Selbstständige Lockerungen können ein geeignetes Mittel für den schrittweisen Übergang aus der Inhaftierung hin zur Reintegration in die Gesellschaft sein. Soziale Kontakte können geknüpft, gepflegt und gestärkt werden sowie Wohn- und Beschäftigungsverhältnisse für die Zeit nach der Haft organisiert werden. Darüber hinaus können Behandler:innen wichtige Informationen über das extramurale Verhalten in Risikosituationen der Insassen erlangen. Zur Stichtagserhebung 2020 erhielten 19 % der bundesweiten SothA-Insassen selbstständige Lockerungen und somit 81 % keine selbstständigen Lockerungen (Etzler et al.
2020). Auch wenn die Lockerungsdaten zu einem Stichtag nur eingeschränkt mit den Lockerungsdaten während der Gesamthaftzeit verglichen werden können, bietet die vorliegende Studie Hinweise dafür, dass die oft kritisierte restriktive Lockerungspolitik die Population der SothA-HH nur bedingt betrifft: 57 % der SothA-HH-Insassen befanden sich im Laufe der Haft in selbstständiger Lockerung, 43 % erhielten keine selbstständigen Lockerungen. Über die Hälfte der untersuchten Stichprobe hat somit unbegleitete vollzugsöffnende Maßnahmen erhalten, welche bereits während der Inhaftierung Perspektiven für ein normkonformes Leben gewährleisten, was sich wiederum positiv auf die Motivation der Insassen auswirken kann, aktiv am Resozialisierungsprozess und dem Erreichen verschiedener Resozialisierungsziele mitzuwirken (Barry
2021; Carl et al.
2016; Robert und Larrauri
2020; Ternes et al.
2019).
Entsprechend den Qualitätsstandards für Lockerungsbegutachtungen durch Sachverständige (Kröber et al.
2019) werden auch in SothAn geeignete Prognoseinstrumente im Rahmen der Eingangs- und Verlaufsdiagnostik angewendet, auf die bei der Einschätzung der Lockerungseignung zurückgegriffen wird (Etzler und Rettenberger
2020). Der aktuelle Forschungsstand zeigt, dass vorwiegend Insassen mit geringem Rückfallrisiko selbstständige Lockerungen erhalten (Barry
2021; Helmus und Ternes
2017; Suhling und Rehder
2009; Symkovych
2020). Auch in der vorliegenden Studie weisen Insassen, denen selbstständige Lockerungen gewährt werden, weniger Risiko- und mehr Schutzfaktoren auf. Diese Ergebnisse erschließen sich unmittelbar mit Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen: So müssen Flucht- und Missbrauchsrisiko ausreichend gering sein, um Lockerungen gewähren und aufrechterhalten zu dürfen (§ 12 HmbStVollzG). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen darüber hinaus, dass die Chancen auf Lockerungen und die Aufrechterhaltung ebendieser in der SothA-HH nicht ausschließlich vom Rückfallrisiko abhängen.
