Indikation und Patientenauswahl
Die VNS als ergänzende Therapie zur Standardbehandlung ist grundsätzlich bei Patienten mit der Hauptdiagnose einer depressiven Störung geeignet. Die Zulassung erfolgte für „chronische und rezidivierende Depressionen, die sich in einer therapieresistenten depressiven Episode befinden“. Hier stellt sich die Frage nach einer allgemeingültigen Definition von Therapieresistenz, die bislang nicht existiert [
25]. Die europäische Zulassungsbehörde EMA nimmt Therapieresistenz an, wenn mindestens zwei Antidepressiva aus unterschiedlichen Substanzklassen in ausreichender Dauer und Dosis nicht zu einer signifikanten Verbesserung führten. Dabei zielen die Therapieversuche immer auf Remission und Akutbehandlungen ab, Rezidive und chronifizierende Verläufe werden im Konzept der Therapieresistenz nicht ausreichend mitgedacht. Die konzeptuelle Schwierigkeit der Therapieresistenz adressierend erschien kürzlich eine Konsensusveröffentlichung für das Konzept der „schwer zu behandelnde Depression“ („difficult to treat depression“; [
26]). Dieses geht pragmatischer von schwer zu behandelnden Depressionen mit einem Modell der chronischen Erkrankung aus und sucht Wege der Symptomreduktion und Verbesserung der Lebensqualität für die schwerkranken Patienten. Hier werden im Gegensatz zum kategorialen Konzept der Therapieresistenz Verbesserung und Verschlechterung der Erkrankung in einem Kontinuum gesehen.
Im Falle einer chronischen depressiven Störung sollte die Dauer der depressiven Episode unserer Einschätzung nach mindestens ein Jahr (in manchen Zentren > 2 Jahre) betragen; bei einer rezidivierenden depressiven Episode (ICD-10 F33.2) sollte der Patient drei oder mehr Episoden (einschließlich der aktuellen) in den letzten 10 Jahren gehabt haben. Wichtig bei der Entscheidung ist die Beeinträchtigung von Lebensqualität und Teilhabe durch die Erkrankung, die sich in Residualsymptomen, häufigen Krankenhausaufenthalten oder hoher Last an medikamentöser Behandlung zeigen kann. Je mehr solche invalidierenden Faktoren hinzutreten, umso eher kann die Indikation zur VNS als Zusatzbehandlung gestellt werden. Ebenfalls für VNS geeignet sind Patienten mit einer schwer zu behandelnden bipolaren Depression, wobei hier das Kriterium der Therapieresistenz noch unschärfer definiert ist [
27]. Bei Patienten mit bipolar-affektiven Störungen sollte der prädominante Pol die Depression sein. In seltenen Fällen wurde bei unipolaren Patienten über einen Wechsel in eine manische Episode unter VNS berichtet, wobei das Risiko des Auftretens nicht über dem naturalistischen Switch-Risiko lag (u. a.
19) und die manischen Episoden gut zu behandeln waren. Nach einer Fortführung der VNS trat keine weitere manische Phase auf.
Selbstverständlich sollten alle infrage kommenden Patienten bislang gemäß den gültigen Leitlinien behandelt worden sein. Die Patientenauswahl (Infobox
1) erfordert eine gute Kenntnis des bisherigen Krankheits- und Behandlungsverlaufs, der aktuellen Symptomatik und der Komorbiditäten des Patienten sowie letztlich eine Abwägung des Nutzens und der Risiken im individuellen Fall. Da für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen eine Therapieresistenz nachgewiesen sein muss, sollte der Patient von
mindestens zwei Antidepressiva verschiedenen Wirkprinzips nicht profitiert haben. Darunter sollte aus unserer Sicht mindestens
ein Medikament mit mindestens dualen Wirkmechanismus (SNRI, TZA) wie z. B. Venlafaxin oder Amitriptylin gewesen sein. Ferner sollten mindestens zwei Augmentationsstrategien gemäß der NVL „Unipolare Depression“ eingesetzt worden sein, typischerweise Lithium und ein Antipsychotikum der 2. Generation (Quetiapin, Aripiprazol oder Risperidon).
