Erschienen in:
01.11.2014 | Originalarbeit
Der Fall Ludwig Tessnow (1872–1939)
Aspekte zur Geschichte der forensischen Psychiatrie vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die NS-Zeit
verfasst von:
Jan Armbruster, Kathleen Haack
Erschienen in:
Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie
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Ausgabe 4/2014
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Zusammenfassung
Der Tischlergeselle Ludwig Tessnow wurde 1902 wegen 4-fachen Mordes vom Schwurgericht in Greifswald zum Tode verurteilt. Das Todesurteil wurde in der Wiederaufnahmeverhandlung 1906 bestätigt, nachträglich erfolgte aber eine Begnadigung zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe. Nach übereinstimmender Meinung der psychiatrischen Sachverständigen hatte Tessnow die Taten im Zustand fehlender Zurechnungsfähigkeit auf Grundlage eines epileptischen Dämmerzustands begangen, allerdings setzte sich das Geschworenengericht in beiden Entscheidungen darüber hinweg.
Aus historischem Blickwinkel ist der Fall forensisch-psychiatrisch einerseits dadurch interessant, dass sich hier noch deutlich der Kompetenzstreit des 19. Jh.s zwischen Jurisprudenz und medizinischen Sachverständigen bei der Beurteilung der Unzurechnungsfähigkeit widerspiegelt. Andererseits gewährt er einen interessanten Einblick in den Umgang mit psychisch kranken Straftätern am Beginn des 20. Jh.s, bei dem der Druck der öffentlichen Meinung ein – damals und heute – nicht zu unterschätzendes Element der Vorverurteilung darstellte, das durch das System der Laiengerichtsbarkeit (Schwurgerichte) noch verstärkt wurde. Am Fall Tessnow lässt sich zudem beispielhaft die Unterbringungspraxis psychisch kranker Straftäter vom Ende des 19. Jh.s bis in die Zeit des Nationalsozialismus (NS) hinein verfolgen. Mit neuen Befunden kann Tessnows Schicksal dahingehend geklärt werden, dass er nicht, wie oft fälschlich angenommen, durch Vollstreckung des Todesurteils im Greifswalder Gerichtsgefängnis starb, sondern dass er als Patient der Landesheilanstalt Stralsund Opfer der „NS-Euthanasie“ wurde.