Erhalt selbstständiger Lockerungen
Als stärkster Prädiktor für selbstständige Lockerungen zeigt sich die
deutsche Staatsbürgerschaft. Im Einklang mit früheren Studien (Dünkel
2004; Moran und Keinänen
2012) erhalten auch in der vorliegenden Studie ausländische Insassen wesentlich seltener selbstständige Lockerungen. Dies kann mit der Formulierung zur Fluchtgefahr während Lockerungen zusammenhängen (§ 12 Abs. 1 Satz 3 HmbStVollzG), die besonders bei Insassen geprüft werden soll, für die eine Ausweisung, Auslieferung oder Abschiebung vermutet bzw. entschieden ist (s. hierzu z. B. die zum Zeitpunkt der Nacherhebung aktuellen allgemeinen Verfügungen: Justizbehörde Hamburg
2018). In § 53 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) ist festgelegt, dass eine Ausweisung im Einzelfall hinsichtlich der bisherigen Aufenthaltsdauer, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen geprüft werden muss. Dabei steht das öffentliche Ausweiseinteresse (§ 54 AufenthG) dem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) gegenüber. Einerseits können schwerwiegende Gründe zu einer Ausweisung nichtdeutscher Insassen führen: u. a. Verurteilung zu mindestens 2 Jahren Haftstrafe, Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder sexuelle Selbstbestimmung. Diese zu prüfenden Ausweisungsgründe betreffen aufgrund der in § 10 HmbStVollzG genannten Gründe, die zu einer Verlegung in eine SothA führen, offenbar viele der SothA-HH-Insassen. Je verfestigter demgegenüber der Aufenthalt in Deutschland ist und je integrierter die betreffende Person ist, desto schwerer wiegen in der Regel die privaten Bleibeinteressen. Eine positive Legalprognose kann durch Lockerungen gezielt gefördert und aufrechterhalten werden und reduziert die Wahrscheinlichkeit einer Ausweisung (Schmidt
2016). Werden demgegenüber ausländische Insassen von Lockerungen ausgeschlossen, kann sich dies negativ auf die Motivation auswirken und zu Zukunftsängsten führen, die das Erreichen der Vollzugsziele erschweren und somit einer positiven Legalprognose im Wege stehen (Schmidt
2016). In der untersuchten Stichprobe erhielten 39 % der nichtdeutschen Klienten selbstständige Lockerungen, was auf eine individuelle Prüfung der Lockerungseignung unabhängig von der Staatsbürgerschaft und gemäß den gesetzlichen Vorgaben hinweist.
Weiterhin hängen in der vorliegenden Studie Faktoren des
Risikomanagements (R-Skala des HCR-20) negativ mit dem Erhalt von Lockerungen zusammen. Zu den Risikofaktoren gehören folgende potenziell destabilisierende Bedingungen: (1) individuelle Stressmomente, mit deren Belastung die Klienten nicht angemessen umgehen können, (2) destabilisierende Einflüsse (z. B. Drogen, kriminelles Milieu), ohne dass spezialisierte Unterstützungsprogramme zur Verfügung stehen, (3) ein Mangel an einem prosozialen, unterstützenden sozialen Netzwerk, (4) professioneller Hilfe oder (5) Motivation und Bereitschaft, die empfohlene Behandlung/Nachsorge mitzutragen (Müller-Isberner et al.
1998). Da diese Faktoren zur Vorhersage des zukünftigen kriminellen Verhaltens vor dem Hintergrund der zu erwartenden äußeren Umstände eingeschätzt werden, ist es wenig überraschend, dass ihnen bezüglich Lockerungsentscheidungen eine zentrale Rolle zukommt.
Demgegenüber sind
externale Schutzfaktoren1 (SAPROF) positiv mit dem Erhalt selbstständiger Lockerungen assoziiert. Einige dieser Schutzfaktoren stellen inhaltliche Gegenspieler zu den zuvor genannten Risikofaktoren dar: soziales Netzwerk, Intimbeziehung und professionelle Hilfe. Ein prosoziales Netzwerk außerhalb der Haft wird in der Praxis als wichtige Ressource hinsichtlich der Resozialisierung erachtet (Kawamura-Reindl
2019). Es kann stabilisierend und unterstützend wirken, Hilfen bieten und sich protektiv auf den Erhalt von Lockerungen auswirken. Wenn die sozialen Strukturen nicht antisoziales Verhalten fördern oder mit zusätzlichen Belastungen einhergehen, kann es die Klienten fest in soziale Strukturen einbinden und eine Abkehr von Kriminalität bewirken (Barry
2021; Suhling und Rehder
2009; Symkovych
2020). Gleiches gilt für Partnerschaften und professionelle Unterstützer:innen (z. B. Seelsorger:in, Fürsorgeverein, Betreuer:in), zu denen Klienten eine tragfähige Beziehung aufbauen und deren Hilfsangebot sie annehmen. Während Moran und Keinänen (
2012) fanden, dass verheirateten Insassen eher Lockerungen gewährt werden, scheint in der vorliegenden Stichprobe jedoch nicht das bloße Vorhandensein einer Beziehung ausschlaggebend zu sein, sondern die Stabilität und Qualität dieser Beziehungen, wie sie im SAPROF berücksichtig wird.
