Die von D. Sackett begründete evidenzbasierte Medizin (EbM) ruht auf 3 Säulen. Durch einseitige Anwendung der externen Evidenz in Leitlinien besteht die Gefahr einer „Tyrannei der Medizin“, besonders in der Onkologie.
Fragestellung
Wie muss eine auf allen 3 Säulen ruhende EbM in der Onkologie aussehen?
Ergebnisse
Die Begriffe „personalisierte“ und „individualisierte Medizin“ in der onkologischen Therapie sind für Patienten und Ärzte gleichermaßen missverständlich und meinen meistens nicht die Berücksichtigung der persönlichen und individuellen Ebene des Patienten. Es wird ein Vorschlag für die Begriffsverwendung „stratifizierter Medizin“ auf biologischer, personaler und individueller Ebene gegeben. Wissenschaftliche Standards, die ausschließlich auf externer Evidenz (Leitlinien) basieren, stehen einer praktischen Individualisierung des Patienten bei der Therapiekonzeptualisierung entgegen. Kriterien einer Beurteilung des therapeutischen Nutzens für den Patienten werden dargelegt. Die mehrschichtige Natur des Menschen erfordert eine entsprechende Komplementarität bei der Therapiekonzeption.
Schlussfolgerung
Integrative Medizin inkludiert die 3 Säulen der EbM, die Komplementarität des Patienten und die verschiedenen Medizinkonzeptionen (Pathogenese – Salutogenese; biopsychosoziales Model; Humanismus etc.) und stellt einen essenziellen Beitrag für eine Patientenorientierung in der Onkologie dar.
Therapieempfehlungen werden gemäß evidenzbasierter Medizin (EbM) in der konventionellen Onkologie meist auf der Grundlage von Leitlinien gegeben. Dabei wird deren Evidenzbasierung ärztlicherseits meist überschätzt [1, 2]. In der Erarbeitung der Leitlinien beschränkt sich die EbM fast ausschließlich auf die Aufarbeitung der externen Evidenz (Recherche der Studienlage). Die beiden weiteren von Sackett beschriebenen Säulen einer EbM hingegen, die interne Evidenz (klinische Expertise/persönliche Erfahrungen des Arztes) und die der Patientenpräferenz, werden außer Betracht gelassen (Abb. 1 oben, [3]). Dabei meint die Patientenpräferenz, dass sich der Patient nach gründlicher Aufklärung über verschiedene Behandlungsalternativen selbstbestimmt entscheidet und dieses in einen Behandlungsplan einfließt. D. Sackett erkannte bereits früh, dass die einseitige Anwendung von Studienwissen im Sinn einer alleinigen Anwendung der externen Evidenz zu eine „Tyrannei der Medizin“ führt, da ohne Berücksichtigung der beiden anderen Säulen reine Faktenmedizin die Medizin inhumanisiert (Abb. 1 unten, [3]).
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Ärztliche „Faktenanwendung“ ist die Basis für den berechtigten Patientenwunsch nach Auskunft eines therapeutischen Nutzens. Dazu muss Medizin, wie nach der Definition von Bock „eine Anwendungs- und Handlungswissenschaft sein, die Methoden und Theorien anderer Wissenschaften, der Naturwissenschaften, der Lebenswissenschaften, der Psychologie und den Sozial- und Geisteswissenschaften unter dem Gesichtspunkt ihrer Brauchbarkeit für die Erkennung, Behandlung und Vorbeugung von Krankheiten auswählt, modifiziert und empirisch Regeln für die Anwendung in Forschung und Praxis der Medizin erarbeitet“ [4].
