BDI-Präsidentin: Wir müssen raus aus dem Krisenmodus!

Die Corona-Pandemie ist nicht vorbei. Dennoch oder gerade deshalb wird es höchste Zeit, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach die vielen großen Baustellen im Gesundheitswesen anpackt, mahnt BDI-Präsidentin Christine Neumann-Grutzeck im Interview. Sonst werde sich der Ärztemangel unweigerlich verstärken. Ärzte Zeitung: Frau Neumann-Grutzeck, am Wochenende startet der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) unter dem Motto: Die Grenzen der Inneren Medizin. Welche Grenzen sind denn aus BDI- bzw. berufspolitischer Sicht aufzubrechen? Christine Neumann-Grutzeck: Das ist natürlich ein spannendes Thema, das der Kongresspräsident, Professor Lerch, da ausgesucht hat – und es wird auf dem Kongress auch in vielen Facetten beleuchtet. Wenn es nun aber darum geht, welche Grenzen berufspolitisch aufgebrochen werden müssen, dann müssen wir ganz klar über die hausärztliche Versorgung sprechen, die ja von drei Fachgruppen getragen wird: von den Allgemeinmedizinerinnen und -medizinern, den Internistinnen und Internisten ohne Schwerpunkt sowie den Kinder- und Jugendmedizinerinnen und -medizinern. Leider wird sie aber noch zu oft gleichgesetzt mit der Allgemeinmedizin. Das ist angesichts des drohenden und schon beginnenden Versorgungsmangels fatal. Wenn wir mehr Kolleginnen und Kollegen für diesen wichtigen Versorgungsbereich gewinnen wollen, müssen wir erkennen, dass wir dies nur gemeinsam schaffen. Internisten und Allgemeinmediziner müssen deshalb unter den gleichen Bedingungen in der hausärztlichen Versorgung zusammenarbeiten können. Und da ist noch viel Luft nach oben. Eine andere Grenze, über die seit Jahren diskutiert wird, ist die der Sektoren – also die Grenze ambulant/stationär. Im BDI sind Niedergelassene und Kliniker vertreten. Wie werden im Verband diese äußerlichen Grenzen wahrgenommen? Und wie ließen sie sich überwinden? Die Kolleginnen und Kollegen vor Ort wollen zusammenarbeiten. Im Vordergrund steht für uns doch immer die bestmögliche Versorgung unserer Patientinnen und Patienten. Diese gelingt uns umso besser, wenn wir gemeinsam unterwegs sind und uns eng abstimmen. Leider gibt es an der Sektorengrenze, aber auch zwischen Haus- und Fachärzten viel zu viele Hürden, die im Moment nicht ganz so einfach überwunden werden können – etwa die technischen Hürden. Es wäre wichtig, Informationen schnell untereinander austauschen zu können. Was wir brauchen, wäre also eine gute Digitalisierung, die uns die Arbeit erleichtert. Oft genug hakt es zudem an den Abrechnungsvoraussetzungen. Wir werden Kolleginnen und Kollegen haben, die auf beiden Seiten arbeiten wollen. Und wir sollten die Möglichkeit haben, gemeinsam die beste Versorgung für unsere Patienten zu ermöglichen – unabhängig davon, ob man ambulant oder stationär tätig ist. Also: gute Patientenversorgung unter gleichen Bedingungen von beiden Seiten, nicht ein Verschieben von Sektorengrenzen in die eine oder andere Richtung. Was wir brauchen, wäre eine gute Digitalisierung, die uns die Arbeit erleichtert. Bleiben wir kurz beim Stichwort Digitalisierung. Trotz der Spahnschen Turbogesetze ist der große Wurf noch nicht gelungen. Immer wieder gibt es Verzögerungen, was und vor allem wie könnte es aus Ihrer Sicht besser laufen? Nach den ganzen schnellen Gesetzen haben wir ja jetzt fast so etwas wie einen Stillstand. Es ist vielleicht auch ganz gut, kurz innezuhalten, die Dinge zu überprüfen und dann in einer klugen Art und Weise darauf aufzusetzen. Dazu