Die hohe Diversität der Straffälligenpopulation (Aebi et al.
2015) stellt Wissenschaftler und Praktiker vor enorme Herausforderungen. Damit es zu keiner systematischen Benachteiligung einzelner Gruppen von Straffälligen kommt, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, um die Risikobeurteilungen und Rehabilitationsmaßnahmen für alle gleichermaßen valide und wirksam zu gestalten (Jones et al.
2002; Hart
2016; Shepherd und Lewis-Fernandez
2016). Spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre entwickelte sich eine lebhafte wissenschaftliche Debatte um die Güte gängiger Prognosemethoden. Damals klagte der kanadische Inhaftierte Jeffrey G. Ewert, der sich einer Gruppe der Aborigines zugehörig fühlt, immer wieder gegen das kanadische Justizsystem, weil er die Anwendung von bestimmten aktuarischen Kriminalprognoseinstrumenten bei seiner kulturellen Gruppe für unzulänglich hielt, was weitrechende Konsequenzen hatte (Hart
2016). Wie sich diese Debatte in den empirischen Befunden widerspiegelt, lässt sich gut an den sehr breit beforschten statistisch-nomothetischen Instrumenten rund um die „Central-Eight“-Risikofaktoren verdeutlichen (z. B. Level of Service Inventory-Revised [LSI-R]; Andrews und Bonta
1995). In Metaanalysen zu den LS-Instrumenten zeigte sich, dass ethnische Minderheiten auf fast allen Central-Eight-Risikofaktoren höhere Werte hatten als die Vergleichsgruppe (Olver et al.
2014). Darüber hinaus fand sich, dass die prädiktive Validität bei ethnischen Minderheiten etwas geringer ausfiel und die Validität über die verschiedenen Stichproben hinweg stärkeren Schwankungen unterworfen war als bei der Vergleichsgruppe (Wilson und Gutierrez
2014; Olver et al.
2014). Ob diese Unterschiede jedoch mit kulturellen Variablen zu tun haben oder nur Artefakte sind, kann bisher kaum aufgeklärt werden. Es ist auch nicht möglich zu erklären, warum je nach kulturellem Kontext bestimmte dynamische Risikofaktoren mehr oder weniger mit Delinquenz assoziiert sind. Diese Unzulänglichkeit hängt maßgeblich mit den Schwächen des gemessenen Konzeptes
dynamischer Risikofaktoren (DRF) zusammen (Schmidt et al.
2020). In dem vorliegenden Beitrag analysieren die Autoren zunächst diese Schwächen. Darauffolgend stellen sie eine alternative theoriegeleitete Herangehensweise zum Verständnis kultureller Unterschiede bei der Aktualgenese delinquenten Verhaltens – das „Cultural Agency-Model of Criminal Behavior“ (CAMCB) – vor und illustrieren die Anwendung an einem vergleichenden Beispiel. Neben der Ableitung praktischer Implikationen besprechen die Autoren das Modell schließlich entlang gängiger Gütekriterien von Theorien und geben einen Ausblick zu möglichen Weiterentwicklungen und Validierungsstudien.
Konzeptionelle Schwächen gängiger Ansätze aus theoretischer Perspektive
Das LSI‑R ist ein statistisch-nomothetisches Instrument zur Kriminalprognose, welches nicht nur statische Risikofaktoren erfasst, die sich in Rückfallstudien als valide Prädiktoren gezeigt haben. Durch die zusätzliche Erhebung von DRF fußt das Verfahren auf theoretischen Überlegungen zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung von Delinquenz. Andrews und Bonta (
2010) nehmen an, dass die DRF in irgendeiner Form ursächlich für die Delinquenz sind. Nach der Theorie des
General Personality and Cognitive Social Learning (GPCSL) wirken die Central Eight zusammen mit einer Situation auf die Entscheidungsfindung, welche einer delinquenten Handlung vorausgeht (Bonta und Andrews
2017). Wenn sich diese Faktoren nun (z. B. durch Interventionen) verändern, dann reduziert sich auch das Rückfallrisiko, so die Annahme. Somit sollte sich die Behandlungsplanung an diesen DRF oder „criminogenic needs“ ausrichten (Andrews und Bonta
2010). Dieser Ansatz hat die forensische Forschung und Praxis enorm bereichert und vorangebracht. Andrews und Bonta gelang es, das Bemühen um Rehabilitation gegenüber rein punitiven und kontrollierenden Herangehensweisen zu stärken und die Behandlungsplanungen zu systematisieren (Schmidt
2019). Trotz dieser Gewinne hat die zugrunde liegende Theorie bzw. das Konstrukt der DRF als solches einige Nachteile.