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Medizin als Handlungswissenschaft hat daher dem Patienten – nach Sackett basierend auf allen 3 Säulen der EbM – die besten Handlungsempfehlungen zur selbstbestimmten Abwägung zu unterbreiten und den Behandlungsplan danach auszurichten. Dabei steht dem generellen Wirksamkeitsnachweis durch die externe Evidenz die individualisierte Nutzenbewertung des Patienten gegenüber. Den (ärztlichen) Bewertungsmaßstäben bei den Leitlinienerstellungen stehen somit die individuellen Bewertungsmaßstäbe des Patienten gegenüber, die keinesfalls kongruent sein müssen. So fragt der Patient zu Recht, welchen „Preis“ er für welche Lebensverlängerung zahlt und welche Lebensqualität er dabei (noch) hat. Das alles Entscheidende für die Akzeptanz einer Therapie für den Patienten ist jedoch seine persönliche Beurteilung der Sinnhaftigkeit einer Therapiemaßnahme. Nach Antonovsky bedarf es neben der Information v. a. der Sinnhaftigkeit für den Patienten, um Motivation für die dann anstehende Umsetzung und damit Handhabbarkeit der Therapiemaßnahme zu erlangen [5]. Eine potenziell wirksame therapeutische Intervention erhält erst durch die positive Bewertung und damit Sinnhaftigkeit für den Patienten seinen (individuellen) Nutzen.
Vier Dimensionen bestimmen den therapeutischen Nutzen
1.
Sinnhaftigkeit ergibt sich für den Patienten aus seiner eigenen Krankheitskonzeptualisierung, durch seine Kultur und seine weltanschaulichen Grundüberzeugungen, seinem sozialen Umfeld/Familie und der persönlichen Biographie. Daraus, ob die eigene Biographie als eher abgerundet empfunden wird oder noch viele Ziele und Wünsche antizipiert werden, ergeben sich sehr unterschiedliche Einschätzungen von Therapieoptionen.
2.
Die individuelle Nutzenbewertung durch Abwägen positiver Therapiewirksamkeit im Verhältnis zum möglichen Schaden spielt für den Patienten eine wesentliche Rolle. Ob eine absolute Risikoreduktion von 15 % bei einer adjuvanten Therapie zu einer 85 % gleichen Eintrittswahrscheinlichkeit eines Rezidivs als nützlich vom Patienten bewertet wird, hängt weniger von der objektiven externen Evidenz aus Studien ab, als vielmehr von der individuellen subjektiven Einschätzung dieses Wertes.
3.
In der Onkologie erhält die Bewertung der Wirkmethode durch den Patienten eine zunehmende Bedeutung. Der Wunsch auf Patientenseite nach komplementären Methoden beruht dabei weniger auf der Differenzierung von „giftiger Chemie“ vs. „guten Pflanzenwirkstoffen“ als vielmehr auf einem konzeptuellen Unterschied der angewendeten Medizin. Dabei stehen sich pathogenetische und salutogenetische Konzepte nur scheinbar gegenüber, können sie doch in einer integrativen Onkologie gemäß der WHO-Definition einer Best Practice von konventioneller und komplementärer Medizin überwunden werden [6]. Bis zu 70 % aller onkologischen Patienten nutzen komplementäre Verfahren (beim Mammakarzinom >90 %; Allensbach [7]) und 61 % wünschen sich eine integrative Medizin im Sinne der Best Practice aus beiden Systemen [8].
4.
Auch die Bewertung eines Verfahrens durch den Patienten spielt eine wesentliche Rolle. Operation, Chemotherapie und Bestrahlung werden durchaus unterschiedlich vom Patienten bewertet. Meist spielt der Erfahrungshorizont dabei eine wesentliche Rolle, auch wenn die einzelnen Verfahren sehr divers sind und die Erfahrung des Patienten nicht immer mit der konkret vorgeschlagenen Therapieoption vergleichbar ist.
Eine moderne Onkologie auf der Grundlage der 3 Säulen der EbM muss daher über das Faktenwissen einer Leitlinie hinausgehen. Auch wünscht der onkologische Patient mit seiner komplexen Erkrankung nicht nur einzelne Therapiemaßnahmen, sondern ein umfassendes Behandlungskonzept, welches die vielschichtigen Dimensionen seines Menschseins einbezieht und konkret berücksichtigt.