gehört allerdings, dass man von Anfang an die Menschen im Gesundheitswesen, die später täglich mit der Technik und den Anwendungen arbeiten müssen, einbezieht und fragt: Was braucht ihr eigentlich? Um dann gute technische Lösungen zu schaffen. Mit einer Lösung, die wir am Ende gar nicht benutzen können oder die unsere Praxissoftware frühst, am besten noch am Montagmorgen, lahmlegt, können wir gar nichts anfangen. Da hat es viel zu viele Beispiele gegeben, die uns in kürzester Zeit nur frustriert und weder der Tätigkeit noch der Patientenversorgung einen Nutzen gebracht haben. Natürlich haben wir einen großen Nachholbedarf in der Digitalisierung, aber die „Praktiker“ sollten bitte mit einbezogen werden. Christine Neumann-Grutzeck Berufspolitik: Seit September 2020 Präsidentin des Berufsverbandes Deutscher Internistinnen und Internisten e.V. (BDI). Zuvor 1. BDI-Vizepräsidentin (ab Mai 2019) und Mitglied im BDI-Vorstand (ab 2016). Ärztliche Tätigkeit: Neumann-Grutzeck arbeitet in einer diabetologischen Schwerpunktpraxis in Hamburg. Wie sehen Sie denn den Tausch der Konnektoren, der nun in Sachen Telematikinfrastruktur ansteht? Da geht es gerade wieder in die komplett falsche Richtung, wenn ich sehe, dass man Geräte austauscht, weil man es nicht schafft, sie rechtzeitig upzudaten. Oder weil die uns versprochene Software-basierte Lösung einfach noch nicht zur Verfügung steht. Da wird wieder ganz, ganz viel Geld in die Hand genommen werden müssen, es wird eine irrsinnige Menge an Elektroschrott produziert und wir kommen eigentlich nicht einen Schritt weiter. Das Thema Krankenhausplanung und -finanzierung muss jetzt ganz dringend angegangen werden. Wenn wir es schaffen, hier den Druck rauszunehmen, schaffen wir auch wieder deutlich bessere Arbeitsbedingungen. Ein großer Schritt wäre auch bei einem anderen Thema dringend notwendig: dem ökonomischen Druck auf Ärztinnen und Ärzte. Immer wieder beklagen vor allem junge Ärzte in Umfragen, dass sie strengen wirtschaftlichen Vorgaben bei Versorgungsentscheidungen folgen müssen ... Wir haben immer noch den Druck in den Kliniken und auf die jungen Ärztinnen und Ärzte, weil das DRG-System keine auskömmliche Finanzierung der Kliniken möglich macht. Wir haben ja gesehen, wie der Druck, den die Klinikdirektoren haben – die meist ja aus dem kaufmännischen Bereich kommen – das Geld zu erwirtschaften, zunächst auf die Pflege als erste Berufsgruppe ausgeübt wurde. Die Konsequenzen kennen wir, die ja letztlich dazu geführt haben, dass der Gesetzgeber die Pflegekosten aus den DRG herausgenommen hat. Die Folge ist leider nicht, dass es besser geworden wäre, sondern der Druck hat sich einfach verlagert auf die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen. Genau davor hatten wir als BDI gewarnt. Das Thema Krankenhausplanung und -finanzierung muss jetzt ganz dringend angegangen werden. Wenn wir es schaffen, hier den Druck rauszunehmen, schaffen wir auch wieder deutlich bessere Arbeitsbedingungen. Der BDI hatte ja im vergangenen Jahr gefordert, als erste Ad-hoc-Maßnahmen auch die Arztkosten aus den DRG herauszunehmen. Warum würde das helfen? Es wird ja nun eine Kommission eingesetzt, die über die Krankenhausfinanzierung beraten soll. Es ist also nicht abzusehen, dass schnell eine Reform der Krankenhausfinanzierung gelingt. Von daher brauchen wir diese Ad-hoc-Maßnahme, um vor allem den jungen Ärztinnen und Ärzten akut den Druck zu nehmen. Denn sie haben ja nicht nur unter dem DRG-System zu leiden, sie haben in den vergangenen zwei Jahren