Überraschenderweise sind
motivationale Schutzfaktoren (SAPROF) negativ mit einem Lockerungserhalt assoziiert. Diese beinhalten Schutzfaktoren, die sich auf die persönliche Motivation beziehen, prosozial am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (Spehr und Briken
2010). Es ist möglich, dass die motivationalen Schutzfaktoren, die zu Beginn der Inhaftierung erfasst werden, im Laufe der Haftzeit wegbrechen (z. B. zu Haftbeginn bestehendes, sicheres Arbeitsverhältnis; finanzielle Rücklagen; Einbindung in einen sozialen oder Sportverein) oder die Motivation für die Umsetzung/Aufrechterhaltung protektiver Maßnahmen nicht aufrechterhalten werden kann (z. B. Geld sparen, um Gerichtskosten abzubezahlen; Behandlungsmotivation beibehalten). Ein Wegbrechen von Ressourcen kann zu einem Motivationsmangel hinsichtlich der Resozialisierungsbemühungen und damit einhergehenden Lockerungen führen, wenn ein „zurück in das alte Leben“ aussichtslos erscheint. Ein Nichtaufrechterhalten selbstgesetzter Ziele kann zudem negative Selbstwirksamkeitserwartungen und einen Rückgriff auf ungünstige Coping-Mechanismen begünstigen, die Resozialisierungszielen entgegenstehen. Mit anderen Worten können mehr motivationale Schutzfaktoren zu Beginn der Inhaftierung zu einer höheren „sozialen Fallhöhe“ führen, was sich negativ auf den Erhalt von Lockerungen bzw. die Umsetzung der Lockerungen durch die Klienten auswirken kann.
Erneut bezugnehmend auf das Ergebnis, dass eine deutsche Staatsbürgerschaft der stärkste Prädiktor für selbstständige Lockerungen ist, ist es denkbar, dass viele der zuvor diskutierten Risiko- und Schutzfaktoren mit einer Migrationsbiografie assoziiert sein können, die Lockerungsgewährungen erschweren können: (noch) kein stabiles, unterstützendes Netzwerk vor Ort; mögliche Sprachbarrieren, die zu Kommunikationsproblemen und Diskriminierungen innerhalb des Vollzugs führen (Iversen et al.
2013) und die Teilnahme an der Behandlung und einer geeigneten Nachsorge erschweren können (Bonta und Andrews
2017); eingeschränkte Chancen auf dem Arbeitsmarkt (Rukus et al.
2016). Da der Anteil der Insassen mit nichtdeutscher Staatsbürgerschaft im deutschen Strafvollzug und in den SothAn bedeutsam ist (in der vorliegenden Studie 32 %), sollten die Lockerungspraxis und Resozialisierungsmöglichkeiten diesbezüglich auch weiterhin – wie dies in der SothA-HH bereits der Fall ist – besonders beleuchtet und Einzelfallentscheidungen kritisch geprüft werden, um eine strukturelle Diskriminierung auszuschließen (Schmidt
2016).
Rücknahme selbstständiger Lockerungen
Die Wahrscheinlichkeit für Lockerungsrücknahmen sinkt in der untersuchten Stichprobe mit
zunehmendem Alter. Dies ist im Einklang mit Studien, in denen ältere Klient:innen Lockerungsauflagen eher einhalten, während die Wahrscheinlichkeit für Lockerungsrücknahmen und Lockerungsverstößen sinkt (Cale und Burton
2018; Cheliotis
2009; Moran und Keinänen
2012; Powers et al.
2018; Rukus et al.
2016). Das Alter kann sich positiv auf die Lockerungspraxis auswirken, indem es als Indikator für die kognitive Reife die zunehmende Fähigkeit anzeigt, antisoziales Verhalten zu ändern und somit dessen negativen Auswirkungen auf Lockerungsverläufe abzuwenden (Bonta und Andrews
2017; Higley et al.