Streit um die Personalität: Ein „Begriffswirrwarr“
Das Eingangstor zum Patienten ist in den letzten Jahren zunehmend der Begriff patientenzentriert geworden. Wer möchte dies als Arzt nicht sein? Aber was ist damit gemeint? Kann eine reine Empfehlung gemäß einer S3-Leitlinie patientenzentriert sein? Der generelle Wirksamkeitsnachweis, also die nicht patientenspezifische Empfehlung kann es alleine nicht sein. Was sollte dazu kommen? Diese Frage führt zu der nächsten begrifflichen Inflation von personalisierter oder individualisierter Medizin. Beide Begriffe bedürfen einer Reflexion bezüglich ihrer Anwendung in der Onkologie.
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Der Begriff der Individualität (lat. Ungeteiltheit) kennzeichnet im weitesten Sinn den Sachverhalt, dass jeder Mensch einzigartig ist und sich daher von anderen Menschen immer unterscheidet. Im biopsychosozialen Modell wäre dies der Integrator aller Merkmalsausprägungen der verschiedenen Dimensionen zu einer übergeordneten Einheit (systemisch [9]). Im klassischen Leib-Seele-Geist-Modell wäre dies der Geist als die integrierende Kraft, die die Diversität von Seele und Leib zu einer Einheit, dem Individuum, macht [10].
Davon abgegrenzt ist die Personalität eines Menschen zu betrachten, bei der sich der Mensch durch Selbstreflexion als Person erlebt und sich selbstbestimmend der Umwelt gegenüberstellen kann [11, 12]. Häufig wird damit auch die soziale Interaktionsfähigkeit und individuelle Selbstorganisation eines Menschen verstanden. Personalität kann daher auch als ein Prinzip sozialen menschlichen Zusammenlebens in einer Gesellschaft verstanden werden.
Personalisierte Medizin (engl. „personalised medicine“) meint daher, dass der Patient unter Berücksichtigung seiner biopsychosozialen Bedingungen behandelt wird und die Therapie dem Fortschritt des Krankheits- und Gesundungsverlaufs ständig angepasst wird. In der Onkologie wird aber derzeit darunter eine maßgeschneiderte Arzneimitteltherapie verstanden, welche genetische Expressionsmuster und physiologisch-biochemische Merkmale (Enzymaktivitäten, Polymorphismen etc.) als Patientencharakteristika berücksichtigt.
Die Therapie wird dem Fortschritt des Krankheits- und Gesundungsverlaufs des Patienten ständig angepasst
Die auf ihre biologische Bedeutung reduzierte Verwendung der Begriffe „personalisierte oder individualisierte Medizin“ wird allerdings auch kritisch gesehen. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hebt in ihren Leitbegriffen hervor, dass der Begriff personalisierte Medizin in seinem Bedeutungskontext insofern irreführend sei, „als die personale Seite des Menschen, also seine Fähigkeit zur Reflexion und Selbstbestimmung, zunächst gar nicht gemeint ist, sondern auf fundamentale biologische Strukturen und Prozesse abgehoben wird [13].“ Der ehemalige Vorsitzende der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer Urban Wiesing kritisiert: „Personale Eigenschaften manifestieren sich nicht auf molekularer, sondern auf personaler Ebene“ [14]. Raspe vom Zentrum für Bevölkerungsmedizin und Versorgungsforschung der Universität Lübeck wirft der Verwendung des Begriffs personalisierte Medizin im Sinn einer pharmakogenomisch basierten Therapie Einseitigkeit vor. So gäbe es neben den Biomarkern auch Psychomarker und Soziomarker, die ebenso Beachtung in der Wahl der medizinischen Therapie verdienten [15].