Erstens handelt es sich bei den DRF (auch in der zugrunde gelegten Theorie) um sehr vage definierte,
heterogene Konstrukte (Ward
2016). Unter den einzelnen Risikofaktoren (z. B. antisoziales Persönlichkeitsmuster) werden sehr viele unterschiedliche Dinge (z. B. Impulsivität, abenteuerliches Stimulationsbedürfnis, generalisierte Probleme, Aggression, Gefühlskälte, Empathiemangel) aus vielen verschiedenen konzeptuellen Kategorien (z. B. Emotionen und psychische Zustände, Verhaltensweisen, soziale Faktoren) zusammengefasst (Ward und Fortune
2016). Diese einzelnen Aspekte können jeder für sich unterschiedlich auf delinquentes Verhalten wirken, was es schwer macht, den genauen Einfluss des Faktors zu erklären. In diesem Sinne ist auch unklar, wie die Indikatoren dieser DRF mit ihrem Konstrukt oder auch untereinander genau zusammenhängen (Via et al.
2016).
Zweitens sind die Konstrukte
sehr unspezifisch formuliert, was zu ähnlichen Problemen bei der Erklärung von Delinquenz führt (Ward und Fortune
2016). So mag es sich z. B. bei dem Faktor antisoziales Persönlichkeitsmuster einerseits um ein Symptom (z. B. aggressives Verhalten), andererseits um einen kontextuellen Einfluss (z. B. parasitärer Lebensstil) oder aber um eine tatsächliche Ursache für eine delinquenzbegünstigende Handlungsentscheidung (z. B. mangelnde Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub) handeln (Schmidt et al.
2020).
Drittens sind die Definitionen der DRF
untrennbar mit sozialen Normen verbunden. Sie beziehen sich direkt auf bestimmte Verhaltensweisen, die durch eine Gesellschaft als schädlich bewertet wurden (Ward
2016). Durch die Label „kriminell“, „kriminogen“, „antisozial“ oder „problematisch“ werden unerwünschte Zustände auf Basis geteilter sozialer Werte und Normen beschrieben (Cooper
2013). Weil sich Werte und Normen zwischen Kulturen unterscheiden, können diese Faktoren nicht ohne Weiteres auf andere soziale oder kulturelle Kontexte übertragen werden. Denn „risk item content often reflects the practices, perceptions, norms, belief systems, and behavioral expectations of Western culture“ (Shepherd und Lewis-Fernandez
2016, S. 429). Damit erfolgt eine normative Festlegung auf eine ganz bestimmte Vorstellung über die Welt und menschliches Zusammenleben.
Viertens handelt es sich bei den Theorien, die DRF als Erklärungen verwenden, um funktionale Theorien; sie beschreiben
keine kausalen Wirkmechanismen. Die Annahme, dass eine therapeutisch initiierte Reduktion der DRF das Risiko einer erneuten Straftat senkt, impliziert jedoch, dass es sich bei den Faktoren um Ursachen für Delinquenz handelt (Heffernan et al.
2019). Mit der Einführung der DRF sind diese also nicht bloß Merkmale, die mit Rückfälligkeit in Verbindung stehen, sondern sie sollen die Delinquenz erklären (Fortune und Heffernan
2018). Um als kausale Erklärung zu fungieren, müssen diese Faktoren aber nicht nur statistisch relevant sein und gut begründet aneinandergereiht werden. Wesentlich ist, dass die kausalen Zusammenhänge mit Delinquenz möglichst genau beschrieben werden (Heffernan und Ward
2017). Die vage Definition dieser Konstrukte macht eine solch kausale Referenz aber schwer, weil unklar ist, welche Aspekte der heterogenen Konstrukte auf welche Weise mit Delinquenz zusammenhängen. Dies zeigt sich empirisch auch in den methodischen Schwierigkeiten sowie uneindeutigen Befunden zur rückfallprädiktiven Wirkung von Veränderungen dieser Faktoren (Heffernan et al.
