Dunkles Kapitel: Arzneitests bei Kindern und psychisch Kranken

Ein dunkles Kapitel in der Psychiatrie: Bis in die 1970er-Jahre nahmen epilepsiekranke Kinder und Erkrankte in psychiatrischen Kliniken ohne Wissen und Einwilligung an Arzneistudien teil. Die Ärztinnen und Ärzte hatten keine ethischen Bedenken, der Staat duckte sich weg. Zwei Studien klären auf. Wie wenig Gedanken sich die Ärzte über ihre Experimente machten, wird an der teilweise sehr guten Dokumentation deutlich: 63 von 265 Kindern, also etwa ein Viertel, zu denen noch Akten ausfindig gemacht werden konnten, waren in der Epilepsieklinik in Bethel zwischen 1950 und 1972 mit ungeprüften Arzneien behandelt worden, hauptsächlich mit neu entwickelten Antiepileptika, und zwar ohne dass die Ärzte es für nötig erachtet hatten, die Eltern darüber zu informieren. Dabei hätte es den Verantwortlichen auch damals schon klar sein müssen, dass ein solches Vorgehen nicht rechtmäßig ist, erläuterte Professorin Maike Rotzoll vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Heidelberg auf dem DGPPN-Kongress in Berlin. Die Arzneimittelversuche in Bethel sowie in vielen anderen Kliniken, Heimen und Institutionen kamen nach Recherchen der Krefelder Pharmazeutin Sylvia Wagner vor sechs Jahren ans Licht. Es folgten systematische Aufarbeitungen, zum Teil auch im Auftrag der betroffenen Kliniken. So prüfte ein Team um Rotzoll im Auftrag der Stiftung Bethel die Praktiken in der Epilepsieklinik Mara. Diese war in Bethel 1962 neu gebaut worden und leitete einen Wandel ein. Stand zuvor die Pflege und Betreuung der „Schwachen und Schwächsten“ im Vordergrund, ein „Heil statt Heilung“, begann mit Mara eine Klinifizierung und Forschungstätigkeit, zum Teil gegen den Widerstand der geistlichen Leitung, berichtete Rotzoll. Gegen den Willen der Eltern Zu den Forschungsaufgaben zählte auch die Prüfung von Arzneimitteln. Diese begann Ende der 1940er-Jahre und dauerte bis 1972, die meisten Prüfungen fanden zwischen 1960 und 1964 statt. 44 der Kinder erhielten ein neuartiges Antiepileptikum wie Sultiam oder Carbamazepin, 23 ein Psychopharmakon und sechs beides, zwei bekamen das Tuberkulostatikum Conteben. 47 Patientinnen und Patienten wurden zudem mit nicht zugelassenen Präparaten aus dem Ausland behandelt. In keinem Fall waren die Eltern der Kinder über die Versuche informiert worden, eine Mutter hatte sich, nachdem sie davon Wind bekommen hatte, solche Experimente verbeten: „Ich möchte nicht, dass mein Sohn irgendwelche Spritzen in den Kopf bekommt. Er ist keiner, an dem etwas ausprobiert wird. Wenn etwas ist, möchte ich als Mutter um Erlaubnis gebeten werden“, hieß es in einem Brief an die Klinik. Der Ärztlicher Leiter des Kinderbereichs versicherte der Mutter, dass an ihrem Kind nichts ausprobiert werde, ordnete kurz darauf aber ein neues Versuchspräparat an. Zumindest, so Rotzoll, sei die Medikamentenforschung im Sinne der Betroffenen erfolgt – die Ärzte suchten nach einem Mittel, die Anfälle zu lindern, allerdings genügten die Prüfungen weder heutigen Evidenzstandards noch den damaligen ethischen Grundsätzen. Von randomisierten und placebokontrollierten Studien war die medizinische Forschung noch weit entfernt – ein Medikament wirkte dann, wenn ein Arzt eine Wirkung feststellte. Der Staat überließ es den Medizinern und den pharmazeutischen Unternehmen, wie sie ihre Medikamente prüften. Das änderte sich erst 1976 mit dem Zweiten Arzneimittelgesetz. Immerhin wurde die Wirksamkeit in Bethel über Vorher-Nachher-Untersuchungen mittels Anfallsbücher dokumentiert. Einwilligung war schon damals nötig Das eigenmächtige Vorgehen der Ärzte war aber schon damals nicht gesetzeskonform. Seit einem Urteil des Reichsgerichts von 1884 galten ärztliche Eingriffe ohne Zustimmung der Betroffenen oder ihrer Vertreter als rechtswidrig, dies wurde mit dem „Elektroschockurteil“ des Bundesgerichtshofs 1954 bestätigt: Danach ist nicht nur eine Einwilligung der Patienten für eine Behandlung nötig, sondern auch eine Aufklärung: Sie müssen die „Tragweite des Eingriffs in ihren