse

Beschreibung der TeilnehmerInnen

Eine Übersicht über die Merkmale der TeilnehmerInnen ist in Tab. 1 zu finden.
Tab. 1
Beschreibung der TeilnehmerInnen
Variable
Gesamt
IG
KG
n
64
32
32
Alter (Jahre)
MW (SD)
49,2 (11,7)
51,3 (11,3)
47,5 (11,1)
Range (min–max)
26–68
29–68
26–62
Geschlecht weiblich absolut (%)
31 (48,4)
16 (50,0)
15 (46,9)
Zeitdauer der bestehenden Symptomatik (Monate)
MW (SD)
9,5 (6,0)
10,0 (6,2)
9,2 (5,9)
Range (min–max)
0,75–26
2–26
0,75–23
Behandlungsdauer (Monate)
MW (SD)
4,2 (2,1)
4,4 (4,8)
4,0 (1,7)
IG Interventionsgruppe, KG Kontrollgruppe, MW Mittelwert, SD Standardabweichung
Die IG und die KG unterschieden sich nicht bezüglich der soziodemografischen Daten (Geschlecht, Alter, Dauer und Behandlungszeit des Tinnitus) zu Beginn der Untersuchung.
Eine Übersicht über die Ergebnisse der individuellen Belastung durch den Tinnitus, des globalen Wohlbefindens sowie der subjektiv eingeschätzten Lautstärke ist in Tab. 2 dargestellt.

Ergebnisse des Mini-TQ

Die Gruppen unterschieden sich nicht bezüglich der Angaben innerhalb des Mini-TQ zu Beginn der Untersuchung (F = 0,94; p = 0,424). Die mittlere Abnahme zur individuellen Belastung des Tinnitus auf dem Mini-TQ der KG betrug 3,38 (±4,85) Punkte. Innerhalb der IG sank der Wert zur Postmessung um 6,31 (±4,00) Punkte. Die Unterschiede der Veränderung der Werte in der IG und der KG waren signifikant (F = 2,64; p = 0,010).

Ergebnisse bezüglich des globalen Wohlbefindens (Gesichterskala)

Die Gruppen unterschieden sich nicht bezüglich der Angaben auf der Gesichterskala zu Beginn der Untersuchung (F = 0,79; p = 0,501). Die KG resultierte in einem verbesserten globalen Wohlbefinden zur Postmessung um 1,56 (±1,37) Punkte und die IG um 2,09 (±1,67) Punkte. Die Unterschiede der Veränderung bezüglich des globalen Wohlbefindens waren nicht signifikant (F = −1,39; p = 0,690).

Ergebnisse bezüglich der subjektiv eingeschätzten Lautstärke

Die Gruppen unterschieden sich nicht bezüglich der subjektiv eingeschätzten Lautstärke zu Beginn der Untersuchung (F = 0,78; p = 0,507). Innerhalb der KG nahm die Lautstärke um 0,389 (±2,97) Punkte ab. Die IG zeigte eine Abnahme von 2,94 (±2,41) Punkten. Die Veränderung der subjektiv eingeschätzten Lautstärke unterschied sich signifikant zwischen beiden Untersuchungsgruppen (F = 3,79; p = 0,000).

Einflussfaktoren auf die Ergebnisse

Keiner der möglichen Moderatorvariablen (Alter, Geschlecht, Dauer der Tinnituserkrankung, Dauer der ärztlichen Behandlung) zeigte einen signifikanten Einfluss auf die Ergebnisse.
Tab. 2
Zusammenfassung der Ergebnisse aller erhobenen Werte für die Interventions- und Kontrollgruppe
Skala
Interventionsgruppe
Kontrollgruppe
Veränderungswerte
T0
MW (SD)
T1
MW (SD)
T0
MW (SD)
T1
MW (SD)
Mittlere Differenz zwischen den Gruppen (Standardfehler)
Gruppenunterschiede; F‑Wert (p-Wert)
Mini-TQ
16,80 (2,60)
10,49 (3,30)
17,40 (3,00)
14,02 (4,55)
2,84 (1,11)
2,64 (0,010)
Gesichterskala
2,80 (1,00)
4,89 (1,34)
2,70 (0,80)
4,26 (1,09)
−0,53 (0,38)
−1,39 (0,690)
Lautstärke
5,81 (1,86)
2,87 (2,14)
5,56 (1,56)
5,18 (2,27)
2,56 (0,68)
3,79 (0,000)
T0 Prä-Messung, T1 Post-Messung, MW Mittelwert, SD Standardabweichung, TQ „tinnitus questionnaire“