2019). Auch wenn Andrews und Bonta die kausalen Wirkmechanismen post hoc mittels einer Vielzahl anderer Theorien zu erklären suchen, geschieht dies eher unstrukturiert und vage (Fortune und Heffernan
2018). Der Leser weiß nicht, nach welcher Theorie welche spezifischen Aspekte welches DRF wie genau mit Delinquenz zusammenhängen.
Wenn DRF Delinquenz also schon innerhalb der Population, in der die Theorie entwickelt wurde, nicht kohärent erklären können, ist das für diverse kulturelle Kontext erst recht kaum möglich. Zu erklären, auf welche Weise ein Risikofaktor in anderen kulturellen Kontexten wirkt, ist schwer, weil man dafür auf die ursächlichen Wirkmechanismen Bezug nehmen müsste, die schon in der Originaltheorie kaum spezifiziert sind (Schmidt et al.
2020).
Diese Argumentation orientiert sich beispielhaft an der Theorie von Andrews und Bonta, weil das Konzept der DRF sehr stark von den beiden geprägt wurde (Gottfredson und Moriarty
2006). Die aufgezeigten Schwächen finden sich aber auch in anderen theoretischen Ansätzen. Auch Erklärungsansätze delinquenter Entwicklungsverläufe (z. B. bio-psychosoziales Modell kumulativer Risikofaktoren, Lösel und Bliesener
2003; Developmental Pathways in Juvenile Externalizing and Internalizing Problems, Loeber und Burke
2011; Integrated Cognitive-Antisocial Potential, Farrington
2020), die in der Kriminalpsychologie verbreitet sind, bauen mehr oder minder auf dem Konzept der DRF auf und spezifizieren die zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen kaum (Dahle et al.
2020). Es handelt sich damit um ein übergreifendes Problem in der kriminalpsychologischen Theoriebildung, welches weitreichende Konsequenzen für die forensische Praxis hat (Ward
2020).
Hindernisse in der forensischen Praxis
In der forensischen Praxis nimmt die Anwendung von Theorien zur Erklärung von Delinquenz einen hohen Stellenwert ein. Bei der idiografisch geleiteten Prognosemethode ist nach Dahle (
2010) ein systematischer Bezug zu etablierten (kriminalpsychologischen) Theorien bei der Formulierung der individuellen Kriminaltheorie unabdingbar. So sollte auch die individuelle Relevanz der Risikofaktoren, die z. B. mittels LSI‑R identifiziert wurden, für den Einzelfall bewertet und der Zusammenhang im Rahmen der Deliktdynamik beschrieben werden. Auf diese individuellen Kriminaltheorien bauen wiederum die Behandlungsansätze auf. Um sicherzustellen, dass die Behandlung auch die Rückfallwahrscheinlichkeit reduziert, sollte genau beschrieben werden, welche Veränderungen welcher ursächlichen Faktoren durch welche Intervention angestrebt werden und welchen Einfluss dies auf die Deliktdynamik und in der Folge auf die Rückfallwahrscheinlichkeit hat (Heffernan et al.
2019).
Weil für die Theoriebildung im Einzelfall also auf etablierte Theorien aus der Fachliteratur zurückgegriffen wird, wirken sich die aufgezeigten Schwächen der DRF in der Theoriebildung auch auf die forensische Praxis aus (Ward
2020). Wenn die Definitionen vage und die zugrunde liegenden Mechanismen kaum spezifiziert sind, muss der Praktiker dies nach Gutdünken übernehmen. Diese Herausforderung wird durch die Heterogenität der Straffälligenpopulation noch größer, weil sich dadurch zusätzlich ständig variierende Ausprägungen der unterschiedlichen Facetten einzelner Risikofaktoren ergeben (Schmidt
2018; Schmidt et al.
2018). Diese Unterschiede gilt es, in der Urteilsbildung theoretisch einzuordnen und auch im Vergleich zu bewerten. Die theoriegeleitete Einordnung sollte deshalb schwerfallen, weil ein solcher Bezug zur Theorie nur vage vorhanden ist (Schmidt et al.
