DGIM-Chef: „Wir Ärzte müssen hoffnungslose Optimisten sein“

Haben Ärzte in der Vergangenheit oft Grenzen nicht beachtet, sei man heute trotz allen medizinischen Fortschritts demütiger geworden, sagt der DGIM-Vorsitzende Professor Markus Lerch aus München. Beim diesjährigen Internistenkongress sollen die Grenzen der Inneren Medizin ausgelotet werden – Kontroversen sind programmiert. Ärzte Zeitung: Herr Professor Lerch, Sie und Ihre Kollegen wollen beim DGIM-Kongress unter anderem über „Die Grenzen der Inneren Medizin“, so das Motto, sprechen. Hierbei geht es auch um ethische Grenzen ärztlichen Handelns. Aktuell nimmt die Diskussion um selbstbestimmtes Sterben, Tötung auf Verlangen und ärztliche Sterbehilfe nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil vor zwei Jahren wieder Fahrt auf. Was erwarten Sie, was erwartet die DGIM vom Gesetzgeber in dieser Hinsicht? Professor Markus Lerch: Bei diesem Thema sind viele ethische und rechtliche Fragen noch ungeklärt. Deshalb müssen wir die Diskussion weiterführen, unter anderem in einer Pro- und Kontra-Sitzung zum ärztlich assistierten Suizid. Wir wissen, dass zum Beispiel in den Niederlanden vier Prozent aller Todesfälle ärztlich begleitet sind, übrigens überwiegend von Hausärzten. Das ist eine Entwicklung, mit der wir uns in Deutschland schwertun. Wie sollen wir Ärzte mit Menschen umgehen, die sich von uns wünschen, in den Tod begleitet zu werden? Welches sind unsere eigenen Empfindungen, Motive und Interessen dabei? In welchem medizinrechtlichen Umfeld bewegen wir uns? Ich glaube nicht, dass es dazu in der Ärzteschaft bisher einen Konsens gibt. Wie kann der Bundestag angesichts der Meinungsvielfalt in der Gesellschaft wie auch in der Ärzteschaft einen Rahmen schaffen, um die divergierenden Ansichten aufzufangen? Möglich wäre das schon, denken Sie an die Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch: Dem Bundestag ist es gelungen, einen gefundenen Kompromiss in Gesetze zu gießen und darüber gesellschaftlichen Konsens herzustellen. Eine Festlegung entsprechender Grenzen und einen rechtlichen Rahmen, in dem wir uns bewegen können, brauchen wir auch beim Thema des ärztlich begleiteten Sterbens. Dann ist das individuelle Handeln dem Gewissen, den Fähigkeiten und Kompetenzen des einzelnen Arztes überlassen. Weiterhin müssen Sicherungen für die Patienten eingebaut werden, die sich nicht unter dem Druck ihrer Umwelt zu einem solch unumkehrbaren Schritt entscheiden dürfen. Nur dann entsteht ein gesellschaftlicher Konsens. Ich bin in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation allerdings unsicher, ob sich unsere gewählten Politikerinnen und Politiker mit diesem Thema bald befassen werden. Wenn wir über terminal kranke Menschen sprechen, geht es ja um Lebensqualität. Lebensqualität und der Wille kranker Menschen sind generell in den vergangenen Jahren zu wichtigen Orientierungsmarken moderner Medizin geworden. Was bedeutet das für das ärztliche Selbstverständnis? Ist das Selbstbild von Ärztinnen und Ärzten als Heilenden noch zeitgemäß? Ja, das ist es. Aber es bedarf einer Modifizierung! Viele Jahre waren wir in der Medizin von einer Fortschrittsgläubigkeit geprägt. Zwar ist es wichtig und richtig, dass wir Ärzte hoffnungslose Optimisten sein müssen. Aber jedes Leben eines Menschen ist endlich und wir müssen uns mehr mit unseren Aufgaben am Lebensende auseinandersetzen, den bestehenden Möglichkeiten und den Grenzen. In der Vergangenheit haben wir oft Grenzen überschritten und Patienten mit terminalen Erkrankungen mit Methoden behandelt, die ausschließlich auf Lebensverlängerung ausgerichtet waren und nicht immer dem Patientenwunsch entsprochen haben. Da haben wir viel hinzugelernt. Es ist manchmal besser, einen Menschen in den Tod zu begleiten als sein Leben um jeden Preis zu verlängern. Professor Markus M. Lerch Position: Vorsitzender der DGIM 2021/22 und Präsident des DGIM-Kongresses 2022. Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des LMU-Uniklinikum München, Campus Großhadern/Innenstadt. Facharzt für Innere Medizin, Gastroenterologie, Endokrinologie und Biochemie sowie Intensivmediziner. Werdegang: Medizinstudium ab 1977 in Freiburg, Glasgow und Toronto, internistische Weiterbildung an der RWTH Aachen. Forschungsaufenthalte an der Harvard University Boston, Massachusetts, an der Uni Mailand und am Max-Planck-Institut für Biochemie, Martinsried. Weitere Stationen an den Unikliniken Ulm, Homburg/Saar und Münster; 2003-2020 C4-Professur an der Universität Greifswald und Klinikdirektor. Klinischer und wissenschaftlicher Schwerpunkt: Erkrankungen des Pankreas Wie haben Sie das in Ihrer beruflichen Laufbahn erlebt? Als ich junger Assistenzarzt war, haben einige meiner Vorgesetzten die Einstellung vertreten, terminal kranke Tumorpatienten über ihre Prognose zu belügen. Das geschah unter der Vorstellung, man müsse den Patienten vor dieser schlechten Nachricht schützen, weil es ihn sonst traumatisieren würde. Das hat zu einer Sprachlosigkeit im Sterbeprozess zwischen allen Beteiligten geführt. Wir Ärzte sind im Vergleich dazu heute sehr viel ehrlicher gegenüber unseren Patienten und ihren Angehörigen, sind selbstkritischer und erklären eher, was möglich, unwahrscheinlich oder unmöglich ist. Sonst gäbe es bis heute auch keine Palliativmedizin. Jeder mit schwerkranken Patienten arbeitende Arzt braucht palliativmedizinische Kompetenz, um sich auf Wünsche, Interessen und Erwartungshaltungen einlassen und um damit umgehen zu können. Ist diese Erwartungshaltung schwerkranker Patienten nicht eher größer geworden angesichts der fantastischen Möglichkeiten, die es heute im Vergleich vor wenigen Jahrzehnten gibt? Das ist eine Diskrepanz, die wir aushalten müssen. Heute sind Krankheiten heilbar, die früher unmittelbar zum Tode geführt haben. Andererseits sind wir demütiger geworden, was die Einschätzung der Chancen und Risiken von Maßnahmen angeht, die wir auch rechtfertigen müssen. Wir sehen uns als Partner kranker Menschen, und weder als Dienstleister, noch als Heilsbringer. Grenzen innerhalb der Medizin scheinen sich teils aufzulösen, wenn man etwa an das Zusammenwachsen der Kardiologie und der Herzchirurgie denkt. Wie interpretieren Sie diese Entwicklung? Das Zusammenwachsen in Herzteams ist nicht unbedingt der Regelfall. Die Disziplinen arbeiten zwar eng zusammen, ergänzen und brauchen sich. Aber die Ressourcen verschieben sich zugunsten der Kardiologen, weil sie es sind, die zum Beispiel minimal-invasive Eingriffe zum Herzklappenersatz vornehmen und dazu laut einem G-BA-Beschluss die Begleitung eines Herzchirurgen benötigen. Das herzchirurgische Portfolio nimmt daher immer weiter ab. Dennoch muss die Herzchirurgie erhalten bleiben, weil sie nie komplett durch minimal-invasive Methoden ersetzt werden kann. Solche Entwicklungen müssen berufspolitisch aufgefangen werden, denn sie bedeuten Veränderungen im Krankheitsspektrum von Fachdisziplinen und Veränderungen von Ressourcen. Seit die Leistungsabrechnung in den Krankenhäusern auf das DRG-System umgestellt worden ist, sehen wir, dass es zum Beispiel immer weniger Endokrinologen gibt – deutschlandweit existieren in den über 1900 Krankenhäusern nur noch 32 endokrinologische Fachabteilungen. Dieses Fach wird immer „ambulanter“, weshalb in der Klinik weniger ausgebildet wird. Vergleichbares können etwa die Angiologen berichten, die ähnliche Patienten wie Gefäßchirurgen und interventionelle Radiologen behandeln. Das kann die Existenz einzelner Fachdisziplinen durchaus gefährden. Wie sieht das in Ihrem Fachgebiet Gastroenterologie aus? Derzeit sehe ich kein großes Konkurrenzpotenzial zur Viszeralchirurgie. Auch hier hat vor 20 Jahren eine Verschiebung stattgefunden, etwa beim Rückgang der Magenchirurgie wegen der besseren konservativen Heilungsmöglichkeiten. Heute können in Grenzbereichen noch einige interventionelle endoskopischen