Skip to main content
Erschienen in: Die Ophthalmologie 8/2023

Open Access 08.09.2022 | Kanthotomie | Kasuistiken

Orbitale Spießverletzung im Kindesalter: Bedeutung der Bildgebung und interdisziplinären Behandlung

verfasst von: Dr. med. A. J. Speidel, A. Wolf, A. Peraud, M. Schuler-Ortoli, M. Parlak

Erschienen in: Die Ophthalmologie | Ausgabe 8/2023

download
DOWNLOAD
print
DRUCKEN
insite
SUCHEN
Hinweise
QR-Code scannen & Beitrag online lesen

Anamnese

Wir berichten über ein 5‑jähriges Mädchen, das am 28.02.2021 mit einem Schaschlikspieß ihre Gummistiefel putzen wollte. Mit dem Spieß in der Hand stolperte sie und fiel mit dem Gesicht darauf. Der Spieß blieb neben dem rechten Auge stecken. Die Mutter, Fachärztin für Anästhesiologie, beließ das Objekt an Ort und Stelle. Es folgte eine sofortige notärztliche Einweisung in das Universitätsklinikum Ulm.

Befund

Die Erstuntersuchung der Patientin erfolgte liegend. Die Patientin war ruhig, somnolent und nicht ansprechbar. Es zeigte sich am medialen Lidwinkel parabulbär eine ca. 4 cm herausstehende Spitze eines Holzspießes (Abb. 1). Der Bulbus war in Adduktionsstellung.

Diagnose

Transorbitale Spießungsverletzung

Therapie und Verlauf

Interdisziplinär wurde eine Computertomographie (CT) durchgeführt. Die CT zeigte ein längliches, nicht röntgendichtes Material medial des rechten Bulbus ohne Zeichen einer Bulbusverletzung. Die Spitze des Spießes stellte sich ca. 2,5 cm dorsal der Orbitaspitze dar (Abb. 2a–d). Eine erneute interdisziplinäre Absprache führte zu dem Entschluss, den Fremdkörper in Intubationsnarkose (ITN) und Magnetresonanztomographie(MRT)-Bereitschaft zu bergen. Nach Zug des Schaschlikspießes (Abb. 3) entwickelten sich eine akute retrobulbäre Blutung sowie eine deutliche Lidspannung. Eine laterale Kanthotomie und Kanthopexie führte zu einer deutlichen Dekompression. Klinisch zeigten sich jetzt eine Anisokorie rechts > links sowie lichtstarre Pupillen. Die durchgeführte MRT zeigte eine rechtsbetonte zerebrale Diffusionsstörung sowie Anteile einer Subarachnoidalblutung und eine dezente Mittellinienverlagerung nach links. Eine Verletzung von großen zerebralen Arterien wurde ausgeschlossen. Nach 2 h waren die Pupillen wieder isokor und lichtreagibel. Aufgrund der Diffusionsstörungen, welche am ehesten als Korrelat eines Krampfanfalls zu werten waren, wurde in der Zusammenschau die Diagnose eines epileptischen Anfalls gestellt. Nach Anlage einer Hirndrucksonde wurde die Patientin auf der Intensivstation überwacht. Eine Antibiose mit Meropenem und Vancomycin wurde bei hohem Infektionsrisiko angesetzt und eine antikonvulsive Medikation mit Levetiracetam begonnen. Am Folgetag konnte die Patientin extubiert und die Hirndrucksonde gezogen werden. Die Pupillen waren beidseits prompt lichtreagibel und isokor. Der Augendruck war mit 24 mm Hg am rechten Auge leicht erhöht. Der vordere Augenabschnitt war bis auf eine Affektion des Canaliculus inferior und ein Hyposphagma nasal unauffällig. Der laterale Kanthus war nach Kanthotomie reizfrei. Fundoskopisch zeigten sich in Miose am rechten Auge eine parapapilläre Blutung sowie eine Papillenschwellung. Das Kind konnte auf Normalstation verlegt werden. Im stationären Verlauf zeigte sich bei der jungen Patientin eine Hemiparese links. Ein zunächst angenommener Status epilepticus wurde neuropädiatrisch mittels Elektroenzephalographie (EEG) ausgeschlossen. Am 05.03.2021 erfolgte eine Tränenwegsrekonstruktion mit lateraler Kanthoplastik in ITN. Fundoskopisch war ein beidseitiges Papillenödem mit parapapillären Blutungen ersichtlich. Am zweiten Tag nach Operation zeigte sich eine Esotropie. Bei Verdacht auf neu aufgetretene Abduzensparese erfolgte eine MRT-Untersuchung. Es wurden neue Diffusionsstörungen festgestellt. Im weiteren stationären Verlauf durchgeführte EEG erbrachten schließlich eine Befundbesserung. Am 16.03.2021 war die Patientin zu allen Qualitäten orientiert mit altersentsprechender Artikulation. Eine MRT vom 19.03.2021 zeigte insgesamt eine Regredienz des Kortexbefundes. Ein EEG zeigte auch nach Reduktion der antiepileptischen Therapie keine epilepsietypischen Potenziale. Die augenärztliche Untersuchung bei Entlassung zeigte rechts ein leichtes Abduktionsdefizit. Ein seitengleicher Visus von 0,8 konnte dargestellt werden. Fundoskopisch zeigten sich weiterhin parapapilläre Blutungen sowie eine Papillenschwellung (Abb. 4). Das Mädchen konnte am 28.03.2021 in gutem Allgemeinzustand und kontaktfreudig mit guter Artikulation und guter Erholung der initialen Hemiparese in die ambulante Betreuung entlassen werden.