2020). Auf welche konkreten Mechanismen hat z. B. die Familie Einfluss bei der individuellen Entscheidung, delinquent zu handeln? Wie ist vor diesem Hintergrund die starke Einbindung in den familiären Kontext bei Personen aus einem kollektivistisch geprägten Kulturkreis zu bewerten? Aber auch die vergleichende Bewertung erscheint mit Blick auf die dünne und heterogene empirische Befundlage (Hart
2016; Shepherd und Lewis-Fernandez
2016) problematisch. Ist z. B. der Risikofaktor Familie bei Personen aus einem kollektivistisch geprägten Kulturkreis im Durchschnitt geringer ausgeprägt als bei Personen aus einem individualistisch geprägten Kulturkreis? Wenn ja, warum? Und wirkt sich dies auf die Validität dieses Prädiktors aus? Es fehlen demnach sowohl theoretisch als auch empirisch Referenzrahmen, die eine solche Urteilsbildung transparent gestalten würden. Infolge dieses Mangels kann die Praxis nur auf zwei Strategien ausweichen: 1) Die nötige Anpassung bleibt aus, weil keine theoretisch fundierte Einordnung bzw. kein Vergleich stattfindet, d. h. alle Personen werden ungeachtet ihrer Werte und Hintergründe gleich bewertet, was Ethnozentrismus und eine wenig valide Beurteilung zur Folge haben kann. 2) Die nötige Anpassung erfolgt nach intuitiver Vorgehensweise, was zu Bias aufgrund von Stereotypen und anderen Urteilsfehlern und damit gleichfalls zu einer wenig validen Beurteilung führen kann.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass DRF zur Erklärung von Delinquenz wenig geeignet sind (Ward
2016). Dies behindert nicht nur die Theoriebildung und Theorieentwicklung, die auf DRF aufbauen. Auch in der Praxis lassen sich mit diesen Faktoren die Delinquenz des Einzelfalls kaum erklären bzw. darauf aufbauend konkrete Interventionsmaßnahmen ableiten (Ward
2020). Im interkulturellen Kontext kommen diese Schwächen, insbesondere die festgeschriebene Bindung an bestimmte Werte und Normen, noch stärker zum Tragen. Dabei ist Kultur nicht allein mit Herkunft oder einer spezifischen Sozialisationsform gleichzusetzten. Kultur ist die geteilte Lebensweise einer Gruppe von Menschen (Berry et al.
2011). Damit bewegt sich die Erklärung delinquenten Verhaltens (zumindest in der Praxis) meistens in einem interkulturellen Kontext.
Auch viele andere Erklärungsmodelle basieren auf einer Auflistung von DRF oder teilen die Grundprobleme dieses Konzeptes. Um die Hindernisse in der (kriminal-)psychologischen Theoriebildung zu umgehen (Ward
2020) und Alternativen auch für die Praxis bereitzustellen, braucht es aus Sicht der Autoren eine theoretische Grundlage, die die Ursachen und Wirkmechanismen delinquenten Verhaltens beschreibt, bei der kulturbedingte Spezifika systematisch und transparent einbezogen werden können und die gleichzeitig auf verschiedene kulturelle Kontexte anwendbar ist. Im Folgenden beschreiben wir ein mögliches Rahmenmodell, welches bereits ausführlich in einer englischsprachigen Veröffentlichung vorgestellt wurde (Schmidt et al.
im Druck). Dieses Modell strukturiert den Erklärungsprozess, beschreibt basale und universelle psychologische Prozesse und formuliert Kriterien für die Bewertung von Verhalten. Es handelt sich nicht um eine spezifische Theorie, sondern um ein Modell zur Theoriebildung, wie spezifische kultursensible Theorien für einzelne Gruppen oder Einzelfälle formuliert werden können.
Praktische Implikationen
Das CAMCB ist v. a. ein Rahmenmodell für die Erklärung von delinquentem Verhalten. Neben dem theoretischen Mehrwert kann die Anwendung eines solchen Modells jedoch auch für die Prognose und Behandlung von Bedeutung sein, wie die Autoren folgend skizzieren werden.