Aus Patientensicht erhält diese Differenzierung der verschiedenen Begriffe bei onkologischen Erkrankungen ein entscheidendes Gewicht. Keine andere Krankheit lässt im Individuum Patient diese Ungeteiltheit so schmerzlich zerbrechen. Sein Erleben spiegelt oftmals Angst, Ohnmacht und innere Zerrissenheit seiner biopsychosozialen bzw. leiblich, seelisch und geistigen Dimensionen. Eine Reduktion auf biologische Merkmale unter Nutzung des Begriffs personalisierte Medizin verwirrt daher, es sei denn der Patient erkennt, wie Raspe es formuliert, dass auch Psycho- und Soziomarker und ggf. darüber hinaus sogar biographische Faktoren [10] im Rahmen seiner Behandlung konzeptbestimmend sind.
Als stimmiger erscheint für diese biologische Merkmale berücksichtigende Medizin der Vorschlag des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgeabschätzung (TAB) des Bundestags, den Begriff stratifizierte Medizin zu verwenden, da sich der Terminus „stratified medicine“ auch in der internationalen Literatur durchgesetzt hat [16]. Dabei kann durch die Bezeichnung der Stratifizierungsebene, z. B. biologisch stratifizierte Therapie, auch Klarheit darüber hergestellt werden, welche Merkmale zur Therapiekonzeptualisierung herangezogen werden.
Bereits vor über 20 Jahren hat Sporn zum Krebsplan des amerikanischen Präsidenten Nixon im Lancet-Artikel „The war on cancer“ den reduktionistisch, partikularistischen Wissenschaftsansatz in der Onkologie hinterfragt [17]. Dabei führte er aus, dass Krebs nicht auf ein zelluläres Problem zurückgeführt werden kann, sondern „eine Erkrankung des ganzen Organismus“ sei. Ein „komplexes Versagen der Homöostase und der kontextuellen Kommunikation von Epithel und Mesenchym“. Devitt beschreibt Krebs als die Befreiung des embryonalen Wachstumspotenzials von seinen Wachstumshemmungen [18] bzw. Differenzierungseinflüssen. Dies reflektiert die Tatsache, dass Onkogene nichts anderes als Wachstumsgene sind und andererseits Tumorsuppressorgene Differenzierungsgene darstellen und deren Verlust ebenfalls in die Onkogenese einmünden kann. Auch wenn die Diskussion zum Krebsverständnis bei weitem nicht abgeschlossen ist, dürfte zunehmend auch die ärztliche Sicht – und nicht nur die Patientensicht – auf das onkologische Geschehen eine organismische werden [19], d. h., dass Krebs als eine den gesamten Menschen betreffende Erkrankung und weniger als ein genetischer Zellunfall angesehen werden kann. Gerade die Entwicklung der immunologischen Therapien der letzten Jahre weist auf diesen organismischen Zusammenhang hin.
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Diese beiden Seiten der Krebserkrankung „Proliferation und Wachstum vs. Differenzierung und Entwicklung“ kommen bei Betroffenen auch zu einem inneren, psychischen Erleben: einerseits das Zurückgeworfensein auf seine biologisch-somatische Existenz und andererseits das Ringen um die eigene Zukunftsfähigkeit, also die aktive Antizipation von Zielen, Wünschen und Entwicklungsmöglichkeiten auf psychosozialer Ebene (im Sinne der aristotelischen Causa finalis). Der erlebte Verlust an Integrität erscheint bereits bei Diagnosestellung als ein zentrales Symptom. Eine biologisch stratifizierte Therapiekonzeptualisierung als personalisierte oder individualisierte Therapie zu bezeichnen, führt daher nur zu Missverständnissen, wie dies auch andere Onkologen bereits ausführten [16].