Diskussion

Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse

Sport und Bewegung zeigen in den bisherigen Untersuchungen vielseitige positive Wirkungen sowohl auf die psychische, die soziale als auch auf die physische Gesundheit [3, 4, 8, 9, 15, 16, 25, 27]. In der aktuellen Studie konnte nachgewiesen werden, dass sportliche Aktivität einen positiven Effekt auf die individuelle Belastung durch den Tinnitus und die subjektiv eingeschätzte Lautstärke der Ohrgeräusche zeigt. Es resultierten keine Gruppenunterschiede in der Veränderung des globalen Wohlbefindens zwischen der IG und der KG.
Bereits bei 76 % der TeilnehmerInnen kann davon ausgegangen werden, dass ein chronischer Tinnitus vorlag. Sowohl die Dauer der Erkrankung als auch die Dauer der ärztlichen Behandlung zeigten keinen Einfluss auf die Ergebnisse. Durch die nachweisliche Reduktion der Stresshormone Adrenalin und Cortison und die Ausschüttung von Endorphinen [17, 26] kann Stress reduziert werden. Dieser wiederum stellt einen wesentlichen Faktor für die Auslösung und Aufrechterhaltung von Tinnitus dar [28]. Durch die aufgrund von Bewegung und Sport induzierte Linderung von Unruhe, Niedergeschlagenheit und Konzentrationsstörungen, welches alles häufige Begleitsymptome eines diagnostizierten Tinnitus darstellen [32], empfinden PatientInnen auftretende Belastungen durch die Ohrgeräusche als weniger störend. Aufgrund der Senkung des Stressspiegels kann die Hörbahn entlastet werden, was erklärt, warum ProbandInnen der IG den Tinnitus als leiser wahrnahmen. Weiterhin kann die verbesserte Durchblutung und die Steigerung der Sauerstoff- und Nährstoffversorgung im gesamten Körper, aber auch der Ohren und des Gehirns [16] dazu beigetragen haben, dass es zu einer Verringerung der Lautstärke oder des Auftretens von Ohrgeräuschen kommt. Dies könnte erklären, warum ProbandInnen der IG durch eine Lenkung der Aufmerksamkeit vom „Kopf in den Körper“ eine „Defokussierung“ von den Ohrgeräuschen erfahren haben [25]. Durch diese „Defokussierung“ können Ängste und Sorgen abgebaut und negative Reaktionen vermindert werden [25].

Begrenzungen der durchgeführten Studie

Aufgrund der gegebenen Situation (Coronapandemie) war es nicht möglich, die Interventionen zu begleiten und die ProbandInnen innerhalb der Sporteinheit zu unterstützen. Die Durchführung der Intervention erfolgte für jede/n TeilnehmerIn selbstständig, so dass nicht kontrolliert werden konnte, ob diese wirklich in dem Maße ausgeführt wurde, wie im Protokoll angegeben. Die Durchführung einer Sporteinheit ist innerhalb einer Gruppe durch größere Motivation gekennzeichnet [23]. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass Personen signifikant länger Sport trieben, wenn sie dies in Gruppen absolvieren konnten [14]. TeilnehmerInnen am Gruppensport trainierten sowohl bei konjunktiven als auch bei koaktiven Aufgabenstellungen durchschnittlich 10 min länger im Vergleich zu EinzelsportlerInnen [14]. Von der Umsetzung der Intervention in (realen) Gruppen hätten demzufolge sowohl sportlich leistungsstarke als auch -schwache ProbandInnen profitiert. Eventuell auftretende Fehler bei Kraftübungen oder Rückfragen oder der gelesenen Informationen konnten somit nicht direkt von einem/einer ÜbungsleiterIn oder dem Forschungspersonal beantwortet werden. Die ProbandInnen hatten zwar immer die Möglichkeit, via E‑Mail Rückfragen zu stellen oder Rückmeldungen zu geben, ob dies bei Bedarf aber auch wahrgenommen wurde, bleibt unklar. Weiterhin wurde zu Beginn der Untersuchung erfragt, aber nicht kontrolliert, ob ProbandInnen vor der Intervention bereits regelmäßig sportlich aktiv waren. Auch könnten Personen der KG ebenfalls im Interventionszeitraum Sport getrieben haben. Zwar wurde darauf hingewiesen, den aktuellen Alltag möglichst nicht zu verändern, dennoch ist eine mögliche Sportaufnahme von Personen in der KG nicht auszuschließen. Weiterhin wurden in der durchgeführten Studie weitere Einflussfaktoren, die sich negativ auf die Tinnitussymptomatik auswirken können, nicht untersucht. Die Schlafqualität, Vorerkrankungen, die berufliche Situation oder der Konsum von Alkohol, Nikotin und anderen Drogen wurde nicht abgefragt. Diese Variablen könnten einen Einfluss auf die Tinnitussymptomatik gezeigt haben. Die Stichprobe untersuchte Menschen mit Tinnitussymptomatik ab 26 Jahren mit einem Altersdurchschnitt von etwa 51 Jahren. Das heißt, dass v. a. jüngere PatientInnen nicht mit in die Untersuchung eingeflossen sind. Die dargestellten Ergebnisse sind also nur mit Vorsicht auch auf Kinder und Jugendliche anwendbar. In der vorliegenden Untersuchung wurde die Intervention über einen relativ kurzen Zeitraum von 10 Wochen durchgeführt. Weiterhin wurden keine Follow-up-Daten erhoben. Langfristige Effekte können deshalb aus den vorliegenden Daten nicht geschlussfolgert werden.