Die im CAMCB spezifizierten universellen Komponenten des Agency-Prozesses lassen sich schablonenartig für die Erklärung der Aktualgenese individueller Delinquenz heranziehen. Welche kulturellen Traits mögen zur Tatzeit aktiviert gewesen sein und was mag diese Aktivierung getriggert haben? Welche Wirkung mögen diese Traits auf die Verhaltensgenese im Allgemeinen und die delinquente Handlung der Anlasstat im Besonderen gehabt haben? Um die Traits zu extrahieren, die den meisten Erklärungswert haben, muss zwischen Verfügbarkeit, Zugänglichkeit und Aktivierung unterschieden werden. Ein Trait ist prinzipiell
verfügbar, wenn er abgespeichert wurde. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Wissen auch leicht abrufbar ist. Das ist dann der Fall, wenn der Trait durch externale oder internale Trigger leicht
zugänglich, d. h. aktivierbar, ist.
Aktivierung bezieht sich wiederum auf den aktuellen Status. Aktivierung ist dann wahrscheinlicher, wenn der Trait kurz zuvor aktiviert wurde oder häufig aktiviert ist und wenn er zu den Reizen der Situation passt (Oyserman und Yan
2018; Higgins und Kruglanski
1996). Das bedeutet für kulturelle Traits, dass diese einflussreicher sind, wenn der kulturelle Kontext zuvor deutlich hervorgehoben wurde (Chiu et al.
2010). Diese Aktivierung und die Aufrechterhaltung dieser Aktivierung ist gleichfalls von der Motivation des Individuums abhängig (Eitam und Higgins
2010). Wenn ein kultureller Trait von der Person als bedeutsam wahrgenommen wird (Oyserman und Yan
2018), kann dies die Wirkung dieses Traits auf den Agency-Prozess erhöhen; eine Befürwortung ist jedoch nicht unbedingt erforderlich (Na und Kitayama
2011). Das bedeutet, dass es in der Praxis wesentlich ist, zunächst den grundlegenden Verarbeitungsstil zu erkennen und diesen kulturell und individuell gefärbten Agency-Prozess gut begründet zu beschreiben. Darauf aufbauend könnte dann der Einfluss der mentalen Eindrücke ergründet werden, die die Tathandlung mitbedingt haben mögen. Welche mentalen Eindrücke mögen für die Tathandlung von Bedeutung gewesen sein, und wie mögen diese vor dem Hintergrund des kulturell-individuellen Agency-Prozesses verarbeitet worden sein? Welche Cues mögen diese Eindrücke getriggert haben? Worin mögen die Ursachen der Delinquenz liegen. Handelt es sich um eingeschränkte Funktionsweisen universeller Verhaltenskomponenten, maladaptive mentale Eindrücke oder die delinquenzbegünstigende Verarbeitung sozial adaptiver mentaler Eindrücke? Wie intensiv bzw. konsistent mag dies auf die Verhaltensgenese gewirkt haben?
Mit Blick auf die hier gewählten kulturellen Traits (unabhängiger vs. interdependenter Verarbeitungsstil) lässt sich vermuten, dass die Ursachen für die Delinquenz schwerpunktmäßig in verschiedenen Bereichen zu suchen wären. Bei einem unabhängigen Verarbeitungsstil sollten Persönlichkeitseigenschaften eine zentralere Rolle bei der Erklärung der Delinquenz einnehmen als bei einem interdependenten Verarbeitungsstil, bei dem soziale und kontextuale Variablen stärker im Fokus stehen sollten (Dwairy
2002).
Mit Blick auf die beispielhaft gewählten kulturellen Traits sollte die Verhaltensvorhersage für einen unabhängigen Verarbeitungsstil leichter fallen als für einen interdependenten Verarbeitungsstil. Da Interdependenz durch eine hohe Adaptivität an den jeweiligen Kontext charakterisiert ist, ist die Vorhersage generell unsicherer, und prognostische Aussagen müssten den jeweiligen Kontext, auf den sie sich beziehen, genau spezifizieren.