Die Krebserkrankung erscheint im Organismus als Gewebereifungsstörung im Sinn einer Entdifferenzierung
Die Krebserkrankung erscheint im Organismus als Gewebereifungsstörung im Sinn einer Entdifferenzierung (bis hin zu embryonalen Zellstrukturen) und kann als Tendenz einer zurückbleibenden, leiblich-somatischen Entwicklung angesehen werden, welche die Antizipation (Causa finalis) einer Zukunft als Gesamtorganismus und damit als Individuum in Frage stellt und zum Tod führen kann. Somit zerbricht für den betroffenen Krebskranken die sonst im Gesunden gemeisterte Individualisierung (Vereinheitlichung) seiner Vielheit (Diversität) bzw. die Integration seiner Mehrdimensionalität. Die Krebsgeschwulst steht so gesehen biologisch und auf der Erlebensseite dem Patienten gegenüber und wird als Nicht-Ich wahrgenommen [20]. Damit ist die Therapierichtung gekennzeichnet: Krankheitsgeschehen und Patientenerleben sind durch ärztliches und therapeutisches Handeln in einem integrativen, also integrierenden Behandlungskonzept im Individuum wieder zusammenzuführen.
Komplementarität des Menschen in der Onkologie
Mit Komplementarität bezeichnet man erkenntnistheoretisch allgemein die Zusammengehörigkeit (scheinbar) sich widersprechender, aber ergänzender Eigenschaften bzw. Merkmale eines Objekts. Komplementäre Eigenschaften gehören bezüglich des Objekts zusammen, schließen sich aber insofern aus, als sie nicht räumlich und/oder zeitlich zusammentreffen müssen. In der Regel handelt es sich um zwei verschiedene Eigenschaften, die sich nicht kausal aufeinander beziehen, aber gemeinsam im Objekt konstitutiv sind. Ursprünglich wurde der Begriff von dem Physiker Nils Bohr als Komplementaritätsprinzip in der Quantenphysik eingeführt, später aber von ihm selbst auf viele weitere Wissenschaftsgebiete übertragen. Für die Onkologie ist dieser Begriff essenziell, da die Krebserkrankung ein komplexes und multidimensionales Geschehen ist, bei der biologische ebenso wie psychosoziale und ggf. spirituelle Dimensionen betroffen sind, die es zu berücksichtigen gilt. Eine solche Komplementarität der einzelnen Erscheinungsmanifestationen der Krebserkrankung auf den verschiedenen Seins-Schichten (Schichtendeterminismus [9]) des Menschen liegt also im Objekt selbst, d. h. im Menschen selbst begründet und nicht beim Betrachter. Daraus folgt aber auch, wenn das Eine richtig ist, ist das Andere nicht notwendig falsch, so wie das Licht einerseits als Photonen und andererseits als Welle aufgefasst werden kann. Es gilt also nicht der Ausschluss des Einen für das Andere, sondern gerade das Sowohl-als-auch-Prinzip.
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Wird Komplementärmedizin häufig nur als ergänzende (lat. complementare) Medizin verstanden, so kann sich eine tiefere Begründung dieser Begrifflichkeit aus dem Komplementaritätsprinzip ergeben, da die menschliche Organisation dieses Prinzip in sich selbst trägt.
Biologisch stratifizierte sowie personalisierte (stratifizierte psychosoziale) und individualisierte (stratifizierte spirituell-biographische) Medizin müssen zu einem umfassenden und damit ganzheitlichen Konzept in einem therapeutisch schöpferischen Prozess mit dem Patienten in der Onkologie zusammen entwickelt werden.
Basierend auf einer modernen biologisch stratifizierten Onkologie bedarf es also der Einbeziehung personaler und individueller Therapiemaßnahmen. Bereits vor 10 Jahren konnte gezeigt werden, wie sog. „early palliative care“, d. h. eine bereits bei Diagnosestellung initiierte professionell begleitete psychosoziale Betreuung zu einer signifikanten Lebensverlängerung (OS) wie auch Lebensqualitätsverbesserung (LQ) führt [21, 22].