Aus der bereits erwähnten Registerstudie von Aaronson [
18] lässt sich eine Empfehlung für EKT-Responder ableiten, die nach einer erfolgreichen EKT-Serie wiedererkranken, die Behandlung nicht mehr vertragen oder in einem Erhaltungs-EKT-Schema verbleiben müssen, um eine Remission aufrecht zu erhalten. Die Responsewahrscheinlichkeit ist deutlich höher, wenn der Patient in der Vergangenheit positiv auf EKT angesprochen hat, sodass hier aus unserer Sicht frühzeitig VNS angeboten werden sollte, insbesondere wenn die Krankheitslast des Patienten entsprechend hoch ist. Bei Patienten in einem Erhaltungs-EKT-Schema bietet sich die Therapie oft geradezu an, da diese Patienten sich in aller Regel eine Erweiterung der Abstände zwischen den Erhaltungs-EKT wünschen. In einer Fallserie mit 10 Patienten, die mit Erhaltungs-EKT behandelt wurden, konnten 7 davon ein Jahr nach Beginn der zusätzlichen VNS auf eine Erhaltungs-EKT verzichten [
28]. In Anbetracht der begrenzten therapeutischen Optionen bei EKT-Non- oder Partialrespondern kann VNS eine sinnvolle Langzeitbehandlung sein, auf die immerhin mehr als die Hälfte der Patienten respondieren [
18]. Auch bei Patienten, die sehr unter Nebenwirkungen der Medikation leiden oder bei denen eine Pharmakotherapie (relativ) kontraindiziert ist, kann die VNS als Therapie erwogen werden.
In einer kleinen Beobachtungsstudie mit 19 Patienten konnte gezeigt werden, dass Patienten mit einer initial höheren QTc-Zeit im EKG eine größere Symptomverbesserung nach 12 Monaten zeigten, wenn sie mit VNS behandelt wurden, wobei QTc und Symptomverbesserung signifikant korrelierten [
29]. Die Stichprobe war allerdings zu klein, um die QTc als prognostischen Biomarker für ein Therapieansprechen empfehlen zu können. In einer aktuellen Veröffentlichung wurden Vorschläge zur Auswahl von Patienten entwickelt, die im Wesentlichen die hier genannten Aspekte berücksichtigen, jedoch auf das britische Versorgungssystem zugeschnitten sind und deshalb nicht vollständig auf hiesige Gegebenheiten übertragen werden können [
30].
Es gibt nur sehr wenig Daten, die eine VNS-Therapie bei Patienten mit Rapid-cycling-Verlauf einer bipolar-affektiven Störung unterstützen, daher raten wir von einem Einsatz bei dieser Verlaufsform ab. Kritisch muss die VNS bei Patienten betrachtet werden, die an anderen psychischen Erkrankungen als Depressionen leiden. Insbesondere für primär psychotische Erkrankungen gibt es kaum Hinweise auf eine Wirksamkeit der VNS. Das Vorliegen einer schweren Depression mit psychotischen Symptomen ist hingegen kein Ausschlussgrund für eine VNS-Behandlung. Zurückhaltung ist auch geboten bei Patienten, bei denen eine schwere Persönlichkeitsstörung besonders aus den Clustern A und B vorliegen, da sich diese u. a. erschwerend auf die Adhärenz auswirken können. Gleiches gilt für Patienten mit schweren Abhängigkeitserkrankungen. Außerdem müssen die Patienten aufklärungsfähig und in der Lage sein, die Tragweite des operativen Eingriffs und die Konsequenzen der Behandlung zu verstehen, und sollten auch bereit sein, die nötigen Folgetermine zur Dosistitration und zum Monitoring wahrzunehmen.
Die VNS-Stimulation kann ein bestehendes obstruktives Schlafapnoesyndrom (OSAS) verschlechtern, daher sind schwere Verläufe eines OSAS eine Kontraindikation, ebenso wie eine stattgehabte Vagotomie des linken N. vagus.