Diskussion

Die weltweite jährliche Inzidenz kindlicher Augentraumata wird auf 9 bis 15 Fälle pro 100.000 Einwohner geschätzt [4]. Diese Unfälle sind bei Kindern die Hauptursache für erworbene monokulare Visusdefizite bis hin zur vollständigen Erblindung [1]. Kleine Kinder (Alter < 5 Jahre) sind am häufigsten Augentraumata ausgesetzt, welche zu einer Visusminderung führen können [7]. Auch haben Kinder ein höheres Risiko für bestimmte Arten von Spießungsverletzungen, die bei Erwachsenen selten vorkommen. Spießungen z. B. des weichen Gaumens und des Oropharynx sind Verletzungen, die entstehen, wenn Kinder fallen, während sie Gegenstände halten [5]. Eine transorbitale Spießungsverletzung durch hölzernen Fremdkörper ist eine seltene klinische Situation [6, 10]. Derselbe Mechanismus stellt sich auch bei oben beschriebenem Fall dar. Obwohl sich transorbitale Schädel-Hirn-Verletzungen dramatisch darstellen können, sind viele Verletzungen subtil und können zunächst verborgen bleiben [9, 10]. Intrakranielle Verletzungen können bei geringfügigen periorbitalen Traumata auftreten, ohne dass eine knöcherne Verletzung vorliegt. Die Sklera und die Beweglichkeit des Bulbus schützen ihn vor Gegenständen, die mit geringer Geschwindigkeit auf ihn treffen. Die horizontale Pyramidenform der Orbita lenkt eindringende Objekte zu ihrem Scheitelpunkt hin ab. Der Bulbus wird oft zur Seite geschoben, wenn der Fremdkörper die Orbita durchquert [10]. Dieses Phänomen gilt möglicherweise nicht für Hochgeschwindigkeitsverletzungen [2]. Auch hat die Form des Objektes einen klaren Einfluss. Wenn das eindringende Ende des Objektes spitz ist, kann das Ergebnis eine unauffällige, schlitzartige Einstichwunde sein, während ein stumpfes Ende eine Risswunde mit unregelmäßigen, gequetschten Kanten erzeugt. Dies hätte bei oben genanntem Eintrittsweg fatale Folgen mit sich gebracht [8]. Die Tatsache, dass die Patientin am Ort des Geschehens nicht das Bewusstsein verloren hatte, ist für Spießungen und andere Penetrationen der Schädelhöhle nicht ungewöhnlich [8]. Letale Folgen nach transorbitalen Verletzungen sind möglich und meist Folge einer verzögerten intrazerebralen Komplikation (infektiös, vaskulär oder neurologisch) [6]. Bei Spießverletzungen sollte nicht versucht werden, den Gegenstand an der Unfallstelle zu entfernen, da dies zu unkontrollierten Blutungen oder zusätzlichen Gewebeschäden führen kann. Bill beobachtete bereits 1862 einen besseren klinischen Verlauf, wenn Pfeile am Verletzungsort zunächst nicht gezogen wurden [3]. Der Eintritt über den medialen Kantus scheint der häufigste Eintrittsweg bei transorbitalen Spießverletzungen zu sein [10]. Der von uns dargestellte Fall stützt die Angaben der Literatur, welche für den angegebenen Eintrittsweg eine hohe Wahrscheinlichkeit für konsekutive kraniale Pathologien beschreibt. Werden intrakranielle Komplikationen nicht erkannt, kann dies zu erheblicher neurologischer Morbidität, Sehverlust und sogar zum Tod führen [10]. Eine hohe Wachsamkeit und das Wissen um häufig wiederkehrende Verletzungsmuster können helfen, Verzögerungen bei der richtigen Diagnose und Behandlung von penetrierenden orbitokranialen Verletzungen zu vermeiden.

Fazit für die Praxis

  • Hinter subtilen äußeren Verletzungsmustern können sich bei transorbitalen Spießverletzungen gravierende Folgen verbergen. Besonders ist dabei auf Verletzungen mit medialem kantalem Verletzungsmuster zu achten.
  • Die Dimension einer transorbitalen Spießverletzung zeigt sich häufig erst nach Zug des Objektes.
  • Bei transorbitalen Spießverletzungen sollte der Zug des Objektes an einem Zentrum mit der Möglichkeit einer multimodalen, orbitalen und zerebralen Bildgebung sowie einer interdisziplinären Behandlungsmöglichkeit erfolgen.

