Erschienen in:
01.01.2015 | Leitthema
Die Funktion eines allgemeinen Krankheitsbegriffs aus historischer Perspektive
verfasst von:
Prof. Dr. V. Hess, R. Herrn
Erschienen in:
Der Nervenarzt
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Ausgabe 1/2015
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Zusammenfassung
Der Beitrag stellt sich der Frage, warum die Medizin einerseits über keinen allgemeinen Krankheitsbegriff verfügt, der auch allgemein verbindlich, d. h. vom Arzt, dem Kranken und der Gesellschaft, anerkannt und geteilt wird, andererseits aber ohne einen solchen keine verbindliche Unterscheidung zwischen „deviant“ und „krank“ treffen kann. Anhand eines historischen Überblicks zeigen die Autoren, dass wandelnde Krankheitskonzepte nicht als Resultat einer Verwissenschaftlichung der Medizin begriffen werden dürfen. Vielmehr lehrt die Geschichte, dass anthropologische, soziokulturelle und psychosomatische Konzepte im Gegensatz zu dem wirkungsmächtigen naturalistischen Krankheitsverständnis davon ausgehen, das Krankheit nicht ausschließlich über die Pathologie erfasst, beschrieben und kategorisiert werden kann. Folglich lässt sich Krankheit nur relational auf das jeweilige soziale Bezugssystem bestimmen, wie ein Fallbeispiel aus der Berliner Nervenklinik des frühen 20. Jahrhunderts veranschaulicht. Eine verbindliche Festlegung „ist krank“ stellt somit eine normative Festlegung dar. Die Autoren plädieren dafür, diese normative Setzung als gesellschaftliche Übereinkunft zu begreifen und als solche transparent zu gestalten.