Dadurch, dass sich das CAMCB auf grundlegende psychologische Prozesse bezieht, erklärt es delinquentes Verhalten mit den gleichen Bedürfnissen und Mechanismen wie jedes andere Verhalten auch. Dies unterstützt eine Ressourcenorientierung (z. B. im Rahmen des Good Lives Model), die essenziell für das Commitment und die Motivation während einer Behandlung ist (Ward und Stewart
2003). Ein solcher Perspektivwechsel erscheint besonders bei der ohnehin schon stark stigmatisierten Gruppe Straffälliger mit diverser kultureller Herkunft von großer Bedeutung zu sein (Jones et al.
2002; von Gostomski
2003; Shepherd und Lewis-Fernandez
2016).
Diskussion
Eine hohe kulturelle Diversität gehört zum Alltag in der Arbeit mit Straffälligen, was eine ganze Reihe zusätzlicher Phänomene und Herausforderungen mit sich bringt (Dahle et al.
2020). Diesen Herausforderungen ist mit gängigen Risikofaktoren und Erklärungsmodellen von Delinquenz kaum zu begegnen, da erhebliche Zweifel an deren allgemeiner Gültigkeit im interkulturellen Kontext bestehen (Put et al.
2013; Shepherd und Lewis-Fernandez
2016; Jones et al.
2002; Hart
2016; Schmidt et al.
2020). Auch die Entwicklung eigenständiger Theorien und Prognoseinstrumente für einzelne kulturelle Kontexte erscheint vor dem Hintergrund einer zunehmenden kulturellen Pluralisierung unzulänglich und mit Blick auf etwaige Auswahlverfahren diskriminierend (Schmidt
2018). Wünschenswert wäre vielmehr eine Herangehensweise, die ohne diskriminierende Kategorisierungen auskommt und flexibel gegenüber den sich ständig ändernden gesellschaftlichen Lebensbedingungen und der vielfältigen kulturellen Diversität ist. Mit dem
Cultural Agency-Model of Criminal Behavior (CAMCB) haben wir ein Rahmenmodell vorgeschlagen, das auf die zugrunde liegenden individuellen psychologischen Mechanismen delinquenten Handelns abhebt und systematisch zwischen universellen Komponenten und deren kulturell-individuell gefärbten Ausprägungen unterscheidet. Delinquentes Verhalten kann damit unter der Verwendung ganz verschiedener kultureller Linsen erklärt werden. Dadurch ist es auch möglich, Unterschiede in der Ausprägung verschiedener Risikofaktoren zu erklären. Beispielsweise wirken kriminogene Einstellungen, wie sie Andrews und Bonta (
2010) definiert haben, bei Individuen, die kulturell bedingt höchstwahrscheinlich einen eher unabhängigen Verarbeitungsstil haben (z. B. deutsche Täter ohne Migrationshintergrund), stärker auf Delinquenz als bei Individuen, die höchstwahrscheinlich einen eher interdependenten Verarbeitungsstil priorisieren (z. B. Täter mit arabischem Migrationshintergrund; Dahle und Schmidt
2014; Schmidt et al.
2018; Shepherd et al.
2015). Diese Einstellungen fokussieren auf individuelle Überzeugungen, was v. a. bei einem unabhängigen Verarbeitungsstil intentionsbildend und handlungsleitend sein sollte (Markus
2016).
Im CAMCB wird der Einfluss der kulturellen Sozialisation dabei nicht an eine geografische oder ethnische Herkunft gebunden, sondern an kulturelle Traits (z. B. interdependenter Verarbeitungsstil), welche die Verhaltensgenese beeinflussen. Das Rahmenmodell zeigt, wie unter der Annahme bestimmter kultureller Traits eine weiterführende spezifischere Theorieformulierung stattfinden kann. Dies erscheint nicht nur für die kriminalpsychologische Theorieentwicklung von Bedeutung, sondern auch für die forensische Praxis, bei der für jeden Einzelfall eine Theorie über dessen individuelle Delinquenz formuliert werden muss.
Vorläufige Evaluation
Wenngleich es sich beim CAMCB lediglich um ein Rahmenmodell handelt, was für bestimmte Kontexte und Fragestellungen eine Grundlage für spezifische Theorien bilden kann, lässt sich dieses Rahmenmodell mit allgemeinen Gütekriterien für Theorien beurteilen. Im Folgenden wird für eine vorläufige Evaluation des Modells auf die Kriterien von Popper (
1989) und Thagard (
1989) in einer vereinfachten Darstellung zurückgegriffen.
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