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt

A.J. Speidel, A. Wolf, A. Peraud, M. Schuler-Ortoli und M. Parlak geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autor/-innen keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patient/-innen zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern/Vertreterinnen eine schriftliche Einwilligung vor.
Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation auf http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de.

Unsere Produktempfehlungen

Die Ophthalmologie

Print-Titel

  • Umfassende Themenschwerpunkte mit klaren Handlungsempfehlungen
  • Praxisrelevante CME-Fortbildung in jedem Heft
  • Organ der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft

e.Med Interdisziplinär

Kombi-Abonnement

Für Ihren Erfolg in Klinik und Praxis - Die beste Hilfe in Ihrem Arbeitsalltag

Mit e.Med Interdisziplinär erhalten Sie Zugang zu allen CME-Fortbildungen und Fachzeitschriften auf SpringerMedizin.de.

Literatur
1.
Zurück zum Zitat Acar U, Tok OY, Acar DE et al (2011) A new ocular trauma score in pediatric penetrating eye injuries. Eye (Lond) 25:370–374CrossRefPubMed Acar U, Tok OY, Acar DE et al (2011) A new ocular trauma score in pediatric penetrating eye injuries. Eye (Lond) 25:370–374CrossRefPubMed
2.
Zurück zum Zitat Alexandrakis G, Davis JL (2000) Intracranial penetrating orbital injury. Ophthalmic Surg Lasers 31:61–63CrossRefPubMed Alexandrakis G, Davis JL (2000) Intracranial penetrating orbital injury. Ophthalmic Surg Lasers 31:61–63CrossRefPubMed
3.
Zurück zum Zitat Bill JH (1862) ART. II.—Notes on arrow wounds. The American journal of the medical sciences (1827–1924), S 365 Bill JH (1862) ART. II.—Notes on arrow wounds. The American journal of the medical sciences (1827–1924), S 365
4.
Zurück zum Zitat Boret C, Brehin C, Cortey C et al (2020) Pediatric ocular trauma: characteristics and outcomes among a French cohort (2007–2016). Arch Pediatr 27:128–134CrossRefPubMed Boret C, Brehin C, Cortey C et al (2020) Pediatric ocular trauma: characteristics and outcomes among a French cohort (2007–2016). Arch Pediatr 27:128–134CrossRefPubMed
5.
7.
Zurück zum Zitat Matsa E, Shi J, Wheeler KK et al (2018) Trends in US emergency department visits for pediatric acute ocular injury. JAMA Ophthalmol 136:895–903CrossRefPubMedPubMedCentral Matsa E, Shi J, Wheeler KK et al (2018) Trends in US emergency department visits for pediatric acute ocular injury. JAMA Ophthalmol 136:895–903CrossRefPubMedPubMedCentral
8.
Zurück zum Zitat Orszagh M, Zentner J, Pollak S (2009) Transorbital intracranial impalement injuries by wooden foreign bodies: clinical, radiological and forensic aspects. Forensic Sci Int 193:47–55CrossRefPubMed Orszagh M, Zentner J, Pollak S (2009) Transorbital intracranial impalement injuries by wooden foreign bodies: clinical, radiological and forensic aspects. Forensic Sci Int 193:47–55CrossRefPubMed
9.
Zurück zum Zitat Shelsta HN, Bilyk JR, Rubin PA et al (2010) Wooden intraorbital foreign body injuries: clinical characteristics and outcomes of 23 patients. Ophthalmic Plast Reconstr Surg 26:238–244CrossRefPubMed Shelsta HN, Bilyk JR, Rubin PA et al (2010) Wooden intraorbital foreign body injuries: clinical characteristics and outcomes of 23 patients. Ophthalmic Plast Reconstr Surg 26:238–244CrossRefPubMed
10.
Zurück zum Zitat Turbin RE, Maxwell DN, Langer PD et al (2006) Patterns of transorbital intracranial injury: a review and comparison of occult and non-occult cases. Surv Ophthalmol 51:449–460CrossRefPubMed Turbin RE, Maxwell DN, Langer PD et al (2006) Patterns of transorbital intracranial injury: a review and comparison of occult and non-occult cases. Surv Ophthalmol 51:449–460CrossRefPubMed
Metadaten
Titel
Orbitale Spießverletzung im Kindesalter: Bedeutung der Bildgebung und interdisziplinären Behandlung
verfasst von
Dr. med. A. J. Speidel
A. Wolf
A. Peraud
M. Schuler-Ortoli
M. Parlak
Publikationsdatum
08.09.2022
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Die Ophthalmologie / Ausgabe 8/2023
Print ISSN: 2731-720X
Elektronische ISSN: 2731-7218
DOI
https://doi.org/10.1007/s00347-022-01724-1

Weitere Artikel der Ausgabe 8/2023

Die Ophthalmologie 8/2023 Zur Ausgabe

Neu im Fachgebiet Augenheilkunde

Update Augenheilkunde

Bestellen Sie unseren Fach-Newsletter und bleiben Sie gut informiert.