zusätzlich noch ganz massiv unter der Pandemiesituation gelitten. Das ist auch wichtig, um die Kolleginnen und Kollegen in den Kliniken zu halten, damit sie uns nicht alle verloren gehen – und vor allem nicht auch noch als Ärztinnen und Ärzte verloren gehen. Ein bisschen besorgt bin auch, weil in dieser Kommission nur Wissenschaftler beteiligt werden sollen. Mir wäre es wichtig, dass man auch ein Stück weit die Praxis mit einbezieht. Wir haben es ja in der Digitalisierung gesehen, wohin das führt ... Welche Reformschritte sind aus Ihrer Sicht in der Pandemie denn außerdem liegen geblieben? Und was sind die Erwartungen, die Sie an Gesundheitsminister Lauterbach haben? Ich hatte vor der Bundestagswahl immer gesagt, es wäre schön, eine ärztliche Ministerin oder einen ärztlichen Minister zu haben, weil sie oder er den Blick haben kann auf das, was wir so tun, und Gesundheitspolitik vielleicht mit thematischem Sachverstand kombinieren kann. Jetzt haben wir einen Arzt als Gesundheitsminister, der sich sicherlich ganz intensiv um Corona gekümmert hat. Aber jetzt kommt so langsam der Zeitpunkt, wo man sich wünscht, dass auch einmal die anderen Bereiche des Gesundheitssystems angegangen werden. Corona ist nicht vorbei, das ist klar. Aber von einem Gesundheitsminister erwarte ich, dass er sich neben diesem einem Thema jetzt auch den Dingen zuwendet, die dringend reformbedürftig sind. Neben dem Krankenhaussektor sind das Fragen der intersektoralen Versorgung, die Digitalisierung, der Ärzte- und Versorgungsmangel ... es gibt sehr viele Themen, die jetzt angepackt werden müssen. ... also ein Minister, der im Krisenmodus feststeckt? Ja. Jetzt müsste er mal langsam vom Krisenmodus in den Modus der Reformen und Zukunftsvisionen umschalten. Leider ist da in den vergangenen Wochen ja gerade in der Kommunikation einiges schief gelaufen. Letztes Beispiel war die neue Corona-Killervariante im Herbst. Wir alle wissen nicht, was da auf uns zukommt, aber im Moment würde ich mir wirklich wünschen, dass der Fokus auch mal ein bisschen auf die anderen Bereiche gerichtet wird. Ein großes Thema, dass die Medizin aktuell beschäftigt, ist auch die Gendergerechtigkeit und Gleichberechtigung von Ärztinnen und Ärzten. Der BDI hat hier früh ein Zeichen gesetzt, indem er sich vergangenes Jahr in Berufsverband Deutscher Internistinnen und Internisten umbenannt hat. Sehen Sie sich da als Vorreiter? Ja, das muss man so sagen. Wir sind ja einer der ersten Verbände, die diesen Schritt gegangen sind. Wenn man sich jetzt umschaut, gibt es mittlerweile viele Nachahmer, was ich sehr positiv finde. Der aktuelle und nächste Schritt ist ja das Umbenennen unserer Fachzeitschriften. Was macht so eine Umbenennung denn mit einem Verband? Wie wirkt sie sich konkret intern auf die Verbandsarbeit aus? Wir hatten ja von Anfang an eine große Zustimmung für diesen Schritt. Die Erkenntnis, dass die Medizin weiblich wird, ist schon fast zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Ich sage ja, die Medizin ist längst weiblich, weil in vielen Bereichen der Ärztinnen und Ärzte mehr als die Hälfte Frauen sind. Auch die Männer, vor allem auch die älteren, sehen das übrigens so und sagen, wir müssen die Frauen mitnehmen und im Verband aufnehmen. Dazu gehört eben, dass wir sie benennen in den Titeln unseres Verbandes und darüber hinaus. Die Erfahrung ist eigentlich sehr positiv. Alle Beiträge vom DGIM-Kongress finden Sie im DGIM-Kongressdossier 2022. Quelle: Ärzte Zeitung

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