Vom Psychoterror der Diktaturen

Stühle, die plötzlich in einem anderen Zimmer stehen, ein Fuchsfell, dem jemand den Schwanz abschneidet, diskreditierende Gerüchte – Geheimdienste treiben ihre Opfer gerne in den Wahnsinn. Die Schriftstellerin Herta Müller kennt deren Psychotricks aus eigener Erfahrung. „Wir machen ihren Möbeln Beine“ – diese harmlose Aufschrift auf einem Möbelwagen hat bei der Schriftstellerin Herta Müller nach ihrer Ankunft in Deutschland böse Erinnerungen geweckt. Tatsächlich hat in ihrer alten Heimat Rumänien die Securitate, der Geheimdienst des Ceaușescu-Regimes, den Möbeln in ihrer Wohnung in Temeswar Beine gemacht: Mal stand plötzlich ein Stuhl in einem anderen Zimmer, mal lag ein Bild auf dem Bett, statt an der Wand zu hängen. Besonders gut kann sich die Literaturnobelpreisträgerin an das böse Spiel mit ihrem Fuchsfell erinnern. Das hatte sie als Kind von einem Jäger bekommen und bei jedem Umzug mitgenommen. Eines Tages war bei der Rückkehr in ihre Wohnung der Schwanz abgeschnitten. Zunächst, so erzählte sie auf dem DGPPN-Kongress in Berlin, dachte sie noch, das Fell ist alt und abgewetzt, vielleicht ist er von selbst abgefallen. Doch beim nächsten Mal war eine Pfote abgetrennt, dann noch eine und schließlich der Kopf. Solche Aktionen liebte der Geheimdienst: „Man weiß irgendwann nicht mehr, was Realität und was inszeniert ist“, sagte Müller im Gespräch mit Professor Mazda Adli, Chefarzt der Fliedner-Klinik in Berlin. Inszeniert waren auch viele Suizide: Menschen wurden offensichtlich ermordet, ohne größere Untersuchungen wurde aber ein Suizid festgestellt. Auch dies sollte Freunde und Angehörige zum einen einschüchtern, zum anderen im Unklaren lassen. Für Müller besonders bitter ist, dass die meisten solcher „Suizide“ nach dem Ende der Diktatur nie untersucht worden sind. Zunächst versuchte es der Geheimdienst jedoch mit Psychoterror: „Es gibt ein Muster in den Diktaturen, den rechten wie den linken, und das ist die Zerstörung des Individuums. Es bleibt kein Privatleben mehr, das nicht angetastet ist.“ Um sich Zugang zum Privaten zu verschaffen, scheuten die Geheimdienstler weder Kosten noch Mühe. Wie sich später herausstellte, war nicht nur jedes Zimmer in Müllers Wohnung verwanzt, die Securitate hatte in der Wohnung unter ihr eine regelrechte Abhörzentrale eingerichtet und ihr Leben in über 800 Seiten protokolliert. „Wer in Gefahr lebt, ist schwer erträglich für andere“ Den Zorn der Securitate hatte sich Müller, die unter der deutschsprachigen Minderheit im Banat aufwuchs, in ihrer Zeit als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik zugezogen. Sie wurde vom Geheimdienst zum Spitzeldienst gedrängt, lehnte aber ab. „Ich hätte mit mir selbst nicht mehr leben können, wenn ich andere bespitzelt hätte. Ich habe denen sofort abgesagt, ich konnte nicht anders entscheiden“, sagte Müller. „Ich haben dieses Regime verachtet, diese Nomenklatura, diese polierten Nullen, die andere Leute ständig vorführten.“ Sie dachte dann, das sei es gewesen, nun habe sie ihre Ruhe. Doch stattdessen begannen erst die Probleme: Ihr Büro war plötzlich von jemand anderem belegt, und ihre Sachen lag auf dem Flur – sie arbeitete dort weiter, damit man sie nicht wegen Fehlzeiten rausschmeißen konnte. Der Geheimdienst streute Gerüchte, sie würde für die Securitate arbeiten – Freunde distanzierten sich von ihr. „Irgendwann hat man nur noch Freunde, die auch verfolgt und gemieden werden. Auf diese Leute ist man dann stark angewiesen. Das sind die Beziehungen, die den inneren Halt einigermaßen garantieren.“ Doch auch solche Beziehungen sind fragil. „Wer in Gefahr lebt, ist schwer erträglich für andere. Je mehr man aufeinander angewiesen ist, umso schwerer macht man es sich. Beziehungen gehen dann schnell kaputt, auch das ist das Tragische an politischer Verfolgung.“ Als inneren Ausweg aus dieser Einsamkeit fing Müller an zu schreiben. „In Diktaturen beginnt man schneller zu schreiben.“ Zum Teil versteckte sie ihre Werke, die sie auf Deutsch schrieb, bei einer Freundin – die hatte ihr während der schwierigen Zeit in der Fabrik sehr geholfen. Die Texte sollten dem Geheimdienst bei Hausdurchsuchungen nicht in die Hände fallen. Jahre später, als die Schriftstellerin bereits nach Deutschland emigriert war, wurde sie einmal von dieser Freundin besucht. Sie sah dabei, dass sie viele Visa westlicher Länder im Pass hatte, was ihren Argwohn erregte. Müller fand heraus, dass die Freundin einen Grundriss ihrer Wohnung gezeichnet und einen Schlüssel nachmachen lassen hatte, sie stellte sie zu Rede. Die Freundin war mittlerweile mit einem Geheimdienstler verheiratet und sollte sie ausspionieren. Sie vermutet, dass sogar deren Ehe nur solchen Zwecken diente. „Der Geheimdienst zieht alles in den Dreck, auch Beziehungen.“ Kann man so jemandem verzeihen? Dies, so Müller, hängt von der Einsicht und der Reue ab, auch vom entstandenen Schaden. „Einem Regime kann man nicht verzeihen. Ich bin gegangen worden. Ich habe nicht gesehen, dass sich irgendeine Behörde dafür jemals entschuldigt hat. Den Geheimdiensten würde ich nie verzeihen auch nicht der Psychiatrie, die war nur ein Appendix des Regimes.“ Empfehlung der Redaktion Berichte vom hybriden DGPPN-Kongress Das Dossier zum DGPPN-Kongress 2022 Vom Psychoterror der Diktaturen, Biomarkern für Depression und LSD gegen Ängste – auf dem diesjährigen Kongress der DGPPN referierten Fachleute zu neuen Therapien und auch dunklen Kapiteln der psychiatrischen Medizingeschichte. Und in der Diskussion um die aktuelle Reform der Suizidassistenz ist vor allem eins gefordert: Klarheit. Diese und weitere Highlights haben wir für Sie zusammengefasst. Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin 23-26.11.2022. Symposium L-19: Mazda Adli im Gespräch mit Herta Müller

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