„Wir begleiten Patienten von Kindheit an!“

Der 70. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie steht im Zeichen mehrerer Paradigmenwechsel der Medizin, aber auch der damit verbundenen politischen, personellen und technischen Probleme. Ärzte Zeitung / Springer Medizin: Herr Professor Fornara, die DGU hat so viele Mitglieder wie noch nie, sie ist multi medial präsent, der PSA-Test gilt als rehabilitiert, die ambulante spezialfachärztliche Versorgung urologischer Tumoren ist gestartet, die Ständige Impfkommission hat, wie von der DGU gefordert, die HPV-Impfung für Jungen empfohlen – es scheint, die deutsche Urologie „hat einen Lauf“. Professor Paolo Fornara: Das kann ich unterschreiben! Und es zeigt, wie vielfältig sich die DGU aufgestellt hat. Wir Urologen begleiten Patienten von Kindheit an und das wird vermehrt wahrgenommen. Und ich möchte ergänzen: die Gesundheitsministerkonferenz der Länder hat ein Maßnahmenpaket inklusive der Prüfung der Widerspruchslösung bei der Organspende nach dem Aufruf der DGU verabschiedet. Wo viel Licht ist, gibt es auch Schatten. Nur ein bis zwei von hundert Medizinstudenten wollen in die Urologie gehen. Woran liegt’s? Uns, wie in anderen Fachdisziplinen auch, fehlt der Nachwuchs leider nicht nur im ärztlichen, sondern auch im pflegerischen Bereich. Die DGU unternimmt sehr viel, um die Urologie bei jungen Kolleginnen und Kollegen wie auch in der Öffentlichkeit in ihrer Vielfalt interessant darzustellen, der Schülertag beim DGU-Kongress ist nur ein Beispiel. Die grundsätzlichen Ursachen für das Nachwuchsproblem sind vielfach benannt worden. Ich frage: Warum diskutieren wir das immer vom Ende her? Lasst uns über die im internationalen Vergleich überholten Zulassungsbedingungen zum Medizinstudium in Deutschland reden. Anderswo entscheiden nicht die Abiturnoten, sondern Eignungstests darüber, ob jemand Medizin studieren darf oder nicht. Regional sollten wir für familiengerechte Arbeitsplatz-Bedingungen sorgen. Und national müssen sich die gesetzlichen Arbeitszeitbestimmungen natürlich auch in den Personalschlüsseln wiederfinden. Der 70. DGU-Kongress hat sich im Vergleich zum Vorjahr wieder leicht verändert ... Das ist richtig. Der Mittwoch ist zu einem vollwertigen Kongresstag geworden. Und ich habe Themen, die für niedergelassene Kolleginnen und Kollegen von besonderem Interesse sind, vorwiegend auf den Freitagnachmittag und den Samstagmorgen gelegt. Außerdem haben wir die Themen des Kongresses für urologische Pflegeberufe inhaltlich abgestimmt mit den Themen, die besonders niedergelassene Urologen interessieren dürften, zum Beispiel Leitlinien bei benignen Erkrankungen, Entlassmanagement oder Hygienemaßnahmen bei Endoskopien in der Praxis. Eine gezielte Zusammenstellung ist in dem neu eingeführten Programmauszug „Interessantes und Relevantes für die Praxis“ zusammengefasst, es ist an alle niedergelassenen Urologinnen und Urologen bereits Ende Juli versandt bzw. verteilt worden. Ein ebenfalls noch neues Format sind die Crossfire-Sitzungen. Wer nimmt da wen ins Kreuzfeuer? In den drei Crossfire-Sitzungen zu Op-Techniken sowie zu urologischen Karzinomen werden kontroverse Themen von jeweils zwei ausgewiesenen Experten Auge in Auge diskutiert werden: Im Unterschied zum bekannten Pro- und Kontra-Format stehen zwei Rednerpulte auf der Bühne, die Kontrahenten dürfen in den Vortrag, auch mit Dias des jeweils anderen eingreifen. Ich erwarte mir davon eine deutlich lebhaftere Diskussion. Die Checkpoint-Foren sollen das Augenmerk auf wissenschaftlich oder berufspolitisch aktuelle Themen lenken. Eines davon ist geriatrischen Patienten gewidmet. Wo muss die Urologie am alten Menschen noch besser werden? 