2019).
Als stärkster Prädiktor für Lockerungsrücknahmen erweisen sich hingegen die Risikofaktoren der R‑Skala des HCR-20. Je mehr dieser Risikofaktoren, die das Verhalten in zukünftigen Risikosituationen sowie den sozialen Empfangsraum beschrieben (Müller-Isberner et al.
1998), desto wahrscheinlicher die Lockerungsrücknahme. Im Rahmen von Lockerungen kann es zu destabilisierenden Situationen kommen, in denen sich zeigen kann, inwieweit sich intramural herausgearbeitete dynamische Risikofaktoren unter extramuralen Bedingungen äußern (Endres und Groß
2020).
Auch mit der
Länge der Haftstrafe steigt die Wahrscheinlichkeit für Lockerungsrücknahmen. Mit einer längeren Haftstrafe kann nicht nur mehr Zeit für den Erhalt von Lockerungen (Helmus und Ternes
2017; Suhling und Guéridon
2016), sondern auch zum Begehen von Lockerungsverstößen bestehen. Dabei dürfen Lockerungsrücknahmen nur dann erfolgen, wenn die Voraussetzungen für Lockerungsgewährungen beispielsweise durch individuelles Fehlverhalten der Insassen nicht mehr gegeben sind. Denn Lockerungen sind kein Privileg, sondern das Recht eines jeden Insassen und resultieren aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz). Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) weist wiederholt auf die staatliche Verpflichtung zur Gewährung von Lockerungen im Dienst der Resozialisierung hin (z. B. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 04.05.2015, 2 BvR 1753/14, Rn. 21 ff.).
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie legen nahe, dass die Entscheidung zur Lockerungsrücknahme auch in der SothA-HH auf der stets aktuell zu beurteilenden Einschätzung der Flucht- und Missbrauchsgefahr und damit einhergehenden Lockerungseignung basieren. Während 3 Insassen zwischenzeitlich Lockerungen entzogen wurden, ohne dass die Gründe in der Nacherhebung identifiziert werden konnten, resultierten 76 % der Rücknahmen von Lockerungsstufen aus Lockerungsverstößen (davon 3 schwerwiegende) und 15 % aus der (zwischenzeitlichen) Verlegung in eine andere Haftanstalt, die nicht in Lockerungsverstößen begründet lagen, deren Gründe jedoch nicht erfasst wurden (siehe hierzu Brunner et al.
2019).
Resozialisierungsziele
In der vorliegenden Studie erreichen Klienten mit selbstständiger Lockerung gleich zwei Resozialisierungsziele mit höherer Wahrscheinlichkeit als Klienten ohne selbstständige Lockerung: Sie haben nach der Entlassung häufiger ein
Beschäftigungsverhältnis und der
Therapieerfolg aus Sicht der Behandler:innen wird höher eingeschätzt. Die gleichen Ergebnisse zeigen sich für die Klienten, die bis zur Entlassung ihre höchste Lockerungsstufe beibehalten. Somit bestätigt auch diese Studie, dass Erhalt und Aufrechterhaltung von Lockerungen positiv mit zentralen Resozialisierungszielen korrelieren (Helmus und Ternes
2017; Suhling und Guéridon
2016). Demgegenüber wird der Großteil der Insassen unabhängig von der Lockerungspraxis mit einer festen
Wohnanschrift entlassen.
Der Erhalt und das Aufrechterhalten von Lockerungen und das Erreichen der Resozialisierungsziele können sich dabei gegenseitig beeinflussen (Suhling und Guéridon
2016; Suhling et al.
2013). Zudem können sich die Möglichkeit zur autonomen Freizeitgestaltung, Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten positiv auf die Motivation zur Behandlungsteilnahme und somit auch auf den Erfolg der sozialtherapeutischen Behandlung auswirken et vice versa (Suhling et al.
2013). Auch in der vorliegenden Studie kann aus den korrelativen Zusammenhängen keine Wirkrichtung erschlossen werden.