Auf der LQ-Ebene wurden Depressivität und Angst deutlich vermindert, das OS wurde um 2,7 Monaten verbessert und lag damit bei über 50 % der durch Chemotherapie alleine erreichten Lebensverlängerung bei metastasierten NSCLC. Auch konnte die medizinisch nicht hilfreiche Aggressivität einer bis zuletzt durchgeführten rein konventionellen onkologischen Therapie („aggressive end-of-life-care“; Cx/Rx in den letzten 4 Wochen vor dem Tod) signifikant reduziert werden [21, 22].
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Auf dem Vorgehen von Temel et al. [21, 22] aufbauend kristallisierten sich in den folgenden Jahren drei sog. Schlüsselfragen in der supportiven bzw. frühpalliativen Onkologie heraus:
1.
Was bedeutet die Erkrankung für den Betroffenen und sein soziales Umfeld?
2.
Was sind seine wesentlichen Ziele/Wünsche für die verbleibende Lebenszeit?
3.
Was bedeutet für den Betroffenen der Tod?
Nach dem Ausgeführten wird auch verständlich, dass 70–90 % der onkologischen Patienten komplementäre Therapieverfahren nutzen und befürworten. Die alleinige Bewertung der externen Evidenz in Leitlinien führt nach D. Sackett zur „Tyrannei in der Medizin“, weshalb die heutige Onkologie von Patientenseite häufig als kalt empfunden wird, weil sie nicht oder nicht ausreichend auf die Bedürfnisse des einzelnen Menschen eingeht. Wenn man aber die oben genannten 4 Dimensionen der Beurteilung des therapeutischen Nutzens aus Patientensicht heranzieht, ergibt sich:
Zu 1.: Eine Therapiekonzeptualisierung unter Ausschluss eigener Werte und Anschauungen oder biographischer Umstände bzw. eigener Ziele und Wünsche wird als kühl und unmenschlich empfunden.
Zu 2.: Eine Nutzenbewertung unter rein statistischen Signifikanzberechnungen ohne Abwägen von Effektstärken, wie z. B. das oben genannte Early-palliative-care-Konzept in Bezug zu einer alleinigen medikamentösen Intervention, trifft nicht den subjektiven Wertekanon des Patienten. Viele onkologische Leitlinien vergleichen medikamentöse und strahlentherapeutische Konzepte, lagern aber weitestgehend andere onkologische Therapiekomponenten bestenfalls in sog. sekundäre Leitlinien aus oder erwähnen diese nicht.
Zu 3. Begründet aus dem Verlusterleben der eigenen Integrität bei der Krebserkrankung erwächst der Wunsch nach proaktiver Bewältigungsstrategie und somit auch salutogenen Wirkmethoden.
Zu 4. Die Einbettung notwendiger und sinnhafter biologisch stratifizierter Therapien, welche von Patientenseite meist als belastend beurteilt werden, führen häufig zu Vermeidungs- oder Ablehnungsverhalten. Die Einbindung in ein Gesamtkonzept mit ausgleichenden euthymen Aktivitäten (z. B. Kunsttherapie, Bewegungstherapie, Mindfullness, MBSR etc.) kann wiederum zu einer erhöhten Akzeptanz führen.
Integrative Onkologie – ein notwendiger Schritt auf den Patienten zu
Liegt die Komplementarität in der mehrdimensionalen Natur des Menschen, so bedarf es in der Onkologie einer Integration dieser Dimensionen und damit der Entwicklung einer biologisch stratifizierten, personalisierten und individualisierten Medizin. Dies bedingt dann auch die Integration aller 3 Säulen der EbM nach D. Sackett, sodass interne Evidenz (2. Säule) unter Einbezug von Erfahrung, Skills und Teamkompetenz und Patientenbedürfnisse (3. Säule) in einem onkologischen Konzept einfließen. Darüber hinaus sollten der Pluralismus in der Medizin und damit die zugrunde liegenden Wertesysteme (z. B. biopsychosozial; humanistisch oder reduktionistisch etc.) insoweit integriert werden, dass jeder Patient sich in den Werten einer Therapiekonzeptualisierung wiederfinden kann.
Damit erfährt der Begriff der integrativen Onkologie einen über eine Best Practice von konventioneller und komplementärer Medizin hinausgehende Vertiefung und fordert zu einer Integration von biologisch stratifizierter mit personalisierter und individualisierter Medizin auf. Der onkologischen Standardtherapie wird in der integrativen Onkologie die von Patientenseite geforderte echte personalisierte und individualisierte Therapie hinzugefügt [23]. Hochleistungsmedizin ist damit nicht mehr alleinige erfolgreiche Tumortherapie, sondern muss den Patienten mit einer Krebserkrankung umfassend behandeln.
Wird dieser notwendige Schritt auf den Patienten nicht zugegangen, besteht die Gefahr einer immer stärkeren Zweigleisigkeit, in der Patienten einerseits konventionelle und andererseits komplementäre Methoden durch unterschiedliche Ärzte und Therapeuten nutzen, ohne dass die handelnden Akteure voneinander wissen, geschweige denn es verstehen. Schmerzlich und gefährlich wird es für beide Seiten, wenn aus Komplementär- eine Alternativmedizin wird, bei der eine effektive und adäquate konventionelle Onkologie unterbleibt.
Soll eine wissenschaftliche Evaluation einer integrativen Medizin mit 3 Säulen der EbM erfolgen, impliziert dies eine andere Evidenzpyramide als die für die externe Evidenz. Der „randomized controlled trial“ (RCT) bezieht sich auf die isolierte Beurteilung einer Wirkung eines Therapeutikons im Beziehungsdreick von Patient und Arzt (Abb. 2a). Arzt und Patient sollen bewusst als sog. Störgrößen (Confounder) eliminiert werden (Abb. 2b rote Striche). Soll das Gesamtsystem (alle 3 Säulen der EbM) inklusive einer stratifizierten personalisierten und individualisierten Medizin gemessen werden, dürfen Beziehungsaspekte, therapeutische Intentionen und Kompetenzen wie auch die salutogene Ressource des Patienten und deren Beurteilung nicht ausgeklammert bleiben (Abb. 2c). Dabei steht der RCT dem „real life model“ gegenüber (Real World Data; RWD), wie dies in der Versorgungsforschung evaluiert wird [24, 25]. Im Modell der zirkulären Evidenz werden dann diese unterschiedlichen Studiendesigns zusammenfassend bewertet [26] und münden im sog. Health Technology Assessment [27].
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Fazit für die Praxis
Integrative Onkologie bezieht alle 3 Säulen der evidenzbasierten Medizin nach D. Sackett in ein Gesamtkonzept unter Berücksichtigung pathogenetischer und salutogenetischer Therapiekonzepte ein.
Die Mehrdimensionalität des Menschen bedarf einer präzisen Terminologie. Personalisierte und individualisierte Onkologie sollte nicht mit biologisch stratifizierter Medizin verwechselt werden. Es wird vorgeschlagen, die Stratifizierungsebene durch die Zusätze biologisch, personale oder individuelle zu benennen.
Aufgrund der Patientenpräferenz von salutogenen und komplementärmedizinischen Verfahren sollte zukünftig das Angebot der integrativen Onkologie weiter ausgebaut werden, damit nicht auf dem Rücken des Patienten die Zweigleisigkeit einer getrennten medizinischen Versorgung von konventioneller und komplementärer Medizin erfolgt.
Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
F. Schad hat eine Wissenschaftsförderung durch Abnoba®, Helixor® und Hiscia® erfahren. Es wurde keinerlei Einfluss auf die Publikation genommen. H. Matthes gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Open Access. Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Der onkologische Patient im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Standard und praktischer Individualisierung in der Onkologie Ein Plädoyer für eine integrative Onkologie
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