Apophysen und Apophysenfugen unterscheiden sich in ihrem Aufbau nicht wesentlich von Epiphysen und Epiphysenfugen, im Gegensatz zu diesen tragen sie jedoch nicht zum Längenwachstum der Extremitäten bei. Sie sind den jeweilig benachbarten Gelenken zugeordnet. Das apophysäre Wachstum bestimmt hierbei Hebellängen und beeinflusst die Gelenkform und -struktur. Der formative Reiz hierzu geht von Muskeln aus, die sehnig an den Apophysen inserieren oder diese überwölben.
Apophyse des Trochanter major
Die Apophyse des Trochanter major trägt wesentlich zur Kraftarmlänge des Hüftgelenkes bei. Ihre Wachstumsleistung bestimmt, ob sich der Schenkelhals valgisch oder varisch entwickelt, letztendlich hängt davon auch ab, ob eine Hüfte dezentriert oder nicht.
Tibiaapophyse
Die Tibiaapophyse gibt vor, wie stark das Tibiaplateau nach ventral oder dorsal geneigt ist (tibialer Slope) und beeinflusst somit die sagittale Stabilität des Kniegelenkes. Ist sie verletzt, dann entwickelt sich ein schwierig zu behandelndes Genu recurvatum.
Calcaneusapophyse
Die Calcaneusapophyse gibt die Länge und Stellung des Fersenbeines vor und trägt hiermit entscheidend zum Drehmoment des oberen Sprunggelenkes bei.
Zusammenfassung
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Apophysen als Stellschrauben angesehen werden können, welche das Wachstum, die Form und Struktur ihrer benachbarten Gelenke lenken.
Dieser Beitrag enthält drei Videos, die die Belastung des Trochanter major im Gangzyklus mittels inverser Dynamik dreidimensional fortlaufend darstellen. Dieses Supplementary Material finden Sie unter 10.1007/s00132-016-3222-4
Die Epiphysenfugen sind der Motor des Längenwachstums, während Apophysen bzw. Apophysenfugen hierzu nichts oder vernachlässigbar wenig beitragen. Da nun aber am Bein jedem großen Gelenk großvolumige Apophysen und großflächige „Apophysenfugen“ zugeordnet sind, stellt sich die Frage, welche Funktion den Apophysen im Laufe der Evolutionsgeschichte und am ausgereiften Skelett des modernen Menschen zukommt.
Die Apophyse des Trochanter major
Ein auf Anderson et al. [1] zurückgehendes, zeitlos gültiges und alltagstaugliches Verteilungsschema des Skelettwachstums quantifiziert, welchen Anteil die verschiedenen Knorpelfugen des Femur und der Tibia am gesamten Längenwachstum des Beines haben. Da das koxale Femurende sowohl in der Evolutionsbiologie [15, 30, 31] wie auch in der historischen Biomechanik [12, 17, 22] als auch in der modernen Mechanobiologie [2, 3, 7, 16, 25, 28] der meistbeachtete Abschnitt eines Röhrenknochens ist, sei als erstes und am ausführlichsten das Zusammenspiel der dort befindlichen Knorpelfugen beschrieben. Aus der Anthropologie ist bekannt, dass der reife aufrechte Gang unter anderem mit einer zunehmenden, ökonomisch vorteilhaften Spurverschmälerung einherging. Im Laufe der Evolution rückte das Femur immer mehr zum Körperschwerelot, was zum einen dadurch möglich wurde, dass sich am Kniegelenk ein vordem nicht existenter Valguswinkel ausbildete [30, 31]. Zudem entwickelte sich, relativ spät in der Entwicklungsgeschichte, beim Homo ergaster (z. B. Skelettfund „Turkana Boy“, ca. 1,6 Mio. Jahre alt), aus der Apophyse des Trochanter major kommend, außenseitig am koxalen Femurende der sog. lateral flare (Abb. 1a), der sich bei frühen Aufrechtgehern wie z. B. dem Australopithecus afarensis (Skelettfund „Lucy“, ca. 3,2 Mio. Jahre alt) noch nicht findet. Diese neu erworbene deutliche Ausbuchtung des kranialen Femurschaftes garantierte, dass trotz herangerücktem Femur der Ansatz der Hüftäquilibratoren nach außen verlagert blieb; somit war der Kraftarm des Hüftgelenkes und die Äquilibration des Beckens beim Gehen erhalten (Abb. 1; [14]).
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Betrachtet man das koxale Femurende des Neugeborenen, so fällt auf, dass die Hüftkopfepiphyse und die Apophyse des Trochanter major anfänglich eine chondrogene Einheit bilden, die sich mit einer gemeinsamen konvex gekrümmten Wachstumszone gegenüber der Femurmetaphyse absetzt [20]. Noch vor Laufbeginn sind zwei Wachstumspole zu erkennen, die sich im Weiteren in ihrer Wachstumsrichtung gabeln: Der epiphysäre Anteil der Wachstumsfuge orientiert sich nach kranial und schiebt die im Zentrum zunehmend verknöchernde Epiphyse vor sich her. Der apophysäre Anteil der Wachstumsfuge und die aufsitzende Apophyse des Trochanter major richten sich nach kraniolateral aus (Abb. 2a). Zwischen beiden Polen senkt sich ein Schenkelhalsisthmus ein, der bis zum 12. Lebensjahr knorpelig bedeckt bleibt. Somit ist der Schenkelhals der einzige Skelettabschnitt, der nicht nur sein Längenwachstum, sondern auch sein Breitenwachstum einer enchondralen Ossifikation verdankt.
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Ende des letzten Jahrhunderts tauchten zunehmend Arbeiten auf, die beschrieben, welche Funktion den einzelnen Wachstumsfugen des koxalen Femurendes zukommt. Insbesondere Taussig et al. [32] im französischen Sprachraum und Siffert [27] im angloamerikanischen Sprachraum stellten heraus, dass sich die Fugen des koxalen Femur arbeitsteilig verhalten. Die Epiphysenfuge des Hüftkopfes lässt den Schenkelhals und damit auch das Femur und das Bein in die Länge wachsen (Abb. 2b), die Fuge der Trochanter-major-Apophyse regelt den CCD(Centrum-Collum-Diaphysen)-Winkel und damit den Gelenkzusammenhalt der Hüfte.
Im Jahre 1993 gelang es erstmals, mittels muskelmechanischer Untersuchungen und biomechanischer Modellrechnung die Kräfte zu bestimmen, die das Wachstum des koxalen Femurendes steuern [9]. Es konnte gezeigt werden, dass der M. vastus lateralis von der Apophyse des Trochanter major entspringt und mit den gegenziehenden kleinen Glutäen eine Muskelschlinge bildet, die Avulsionsverletzungen der Trochanterapophyse zur Seltenheit werden lässt [29]. Mit den additiv wirksamen Traktusspannern wird der Trochanter major im Einbeinstand und im Gehen von kraniolateral nach kaudalmedial druckbeansprucht, wobei die errechnete Trochanterresultierende Rt immerhin 60 % der Werte der Hüftgelenksresultierenden Rh aufbringt (Abb. 3a, b). Die Trochanterresultierende ist für das Entstehen des trochantären Offsets verantwortlich, das entsprechend der Abb. 1b immerhin ca. 40 % zu der koxalen Kraftarmlänge beiträgt. Zusätzlich zur zweidimensionalen Berechnung ist es inzwischen möglich, die Belastung des Trochanter major im Gangzyklus mittels inverser Dynamik dreidimensional fortlaufend darzustellen (siehe Video 1–3).
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Im Folgenden war es möglich, die Pathogenese klinisch wichtiger Wachstumsstörungen zu erklären, die durch Fehlfunktionen an der Trochanterapophyse verursacht oder wesentlich verstärkt werden.
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Grundlegend fiel auf, dass langjährig vernachlässigte, primär gesunde Hüftgelenke eine ausgeprägte Coxa valga und auch eine – wenn auch mäßige – Hüftdezentrierung entwickeln. In einer ganganalytischen Studie konnte nachgewiesen werden, dass hierfür vor allem ein sich entwickelndes Duchenne-Hinken verantwortlich ist, das den Wachstumsdruck auf die Trochanterapophyse mindert [23].
Auch die neurogene Hüftdezentrierung, z. B. im Rahmen einer Zerebralparese, beginnt damit, dass die paretisch schwache Muskulatur die Trochanterapophyse zu wenig stimuliert. Die entstehende Coxa valga stellt die Abduktoren steil und beraubt sie damit ihrer hüftzentrierenden Kraft (Abb. 4a, b). Es reicht dann ein Zusatzimpuls, z. B. in Form einer Adduktionsstellung des Beines, aus, um die Hüfte zunehmend zu dezentrieren [10].
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Eine Hirtenstab-Coxa-vara ist immer dann zu erwarten, wenn eine geschädigte Epiphysenfuge den Schenkelhals verkürzt (Abb. 5a, b). Dann sind die Hüftabduktoren mehr in die Waagerechte verkippt und geschwächt, die Trochanterresultierende neigt sich zur Senkrechten und verursacht ein vertikales Überwachstum des Trochanter major [8].
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Die Apophyse des Trochanter major wurde vom amerikanischen Kinderorthopäden Drennan als „Wachhund des Schenkelhalswachstums“ bezeichnet [6], tatsächlich reguliert sie Form und Funktion des gesamten Hüftgelenks mehr als dies anfänglich zu vermuten war.
Die Tibiaapophyse
Die in der deskriptiven Anatomie wenig beachtete und in der funktionellen Anatomie noch nicht beforschte Tibiaapophyse [26] ist streng genommen keine klassische Apophyse, da sie während des gesamten Wachstums mit der proximalen Tibiaepiphyse im Verbund bleibt, ohne sich in irgendeiner Weise von dieser abzugliedern. Allerdings verdankt sie ihre Form und Struktur – wie andere Apophysen auch – sehnigen Krafteinflüssen. Analysiert man hierbei den tibialen Ansatz des Ligamentum patellae genau, dann ist zu erkennen, dass er großteils die Tibiaapophyse überwölbt und dann erst in das Periost der Tibiametaphyse einstrahlt, während ein dünnerer Anteil chondral an der Apophyse angeheftet ist [11]. Wie in Abb. 6 zu sehen, kann dieser apophysäre Anteil sogar isoliert abreißen, ohne dass die Kontinuität der Patellarsehne leidet.
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Da das Kniegelenk beim Gehen überwiegend gebeugt belastet wird, kann angenommen werden, dass hierbei das gestraffte Ligamentum patellae die Tibiaapophyse in ventrodorsaler Richtung druckbeansprucht. Nur so lässt sich erklären, warum sich die apophysäre Wachstumsfuge, die sich wie alle Knorpelfugen waagerecht zu beanspruchenden Kräften einstellt, so stark in die Vertikale krümmt.
Es bleibt zu überlegen, ob der Tibiaapophyse im Wachstum eine ähnliche steuernde Funktion zukommt, wie der Apophyse des Trochanter major. Entsprechend ihrer sagittalen Ausrichtung kann sie allenfalls die Neigung des Tibiaplateaus, den tibialen Slope, beeinflussen. Dieser ist im Normalfall gegenüber der Tibiaschaftachse retrovertiert, wobei ein Durchschnittswert von 10° mit großer Varianz angegeben wurde, der nicht mehr als 5° über- oder unterschritten werden sollte ([4]; