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29.07.2022 | Versorgung des Neugeborenen | Sonderbericht | Online-Artikel | MAPA GmbH

Aktuelle Studienergebnisse zu Zahn- und Kieferentwicklung

Beruhigungssauger: Die richtige Form ist entscheidend

Beruhigungssauger sind bei Kindern und Eltern beliebt. Logopädinnen und Logopäden, Hebammen und Geburtspfleger, Kinder- und Zahnärztinnen und -ärzte sowie Kieferorthopädinnen und -orthopäden sehen dies jedoch differenzierter: Die Anwendung kann situationsgebunden sinnvoll sein, die ausgiebige Nutzung aber möglicherweise zu verschiedenen Zahnfehlstellungen sowie zu Sprechstörungen führen. Um dauerhaften Zahnfehlstellungen entgegenzuwirken, ist die richtige Form eines Beruhigungssaugers entscheidend. Das ist das Fazit einer aktuellen Studie der Universität Minho, Portugal, und einer interdisziplinären Expertendiskussion.

 Das Saugbedürfnis ist angeboren, fetales Saugen ist schon am Ende des ersten Schwangerschaftsquartals im Mutterleib zu beobachten. Beim Stillen geht das nutritive in das non-nutritive Saugen über, wobei das Bedürfnis für Letzteres individuell sehr unterschiedlich sei, so Dipl. Med. Suzanne Knauer-Schiefer, Wolfsburg. Non-nutritives Saugen über Stillen oder Beruhigungssauger diene der Selbstregulation und der Beruhigung, helfe beim Einschlafen und unterstütze die Verdauung. Es fördere die orale Entwicklung, was man in der Neonatologie besonders gut beobachten könne, so Knauer-Schiefer. Es habe zudem Einfluss auf die Atmung, das Essen und die Sprachentwicklung.

Beratung in der Praxis

Ein Beruhigungssauger kann Vor- und Nachteile haben (Tabelle 1). „Grundsätzlich rate ich dazu, den Sauger nur bei Bedarf zu nutzen“, so Knauer-Schiefer. Bei Frühgeborenen oder kranken Kindern könne ein Beruhigungssauger hilfreich sein, die SIDS (plötzlicher Kindstod)-Prophylaxe bei nicht gestillten Kindern ist nachgewiesen [3–5]. Auch bei Überforderungen der Eltern und unaufschiebbaren Tätigkeiten sei ein Sauger akzeptabel. Aber ein Kind sollte nie „zugestöpselt“ werden, die Anwendung sollte wie bei einem Medikament erfolgen [5]. Knauer-Schiefer empfahl weiches Material, eine flache und schmale Form, die richtige Größe und „lieber Silikon als Latex“.

Studie zur Auswirkung verschiedener Saugerformen 

Prof. Dr. Ana Norton, Porto, Portugal, und Prof. Dr. J. Miguel Nóbrega, Guimarães, Portugal, präsentierten aktuelle Ergebnisse einer eigenen Untersuchung zu Auswirkungen verschiedener Saugerformen auf die Zahnstellung und Oberkieferentwicklung [6]. Dazu entwickelten und evaluierten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Portugal ein komplexes Computermodell des Gaumens eines sechs Monate alten Kindes. Dieses Modell ermöglicht genaue Vorhersagen über die Wirkung verschiedener Saugerformen auf orofaziale Strukturen.

Die bisherigen Studien [7, 8] können die Auswirkungen von Beruhigungssaugern auf die Zahn- und Oberkieferentwicklung nicht abschließend klären. Limitierend sind u. a. die vereinfachte einheitliche Gaumenstruktur und die Annahme statischer Bedingungen zur Darstellung des dynamischen Saugzyklus. In der aktuellen experimentellen Studie [6] imitierte die Simulation sehr genau den oralen Saugzyklus und ein detailliertes Gaumenmodell. Dafür wurden die verschiedenen Strukturen des Gaumens (Schleimhaut, kortikaler, spongiöser und alveolarer Knochen, Peridontalligament), die Zunge und die sich entwickelnden Zähne bei Säuglingen im Alter von sechs Monaten berücksichtigt. Zudem wurde auch die Dynamik des Saugzyklus untersucht, was laut Norton essenziell ist, um genaue Ergebnisse zu erzielen. Untersucht wurden die orthodontischen Sauger NUK Genius, NUK Standard Sauger und vier Sauger mit anderem Design. Vergleichsparameter waren die Verteilung der Druckbelastung auf die Gaumenoberfläche, die ausgeübte Kraft auf die Gaumenoberfläche und die unterschiedliche Zahnverschiebung.

Im Ergebnis übten der Genius- und der Standard-Sauger einen niedrigeren Maximaldruck und eine deutlich geringere Kraft auf den Gaumen aus als die anderen vier untersuchten Beruhigungssauger. Der Druck wurde außerdem gleichmäßiger verteilt und alle Zahnverschiebungen waren geringer. Insgesamt war das Risiko für eine Verschiebung der Zähne und Verformung des Gaumens entsprechend der vorliegenden computersimulierten Berechnungsmethode beim Standard- oder Genius-Sauger am geringsten (Abb. 1).

Konsens des Experten-Roundtables war, dass orthodontische Beruhigungssauger in den Simulationen bessere Ergebnisse lieferten als die anderen untersuchten Modelle. Folglich verringern sie je nach Häufigkeit, Intensität und Tragedauer das Risiko der Entwicklung von Zahnfehlstellungen im Vergleich zu anderen Schnullern.


Beruhigungssauger und aktuelle Studienergebnisse aus Expertensicht

Welche Faktoren beeinflussen die Säuglingsentwicklung?

Zum Thema Beruhigungssauger gibt es viele Fragen: Gibt es einen Zusammenhang zwischen Beruhigungssaugern und Stillen? Welche Rolle spielt der Beruhigungssauger bei der Kiefer- und Zahn- sowie der Sprachentwicklung? Hat die Nutzung Einfluss auf die Säuglingsentwicklung? Wie häufig und wie lange sollte ein Beruhigungssauger genutzt werden? Welche Risiken bergen verschiedene Saugerformen (orthodontisch, symmetrisch, rund)? Wie werden die Ergebnisse der neuen Simulationsstudie zu unterschiedlichen Saugerformen eingeschätzt? Antworten auf diese Fragen geben Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen aus ihrem eigenen Blickwinkel.

Aus der Sicht einer Hebamme 

„Es ist begrüßenswert, dass in der aktuellen Studie nach der optimalen Schnullerform gesucht wurde, denn ein Beruhigungssauger kann hilfreich und entlastend sein. Wichtig ist, dass der Einsatz auf die sinnvollen Situationen begrenzt wird, damit nicht die enge Körperbindung, die manch ein Säugling braucht, reduziert und die Distanz erhöht wird, weil man das Kind schneller ablegen kann. Hebammen haben Angst, dass die Säuglinge durch zu frühen Schnullereinsatz das Stillen verlernen oder nicht richtig erlernen. Das muss aber nicht so sein, denn Kinder können zwei Arten des Saugens erlernen. Flaschenkinder lernen das gleichzeitige Saugen an der Flasche und das non-nutritive Saugen am Schnuller schneller. Sie brauchen auch eher einen Sauger als Stillkinder. Zudem können Beruhigungssauger auch das übermäßige Stillen regulieren. Kieferorthopäden und Logopäden fürchten den sorglosen Umgang und die daraus resultierenden Komplikationen. Es gibt also viele Gründe, den Gebrauch richtig zu steuern.“

Aus der Sicht einer Zahnärztin

„Schnuller bis zum ersten Lebensjahr sind durchaus gut, ein dünner Saugerhals ist Voraussetzung. Nach dem ersten Lebensjahr ist ein wohldosierter ‚Rückzug‘ empfehlenswert, weil Kinder sich ansonsten angewöhnen könnten, durch diese Lücke zu schlucken. Daraus resultieren dann später Störungen beim Schlucken und Sprechen und in der Folge Therapien in der Logopädie und Kieferorthopädie. Die aktuelle Studie zeigt eindrucksvoll das Ausmaß der Verformungen und Fehlstellungen durch falsche und zu lang genutzte Schnuller. Sie sollte auch als Argumentationshilfe für die Empfehlung eines geeigneten Schnullers eingesetzt werden.“ 