20 bis 25 Prozent unserer urologischen Patienten sind hochbetagt! Das wirft speziell in der Onkologie aber auch in der Palliativmedizin oder in der Schmerztherapie ganz besondere Fragen auf. Die Herausforderung besteht darin, eine individuell angepasste Diagnostik und Therapie betreiben zu müssen – bis hin zur Option nichts zu tun. Noch mehr als früher müssen wir altersspezifische Komorbiditäten sowie die Demenzproblematik berücksichtigen. Auch in der Pflege ist die Altersstruktur unserer Patienten eine besondere Herausforderung. Stichwort individualisierte oder personalisierte Medizin: Kritiker halten den Terminus für einen Marketingbegriff. Beim GKV-Spitzenverband meint man, dass personalisierte Medizin nichts prinzipiell Neues sei. Worin besteht Ihrer Meinung nach der Paradigmenwechsel? Natürlich haben verantwortungsbewusste Ärzte auch in der Vergangenheit individualisierte Entscheidungen getroffen. Etwas völlig anderes ist es aber, anhand bestimmter Merkmale gezielt den Ausgang einer Maßnahme vorherzusehen. Bisher mussten wir erst im Nachhinein feststellen und akzeptieren, dass bei einem bestimmten Prozentsatz von Krebspatienten etwa eine Chemotherapie nicht oder wenig geholfen hat, die unerwünschten Wirkungen hatte der Patient dennoch. Heute können wir etwa beim Prostata-Ca anhand der Androgen-Rezeptor (AR)-V7 Splice-Variante im peripheren Blut vorhersagen, ob der Patient von einer antiandrogenen Therapie profitieren wird oder nicht. In letzterem Fall würde man ihm natürlich die Therapie ersparen. Der Paradigmenwechsel besteht darin, dass wir mehr und mehr Marker an die Hand bekommen, die uns sehr früh anzeigen, ob wir therapeutisch auf dem richtigen Weg sind – nicht mehr a posteriori Wochen bis Monate nach Therapiebeginn, sondern a priori! Oder nehmen wir Früherkennungsuntersuchungen: Nicht jeder Mann mit einer positiven Familienanamnese für das Prostata-Ca trägt in sich ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Anhand genetischer Merkmale lässt sich das verifizieren und das Screening risikoadaptiert gestalten. Drittes Beispiel: fokale Karzinomtherapien. Heute sind wir in der Lage auch bei begrenzten Karzinomen der Prostata wie bei der Niere schon lange das Organ zu erhalten und dennoch den Tumor zu behandeln. Noch stehen wir am Anfang der personalisierten Medizin. Aber vor fünf Jahren war manches von dem, was wir heute bereits tun, undenkbar! Mit der Individualisierung der Diagnostik und Therapie geht eine zunehmende Komplexität des Versorgungsmanagements einher. Werden wir das ohne technische Hilfen bewältigen können? Wohl kaum. Deswegen ist die Digitalisierung in der Medizin ein so wichtiges Thema! Wir haben in der Medizin in Deutschland mindestens zehn Jahre verloren und leben, verglichen zum Beispiel mit Italien, Estland oder Polen, in der digitalen Steinzeit. Während in anderen Ländern der Umgang mit einer Gesundheitskarte selbstverständlich ist, schieben wir in Deutschland den Moloch Datenschutz vor uns her und haben längst den Anschluss verpasst. Ein Vortrag im zweiten Teil des Plenums am Freitag trägt bezeichnender Weise den Titel „Digitalisierung in der Medizin: Kein Anschluss unter dieser Nummer!“ Und wir zeigen auf, was mit Medical Apps schon heute machbar wäre. Nachdem beim DGU-Kongress 2017 die wissenschaftliche Rehabilitation des PSA-Tests verkündet worden war, hieß es, man wolle sich für ein organisiertes PSA-basiertes Prostatakrebs-Screening einsetzen. Gibt es in dieser Hinsicht Neuigkeiten? Die Empfehlungen der DGU für ein risikoadaptiertes, PSA-basiertes Prostatakrebsscreening haben wir schon lange in der Leitlinie festgehalten. Nachdem nun in Nordamerika wie Europa übereinstimmend geklärt ist, dass bei richtiger Indikation mit diesem Screening die krebsspezifische Mortalität gesenkt werden kann, wollen wir das Werben für ein organisiertes Screening fortsetzen. Dazu wird die DGU gemeinsam mit dem Berufsverband der Deutschen Urologen ein wohldurchdachtes Konzept entwickeln. Ist denn methodisch nichts Besseres in Sicht als der PSA-Test? Die Entwicklung geht weiter. Jedoch sehen wir bei Kernspinuntersuchungen im Moment noch zu viele falsch