Intensivmediziner: „Second Victims brauchen Hilfe, keine Bestrafung“

Wenn Ärzte aufgrund eines Behandlungsfehlers selbst traumatisiert sind, benötigen sie kollegiale Hilfe, sagt Reinhard Strametz auf dem DGIM-Kongress. Und: Eine Internistin erzählt, wie der Handywecker die Resilienz stärken kann. Sechs von zehn Weiterbildungsassistenten gaben an, durch einen Behandlungsfehler traumatisiert worden zu sein. Knapp jeder zehnte Betroffene habe sich bisher nicht von dem Ereignis erholt. Diese Ergebnisse der SeViD I-Studie (Second Victims im Deutschsprachigen Raum) präsentierte Reinhard Strametz, Intensivmediziner und Professor für Patientensicherheit an der Hochschule RheinMain, beim Internistenkongress in Wiesbaden. Dieses Phänomen des „Second Victims“ sei vielen Medizinerinnen und Medizinern nicht bekannt, sagt Strametz. Dabei könne es jeden von ihnen treffen, Berufsanfänger und erfahrene Ärztinnen und Ärzte. „Schließlich ist keine Maßnahme in der Medizin frei von Risiken.“ Second Victims sind Personen aus dem Gesundheitswesen, die durch ein unvorhersehbares oder unerwünschtes Ereignis traumatisiert wurden. Bei einigen löst bereits ein „Near Miss“ – ein gerade noch gut gegangenes Ereignis – aus, dass sie langfristig psychische Beschwerden aufweisen. Zwei Drittel aller Second Victims entwickeln dysfunktionale Verarbeitungsmechanismen, betont Strametz. Sie verlieren beispielsweise das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und haben eine gesteigerte Angst, Fehler zu begehen. In einer selbsterfüllenden Prophezeiung können dadurch weitere Patienten zu Schaden kommen. Infolgedessen können Second Victims aus dem Beruf fliehen, eine Depression bekommen und im schlimmsten Fall Suizid begehen. Zugespitzte Corona-Situation als Chance sehen Strametz fürchtet, dass die hohe Belastung und drohende Triage-Entscheidungen während der Corona-Pandemie die Situation weiter zugespitzt haben. Auch eine Zunahme der Long-COVID-Erkrankungen beim Gesundheitspersonal könne verstärkend wirken. Doch der Patientenschutz-Forscher kann der kritischen Situation auch etwas Positives abgewinnen: „Dies ist eine Chance offener über das Phänomen zu sprechen.“ So könne Betroffenen und Patienten geholfen werden. „Second Victims brauchen Hilfe, keine Bestrafung“, zeigt er sich sicher. Wie kann traumatisierten Ärzten und Pflegekräften geholfen werden? Zunächst sei der kollegiale Austausch sehr wichtig. Betroffene sollten in ihrer fachlichen Kompetenz bestärkt werden, dies stärke das Selbstwertgefühl. Wenn nötig, sollten sie die Chance haben, eine kurze Auszeit zu nehmen, um das Geschehene zu verarbeiten. Im zweiten Schritt kann eine Krisenintervention durch Spezialisten stattfinden. Jedoch, macht Strametz klar, muss nicht jeder zum Psychiater. Manche Second Victims können die Krise im ersten Schritt mittels kollegialer Hilfe überwinden und daran wachsen. An der Krise zu wachsen bedeute auch, aus seinen Fehlern zu lernen, sagt Strametz. Genauso sollten Ärzte auch von den Fehlern ihrer Kollegen lernen. Dazu könnten Praxen oder Klinikabteilungen einen „Black Monday“ veranstalten: Dabei muss jeder vor seinen Kollegen von seinem schlimmsten Fehler berichten – ohne Häme zu ernten. Durch eine gestärkte Resilienz Traumata verhindern Außer in die Nachsorge sollte auch in die Primärprävention von Second Victim-Traumata investiert werden, sagt Strametz. Einerseits müssen Standards implementiert werden, die Fehler unwahrscheinlicher machen. Andererseits sollte die Resilienz des Gesundheitspersonal gestärkt werden. Wie? Von einigen Ideen zur Resilienzstärkung berichtet Dr. Sophie Schlosser, Internistin am Universitätsklinikum Regensburg, auf dem DGIM-Kongress. Wichtig sei beispielsweise ein starkes soziales Umfeld, dass Ärzten Kraft für den Arbeitsalltag gibt. „Bei unseren Patienten vereinbaren wir den nächsten Termin, das sollten wir auch bei unseren eigenen Freunden machen“, rät Schlosser. Das Privat- und Familienleben leide bei 75 Prozent der Ärzte in Deutschland, ergab eine Umfrage des Marburger Bundes 2019. Für den frühen Feierabend und Pausen sei oft keine Zeit. Daher stehe bei der Resilienzstärkung auch der Arbeitgeber in der Pflicht, die Arbeitsbedingen zu verbessern. Um Veränderung von Arbeitnehmerseite voranzubringen, sollten Ärzte Allianzen mit Kollegen formen und mit konstruktiven Lösungsvorschlägen auf den Arbeitgeber zugehen. Chmitorz A et al., "Population-based validation of a German version of the Brief Resilience Scale", 2018 Andrea Schudok | ÄrzteZeitung | Springer Medizin Verlag GmbH × Weiter sollte das eigene Wohlbefinden gestärkt werden, sagt Schlosser. Dazu zähle unter anderem eine gesunde Ernährung, viel Trinken, Sport und Schlaf. Schlosser blickt in die Gesichter der Kongressbesucher und sagt, dass es banal wirken könnte, aber man kann sich beispielsweise gesundes Essen für die Kühltruhe kaufen – das spare Zeit und sei gut für den Körper. An die regelmäßige Flüssigkeitszufuhr im Arbeitsalltag kann ein der Wecker des Smartphones erinnern. Und: Manchmal kann es ratsam sein, sich das Worst-Case-Szenario einer Situation zu überlegen, um zu merken, dass „die Welt davon auch nicht unter geht“. Schlosser bekam für ihren Vortrag den Rahel Hirsch-Preis verliehen. Rahel Hirsch wurde 1870 in Frankfurt/Main geboten und studierte Medizin in der Schweiz und in Deutschland. Sie wurde als erste Frau in Preußen zur Professorin ernannt und entdeckte die Translokation von Makromolekülen im Dünndarm. Vor dem NS-Regime musste sie als Jüdin nach London fliehen. Alle Beiträge vom DGIM-Kongress finden Sie im DGIM-Kongressdossier 2022. Quelle: Ärzte Zeitung

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