Aus der Sicht eines Pädiaters

„Daumen lutschen oder doch besser Schnuller? Diese Frage kommt immer wieder, vor allem von Eltern unruhiger Kinder. Drei Aspekte spielen in der Praxis eine Rolle: erstens die Mutter-Vater-Kind-Bindung, die nicht gestört werden sollte. Wenn Eltern sich bemühen, ohne Schnuller auszukommen und das Kind dann aber vermehrt schreit, kann ein Schnuller dazu beitragen, das Kind zu beruhigen. Es ist wichtig, den Eltern zu vermitteln, dass sie den Kindern etwas zur Beruhigung anbieten können und kein schlechtes Gewissen oder Angst haben müssen, Schaden anzurichten. Der zweite Aspekt ist, ein Saugbedürfnis mit dem Schnuller zu befriedigen und nicht mit etwas anderem. Das dritte Ziel ist es, mit dem richtigen Schnuller Komplikationen und Spätschäden an Zähnen und Kiefern zu vermeiden. So sind die Ergebnisse der aktuellen Studie ein wesentliches unterstützendes Argument pro Schnuller, vor allem bei kritischen Eltern. Und diese haben in den letzten Jahren tatsächlich sehr zugenommen. Sie versuchen krampfhaft, einen Schnuller zu vermeiden. Wenn ich hier als Arzt den Eltern zusätzlich zu meiner Meinung zeigen kann, dass es auch wissenschaftlich bewiesen ist, dass der Schnuller – zumindest wenn es der richtige Schnuller ist – eben keinen negativen Einfluss hat, dann ist das ein überzeugendes Argument. Wir sollten aber darauf hinwirken, orthodontische Schnuller zu verwenden oder darauf umzustellen, um Kiefer- und Zahnfehlstellungen zu vermeiden, denn auch das ist in der Studie gezeigt worden.“

Aus der Sicht einer Logopädin

„Ich habe über viele Jahre Kinder mit myofunktionalen Störungen behandelt. Alle diese Kinder hatten auch Zahn- und Kieferfehlstellungen und wurden vom Kieferorthopäden zu mir geschickt. Praktisch alle hatten eine Schnuller-Anamnese oder Daumen gelutscht. Egal, ob Fehlstellungen oder Sprechstörungen, bei allen war das Wachstum der Mundhöhle gebremst. Daher sollte ein Beruhigungssauger gewisse Kriterien erfüllen: Größe, Form und Materialbeschaffenheit sind entscheidend. Der Schnuller ist ein Fremdkörper im Mund des Kindes. Er soll daher so beschaffen sein, dass er die physiologische Zungenfunktion und orale Entwicklung möglichst wenig stört. Der Schnullerschaft soll möglichst niedrig sein und das Lutschteil möglichst wenig Raum einnehmen und weich sein. Der Schnuller soll möglichst leicht sein und braucht nicht mitzuwachsen. Der Beruhigungssauger ist ein Hilfsmittel für Eltern, das sie sparsam und zeitlich begrenzt einsetzen sollen. Den größten negativen Einfluss auf die Entwicklung der oralen Funktionen und des Kieferwachstums hat jedoch die Dauer des Lutschens. Der Umgang soll vernünftig und verantwortungsbewusst sein. Wie ein Medikament braucht der Sauger eine Indikation, eine bestimmte Dauer, muss wieder abgesetzt werden und mit Nebenwirkungen ist zu rechnen. Je früher er abgewöhnt wird, desto besser!“