positive Ergebnisse und die Befundinterpretation ist noch zu stark untersucherabhängig. Wir diskutieren derzeit über die Genauigkeit der MRT/ Ultraschall-Fusionsbiopsie oder über genetische Merkmale, die in Zukunft eine Rolle spielen könnten. All das werden wir beim Kongress, vielfach auch kontrovers, besprechen. Weltweit am besten untersucht und nun definitiv anerkannt ist eben das PSA-basierte Screening. Wichtig ist dabei eine vernünftige Indikation, die korrekte Durchführung und eine kompetente Interpretation der PSA-Testergebnisse, um unnötige Diagnostik zu vermeiden. Minimal-invasive und Roboter assistierte Operationen werden in der Urologie bereits vielfach angewendet, bis hin zu Nierentransplantationen. Wird sich diese Entwicklung weiter fortsetzen? Die offenen Op.-Techniken werden damit zunehmend ergänzt, teilweise aber auch ersetzt. Bei vielen chirurgischen Indikationen verdrängen minimal-invasive Op.-Techniken die offene Chirurgie. Für die Urologie stehen beispielhaft die transurethralen Techniken beim Prostataadenom oder die Steintherapie, keine Niere wird heute wegen eines Steines noch offen operiert. Inzwischen gilt das auch weitestgehend für Nierentumore. Ich erinnere mich, dass die ersten laparoskopischen Prostatektomien Empörung und auch Entsetzen ausgelöst haben. Inzwischen haben wir zum Beispiel in Halle seit Jahren keine radikale Prostatektomie mehr offen chirurgisch vorgenommen. Die Robotik ist der nächste Paradigmenwechsel in der Urologie. Sie ermöglicht unter anderem, was laparoskopisch bislang nicht möglich war: die direkte Operation am Gefäß. In den vergangenen zwei Jahren haben wir 20 Nierenlebendtransplantationen robotisch assistiert durchgeführt – europaweit sind es knapp 200 derartige Transplantationen, viele Teams lassen sich in Homburg / Saar oder bei uns schulen. Sobald weitere Unternehmen mit neuen Operationsrobotern auf den Markt treten, erwarte ich einen deutlichen Schub dieser Entwicklung. Lassen Sie mich diese Entwicklung mit der extrakorporalen Stoßwellen lithotripsie (ESWL) vergleichen: 1982 war die Klinik in München-Großhadern die einzige in Deutschland, die einen Lithotripter hatte und es gab Stimmen, wonach die offene Steinchirurgie nie verschwinden werde. Heute ist die ESWL nicht mehr als ein Bestandteil eines urologischen Multifunktionstisches. Welche Kongressinhalte zu benignen urologischen Erkrankungen möchten Sie in diesem Jahr besonders hervorheben? Sehr wichtig ist die Vorstellung der neuen Leitlinie zur interstitiellen Zystitis. Das Krankheitsbild ist womöglich weiter verbreitet, als wir annehmen. Und es ist weniger bekannt, als wir denken. Diese Leitlinie fasst also nicht nur den aktuellen Wissensstand zusammen, sie schafft auch Aufmerksamkeit. In der Infektiologie müssen wir uns mit Resistenzentwicklungen und Strategien zum rationalen Einsatz von Antiinfektiva auseinandersetzen. Es geht um die nachhaltige Sicherstellung der Infektionsbehandlung und Infektionsprävention, international als Antibiotic Stewardship bezeichnet. Hier sehe ich einen hohen Informationsbedarf, weil wir diese Dinge heute deutlich anders wahrnehmen als noch vor wenigen Jahren. Neurogene Blasenentleerungsstörungen, weibliche und männliche Inkontinenz, Transplantation und Jungenurologie sind weitere Themen, denen wir auf dem diesjährigen DGU-Kongress besondere Aufmerksamkeit schenken werden. aus: Kongresszeitung zum 70. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU), 26.–29.9.2018, Dresden Empfehlung der Redaktion Kongressdossier DGU-Kongress 2018 Ist die Prostataarterienembolisation nur ein Hype? Wie können wir die Gefahr multiresistenter Erreger eindämmen? Welchen Einfluss haben Medikamente auf den PSA-Wert? Diese und weitere spannenden Fragen wurden auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie diskutiert. Mehr dazu finden Sie in unserem Kongressdossier.

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