Verfahren viszeralchirurgische Op-Methoden ersetzen, etwa was Pankreasnekrosen oder die Abtragung von Dickdarm-Polypen oder Mukosatumoren im GI-Trakt angeht. Aber jenseits einiger Indikationen sind die Spektren beider Fächer so groß, dass keines der beiden gefährdet ist. Der Trend geht zum interdisziplinären Arbeiten, auch in gemeinsamen Endoskopieabteilungen. Die meisten Subdisziplinen der Inneren Medizin sind organbezogen definiert. Inzwischen sehen wir indikationsübergreifende Zulassungen von Medikamenten, es werden pathophysiologische Ähnlichkeiten zwischen Krankheiten verschiedener Organsysteme identifiziert. Werden sich die Grenzen zwischen den organbezogenen Disziplinen auflösen, weil wir Krankheiten in zehn, zwanzig Jahren vielleicht ganz anders definieren und benennen müssen? Ich halte es weiterhin für sinnvoll, dass entlang der gewachsenen Fächerstrukturen die Subspezialisierung erfolgt. Wir brauchen die Fächeridentität und die damit verbundene Begeisterung für das eigene Fach. Und wir lernen in diesen Fächern ja auch ein Handwerk. Deshalb wird es weiterhin die klassischen internistischen Fächer geben. Aber sie spalten sich weiter auf. Vor hundert Jahren waren Endokrinologie und Stoffwechsel Bestandteil der Gastroenterologie, die Pädiatrie war Teil der Inneren Medizin. Ich habe meinen Neurologie-Kurs noch im Rahmen eines britischen Innere Medizin-Praktikums gemacht. Gerade haben wir den Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie eingeführt. Wenn ich andererseits an unser Tumorboard und die personalisierte Medizin solider Tumoren am LMU Klinikum denke, dann spielt es keine wesentliche Rolle, ob für diese Spezialkompetenzen jemand von der Grundausbildung her Gastroenterologe oder Hämatoonkologe ist. Es entwickeln sich überlappende Bereiche, wo man anders aufgestellt sein muss als in den klassischen Organfächern. Vor diesem Hintergrund finde ich es ausgezeichnet, dass die Innere Medizin in Deutschland es geschafft hat, in der Weiterbildung einen wirklichen ‚common trunk‘ zu erhalten, also eine mindestens dreijährige, breit angelegte internistische Weiterbildung. Das ist im internationalen Vergleich unüblich, bildet aber die fließenden Grenzen zwischen den internistischen Disziplinen ab. Erst dann folgt die Spezialisierung. Und diese Fächer muss es geben. Denn unser Wissen wächst exponentiell. Nicht jeder kann alles können. Mit manchen onkologischen oder Gentherapien scheinen Grenzen des Bezahlbaren überschritten zu werden. Wie können wir als Gesellschaft miteinander klären, welcher Zugewinn an Lebenszeit und Lebensqualität es wert ist, diese Summen aufzubringen? Wir sind ein sehr reiches Land mit einem der weltweit teuersten Gesundheitssysteme, auch dank mancher Ineffizienzen entlang der Sektorengrenzen und einer fehlenden Zentralisierung aufwendiger Leistungen. Dennoch führen wir als Gesellschaft keinen Diskurs zur Priorisierung. Wir arbeiten unter der Fiktion, dass alles was möglich ist, gemacht werden müsste und bezahlt werden könne. Das ist natürlich längst nicht mehr der Fall. Es gibt Verteilungskämpfe. Leider wird die Diskussion in einer unglücklichen Vermischung von Einzelinteressen geführt. Damit gehen die Briten in ihrem staatlichen, steuerfinanzierten Gesundheitssystem ganz anders um. Dort gibt es relativ klare Vorgaben, wie viel zum Beispiel die Verlängerung eines Menschenlebens um ein Jahr kosten darf. Diese gesellschaftliche Auseinandersetzung gibt es bei uns nicht. Ich will nicht sagen, dass wir solche monetären Grenzen wie die Briten definieren müssen. Aber wir müssen uns der Diskussion stellen: Was darf eine Lebensverlängerung kosten? Wie messen und bewerten wir Lebensqualität? Das sind ebenfalls Themen unseres Internistenkongresses. Professor Lerch, vielen Dank für dieses Gespräch! Alle Beiträge vom DGIM-Kongress finden Sie im DGIM-Kongressdossier 2022. Quelle: Ärzte Zeitung

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