Weiterer Forschungsbedarf

Aufgrund der hohen Prävalenz von Tinnitus auch bei jungen Personen von 17,7 % sollten in weiteren Forschungsarbeiten v. a. auch Kinder und Jugendliche untersucht und die Wirkung einer sportlichen Intervention belegt werden [24]. Wichtig erscheint es auch, weitere Moderatorvariablen mit einzubeziehen. Beispiele dafür wären das Auftreten von Tinnitus innerhalb der Familie, Stressbelastungen auf Arbeit oder in der Freizeit, auftretende Lärmbelastungen, die Schlafqualität, möglicher Konsum von Alkohol oder Drogen oder vorherige Erkrankungen des auditorischen Systems. Weiterhin ist unklar, welche Intensität und Zeitdauer der sportlichen Aktivität zur Verbesserung der subjektiven Symptomatik erforderlich sind. Fragestellungen weiterer Studien könnten demnach sein, welches Ausmaß an sportlicher Aktivität notwendig ist, um positive Effekte zu erzielen und ob Alltagsaktivitäten (z. B. aktive Mobilität, Arbeiten im Haushalt) ebenfalls positive Wirkungen auf die Tinnitussymptomatik zeigen. In weiteren Untersuchungen könnte zudem die Zeitdauer der Intervention erhöht werden. In der aktuellen Studie erhielten die ProbandInnen über eine Zeitdauer von 10 Wochen insgesamt 20 Interventionseinheiten. Wichtig wäre es, dass die Betroffenen die sportliche Aktivität nachhaltig in ihren Alltag integrieren. Deshalb scheint es notwendig, PatientInnen mit Tinnitusbeschwerden auch nach der 10-wöchigen Interventionszeit zu begleiten und sportliche Aktivitäten in einer geringeren Frequenz und mit größeren zeitlichen Abständen zu wiederholen. Denkbar wäre hier, zunächst eine Einheit Sport pro Woche anzubieten. Später könnten Erinnerungen (per E‑Mail und/oder Post) versandt werden, damit die PatientInnen mit Tinnitusbeschwerden diese Interventionsinhalte eigenständig im Alltag umsetzen. Ebenfalls erscheint es sinnvoll, weitere Post-Messungen vorzunehmen, um langfristige Interventionseffekte aufzuzeigen.

Fazit für die Praxis

  • In der Praxis sollten zunehmend Sportprogramme innerhalb der Tinnitustherapie bei erwachsenen PatientInnen jeden Alters und unabhängig vom Geschlecht oder der Dauer der Erkrankung mit ärztlicher Genehmigung angewandt werden.
  • Zur Prävention aber auch zur Verbesserung der subjektiv eingeschätzten Symptome sollte es ÄrztInnen ermöglicht werden, bei PatientInnen mit Tinnitusbeschwerden Sport auf Rezept zu verschreiben.

Danksagung

Die Autorin dankt der Dr.-Kienle-Gogolok-Stiftung für die Unterstützung bei der Umsetzung der Untersuchung.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

C. Schulze gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurde von den Autoren eine Studie an Menschen durchgeführt. Ein Ethikantrag wurde von der lokalen Ethikkommission genehmigt.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Metadaten
Titel
Eine alternative Methode zur Behandlung von Tinnitus: Sporttherapie zur Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens
verfasst von
Carolin Schulze
Publikationsdatum
23.12.2021
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
Schlagwörter
Ohrgeräusche
Tinnitus
Erschienen in
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Print ISSN: 1861-6755
Elektronische ISSN: 1861-6763
DOI
https://doi.org/10.1007/s11553-021-00927-9

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