Aus der Sicht eines Kieferorthopäden

„Für eine optimale Kieferentwicklung ist es wichtig, zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr das somatische Schlucken zu fördern. Ein Sauger sollte daher im Optimalfall nicht länger als bis zum Ende des ersten Lebensjahres genutzt werden. Spätestens ab dem zweiten Lebensjahr sollte der Sauger abgewöhnt und nur noch zeitlich sehr begrenzt eingesetzt werden. Ansonsten verlängert sich die Phase des viszeralen Schluckens und das Risiko steigt für eine anhaltende Bissöffnung. Weitere wichtige Faktoren für eine optimale Kieferentwicklung sind korrekte Nasenatmung, Zungenruhelage und eine kräftige Zungenmuskulatur. Auf die Zahnbögen sollte möglichst keine unphysiologische Kraft ausgeübt werden. Lippenspannung und Lippenschluss sollten gut funktionieren. Generell empfehle ich daher einen möglichst dünnen Saugerhals, keinen sogenannten Torpedo-Schnuller (dick und rund). Wenn der Schnuller sehr dick ist, kann dadurch der Lippenschluss eingeschränkt und damit auch die Lippenschlussfunktion dauerhaft negativ beeinflusst werden. Eine physiologische Krafteinwirkung auf die Zahnbögen ohne exogenen Einfluss ist wichtig für eine optimale Kieferausbildung. Je geringer die Bissöffnung, umso weniger hat die Zunge eine Chance, sich sekundär interdental beim Schlucken oder Sprechen einzulagern. Mein Plädoyer ist, einen Beruhigungssauger mit dünnem Hals nur gezielt und temporär zu verwenden.

Die aktuelle Studie belegt gut das Prinzip ‚form follows function‘. Das Ergebnis ist eindeutig und beweist, je dünner der Saugerhals, desto besser und desto weniger Einfluss auf den Alveolarfortsatz. Ich finde es sehr gut, dass wir dank dieser Studie ein Modell haben, um die Wirkung verschiedener Saugerformen auf die umliegenden Strukturen zu simulieren. Es ist äußerst spannend, ein Modell zu haben, mit dem man verschiedene Saugerformen künftig testen kann.

Zusammenfassung

Für eine normale Kieferentwicklung sind die richtige Form – kiefergerecht mit dünnem Saugerhals –, die Weichheit des Materials, die Beschränkung in Bezug auf die tägliche Dauer und das Ende der Schnullerzeit wichtige Faktoren. Der verantwortungsvolle Umgang mit einem Beruhigungssauger ist wichtig – so sollte das Kind mit Schnuller nicht sprechen. Generell aber sind Beruhigungssauger nicht zu „verteufeln“, sie können sinnvoll sein und haben ihren Platz – z.B. für Ruhepausen der Eltern, zum Einschlafen, bei medizinischen Anwendungen wie Impfungen, Spritzen oder auch auf Flugreisen. NUK Beruhigungssauger sind laut den Ergebnissen einer aktuellen Studie aus Portugal [6] den weiteren untersuchten Modellen überlegen und können dazu beitragen, Zahnfehlstellungen zu vermeiden.

 Literatur

  1. Jaafer SH et al., Cochrane Database Syst Rev 2016(8):CD007202
  2. Pillai Riddell RR et al., Cochrane Database Syst Rev 2015(12):CD006275
  3. Moon RY et al., Pediatrics 2016, 138:e20162940
  4. Sexton S et al., Am Fam Physician 2009, 79:681–685
  5. Nelson AM, J Pediatr Nurs 2012, 27:690–699
  6. Pereira R et al., The relevance of pacifier shape for tooth and jaw development in children. Mai 2022, submitted
  7. Levrini L et al., Eur J Paediatr Dent 2007, 8:173–178
  8. Tesini D et al., US Patent and trademark office 2011

Impressum
Experten-Roundtable „Beruhigungssauger – aktuelle Erkenntnisse aus der Wissenschaft und Implikationen für die Praxis“, online, 2. Mai 2022

Bericht: Dr. Henrike Ottenjann, München

Artikel als Beilage in „Hebammen Wissen“ 3/2022 und „Monatsschrift Kinderheilkunde“ 9/2022

Mit freundlicher Unterstützung der MAPA GmbH, Zeven

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Redaktion: Dr. Anne Kathrin Steeb

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