Grundzügen erkennen“. Um eine Einwilligung machten sich aber auch Ärzte in psychiatrischen Einrichtungen oft keine Gedanken. Für eine weitere Untersuchung nahmen Dr. Christoph Beyer, ebenfalls vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Heidelberg, sowie Professor Cornelius Borck vom Fachgebiet Medizin- und Wissenschaftsgeschichte der Universität Lübeck die Psychopharmaka-Erprobung in Schleswig-Holstein unter die Lupe. Sie fanden zwischen 1949 und 1975 insgesamt 43 Arzneiprüfungen und 37 Anwendungsbeobachtungen, davon 17 bei Minderjährigen. Diese erfolgten praktisch flächendeckend in allen größeren psychiatrischen Institutionen, aber auch in Behinderteneinrichtungen, davon betroffen waren mehr als 3000 Personen. Verabreicht wurden neue Neuroleptika, Antidepressiva, Antiepileptika und Tranquilizer. Auch hier ergaben sich keine Hinweise auf eine Einwilligung der Probanden, vielmehr kamen die Prüfpräparate ohne eine besondere Indikation oft bei allen Patienten einer Institution zum Einsatz. In einem Prüfdokument zum Wirkstoff Bayer 1433 mite heißt es: „Eine Indikation lässt sich noch nicht angeben … d. h., es ist eine Merkmalsprüfung erforderlich, wobei einfach jeder aufgenommene Patient mit Bayer 1433 behandelt wird.“ Keine Reflexion ethischer Fragen Solche „Gemeinschaftsprüfungen“ wurden von der „Anstalts-Arbeitsgruppe“ entwickelt, einem Zusammenschluss mehrerer deutscher psychiatrischer Kliniken. In gewisser Weise entwarfen sie die Vorläufer großer multizentrischer Studie, berichteten Beyer und Brock. Erstmals wurden einzelne Präparate an verschiedenen Kliniken mit großen Patientenzahlen untersucht und die Effekte über standardisierte Merkmalskataloge erfasst, um eine statistisch valide Auswertung zu ermöglichen. So erfassten Ärzte und Pflegekräfte mit „Meldekarten“ über 100 Symptome und Nebenwirkungen. Im Mittelpunkt stand zunächst aber weniger die Wirksamkeit gegen bestimmte psychische Symptome als die generelle Wirkung auf den menschlichen Organismus: „Wir vermeiden bei der Prüfung einer neuen, möglicherweise psychotrop wirkenden Substanz eine Selektion, um kein einseitiges und falsches Wirkspektrum des Mittels zu erhalten“, heißt es in einer Publikation aus dem Jahr 1969 zur indikationslosen Applikation. Die Anstalts-Arbeitsgruppe organsierte bis 1969 insgesamt 18 Gemeinschaftsstudien, bei mindestens acht handelte es sich um experimentelle Wirkstoffe, zu keiner Studie gebe es Hinweise zur Einwilligung und Aufklärung, so die beiden Medizinhistoriker. Man habe damals zwar eingehend diskutiert, wie sich die Methodik der Medikamentenprüfung verbessern lasse, und sei vom Arzturteil zu einer objektivierbaren und quantifizierbaren Bewertung gekommen, habe sich aber nicht mit ethischen und rechtlichen Fragen beschäftigt. Besonders kritisch sehen Beyer und Borck die fehlende Nutzen-Schaden-Abwägung sowie die fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen: Wer ein Neuroleptikum oder ein Antidepressivum bekommt, obwohl keine Psychose oder Depression vorliegt, hat nichts davon, das unterscheidet solche Untersuchungen von denen mit Antiepileptika bei epilepsiekranken Kindern. Noch am Vorabend des ersten substanziellen Arzneimittelgesetzes habe es keine Reflexion ethischer Fragen gegeben, stellen Beyer und Borck fest. Empfehlung der Redaktion Berichte vom hybriden DGPPN-Kongress Das Dossier zum DGPPN-Kongress 2022 Vom Psychoterror der Diktaturen, Biomarkern für Depression und LSD gegen Ängste – auf dem diesjährigen Kongress der DGPPN referierten Fachleute zu neuen Therapien und auch dunklen Kapiteln der psychiatrischen Medizingeschichte. Und in der Diskussion um die aktuelle Reform der Suizidassistenz ist vor allem eins gefordert: Klarheit. Diese und weitere Highlights haben wir für Sie zusammengefasst. Quelle: Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin 23.–26.11.2022. Symposium 029: Neue Erkenntnisse zu einem „verdrängten Kapitel“: Psychopharmaka-Prüfungen an Minderjährigen und Erwachsenen in der BRD 1949–1975

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