Limitationen und Ausblick
Der Umfang der statistischen Analysen und deren Aussagekraft ist aufgrund der geringen Stichprobengröße einschränkt. Dennoch spiegelt die Stichprobe die Population der SothA-HH wider, die zwischen Dezember 2010 und November 2019 in der SothA-HH aufgenommen und bereits entlassen wurde. Zukünftige Studien sollten die Verbindungen zwischen den gefundenen Prädiktoren für den Erhalt und die Rücknahme selbstständiger Lockerungen mit potenziellen Moderatorvariablen, wie z. B. der Höhe des Rückfallrisikos zu Beginn der Inhaftierung, genauer untersuchen. Hinsichtlich der Resozialisierungsziele ist es möglich, dass die gefundenen Gruppenunterschiede durch alternative Einflussfaktoren erklärt werden können, die in dieser Analyse nicht berücksichtigt werden (u. a. Beginn und Dosierung der Lockerungen; Lockerungsbereitschaft des Personals). Mögliche Kausalzusammenhänge müssten hierfür in tiefergehenden Analysen geklärt werden, welche in dieser Studie aufgrund der zu geringen Stichprobengröße nicht möglich sind.
Wie Suhling und Guéridon (
2016) im Vergleich niedersächsischer SothAn zeigen konnten, unterscheiden sich die Lockerungspraxis und die Bedeutung, die ihnen während der Behandlung zugeschrieben wird, sogar innerhalb eines Bundeslandes. Somit sind die Ergebnisse dieser Untersuchung der SothA-HH nicht auf andere Vollzugseinrichtungen übertragbar. Auch in der vorliegenden Studie bleiben detaillierte Entscheidungsabläufe der Lockerungspraxis eine Blackbox (Robert et al.
2020). So sollten zukünftige Studien z. B. berücksichtigen, ab welchem Zeitpunkt der Haftstrafe und wie häufig Lockerungen gewährt wurden, welche Gründe die Nichtgewährung von Lockerungen hatte, oder ob es Klienten gab, die zwar für selbstständige Lockerungen geeignet waren, diese jedoch selbst verweigerten.
Lockerungen vor dem Hintergrund des Risk-Need-Responsivity Modells
Der in der Forschungsliteratur allgemein zu verzeichnende (und die SothA-HH nur bedingt betreffende) Rückgang von Lockerungen und das gleichzeitig seltene Vorkommen schwerwiegender Lockerungsverstöße wie Flucht und Straftatbegehung (z. B. Barry
2021; Dünkel et al.
2018; Etzler et al.
2020), die auch in der SothA-HH nur selten auftraten, widersprechen nicht nur dem gesetzlich verankerten Resozialisierungsstreben, sondern auch den Kernprinzipien des Risk-Need-Responsivity (RNR) Modells (Bonta und Andrews
2017). Das RNR Modell ist ein weltweit etabliertes theoretisches Modell in der Behandlungsplanung und -durchführung straffällig gewordener Menschen und erzielt über verschiedene Metaanalysen hinweg moderate kriminalpräventive Effekte (vgl. Wormith and Zidenberg
2018). Die Behandlungsintensität soll laut
Risk-Prinzip von der Höhe des Rückfallrisikos abhängen, wobei die Behandlung laut
Need-Prinzip die individuellen kriminogenen Bedürfnisse fokussieren soll, die mit Straffälligkeit in Verbindung gebracht werden. Hinsichtlich des dritten Prinzips wird unterschieden, zwischen „general responsivity“, also der allgemeinen Annahme, dass Verhaltensänderung am besten durch evidenzbasierte kognitiv-behaviorale Behandlungen erfolge, und „specific responsivity“, also der Annahme, dass die Behandlung umso effektiver sei, je besser sie an individuelle Behandlungsbarrieren hinsichtlich der Persönlichkeit, Motivation und kognitiven Stile der Klient:innen angepasst werde.
Betrachtet man Lockerungen nun vor dem Hintergrund des RNR Modells, so sollten sich für eine effektive Reintegration laut
Risk-Prinzip die meisten Ressourcen und behandlerischen (Lockerungs‑)Bemühungen auf Insassen mit moderat-hohem Rückfallrisiko richten. Der aktuelle Forschungsstand sowie die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen jedoch, dass die Klient:innen mit selbstständigen Lockerungen weniger Risiko- und mehr Schutzfaktoren aufweisen als Klient:innen, denen keine selbstständigen Lockerungen gewährt werden. Auch wenn dies mit Blick auf die rechtlichen Rahmenbedingungen ersichtlich erscheint, könnten Personen mit erhöhtem Risiko, die häufig von den Maßnahmen ausgeschlossen werden, möglicherweise stärker von selbstständigen Lockerungen profitieren (Barry
2021; Suhling und Rehder
2009; Symkovych
2020), für die ein positiver Effekt auf die Legalprognose nachgewiesen wurde (z. B. Hillier und Mews
2018).
Hinsichtlich des
Need-Prinzips können Lockerungen als Erprobungsraum gelten, in dem überprüft werden kann, inwieweit sich intramural herausgearbeitete dynamische Risikofaktoren unter extramuralen Bedingungen äußern oder bereits geändert haben können (Endres und Groß
2020). Lockerungen können somit eine Diagnostik- und Trainingsfunktion zugeschrieben werden und wichtige Erkenntnisse für die Entlassungsvorbereitung bieten (Endres und Breuer
2018). Zudem können sie sich positiv auf Risikoaspekte der Legalprognose auswirken, wie z. B. berufliche Perspektiven, prosoziale familiäre und freundschaftliche Kontakte, Einbindung in Freizeitaktivitäten oder Distanzierung von negativen Einflüssen (vgl. „central eight“; Bonta und Andrews
2017). In der vorliegenden Studie wurde das (Nicht‑)Vorhandensein vieler dieser dynamischen Risikofaktoren u. a. mit den Instrumenten HCR-20 und SAPROF zu Beginn der Inhaftierung eingeschätzt, denen eine zentrale Rolle als Prädiktoren für Lockerungserhalt und -rücknahme zukommt. Zudem kann ein korrelativer Zusammenhang zwischen Lockerungen und einem Beschäftigungsverhältnis sowie Therapieerfolg zum Zeitpunkt der Entlassung aufgezeigt werden – beides Resozialisierungsziele, die mit einer positiven Legalprognose einhergehen (z. B. Bonta und Andrews
2017; Marques et al.
2005).
Hinsichtlich des
Responsivity-Prinzips können Lockerungen Behandlungsbarrieren abbauen und sich positiv auf die Motivation auswirken, an der Behandlung teilzunehmen (Endres und Breuer
2018; Schmidt
2016; Suhling und Guéridon
2016): Die Freizeit kann autonom gestaltet und soziale Kontakte können gepflegt werden, die Aussichten auf Arbeit und Wohnen steigen und eine vorzeitige Entlassung ist wahrscheinlicher. Auch in der vorliegenden Studie zeigen die Ergebnisse, dass der Erhalt und das Aufrechterhalten von Lockerungen mit den Resozialisierungszielen der SothA-HH korrelieren (was jedoch nicht als Kausalzusammenhang interpretiert werden darf). Gleichzeitig können die in dieser Studie identifizierten Prädiktoren für Lockerungserhalt und -rücknahme im Sinne des
Responsivity-Prinzips als potenzielle „Lockerungsbarrieren“ verstanden werden, weshalb ihr tatsächlicher Einfluss auf die Voraussetzungen für Lockerungsgewährungen stets individuell geprüft werden sollte.
Zusammenfassend unterstreicht die vorliegende Studie, dass Lockerungen die Effektivität der Behandlung unterstützen können und hinsichtlich der Erreichung der Resozialisierungsziele entscheidend sein können. Somit müssen Lockerungen nicht nur aufgrund der gesetzlichen Rahmenbedingungen in den Haftverlauf integriert werden, sondern sollten auch im Sinne des RNR Modells fester Bestandteil der Behandlung sein.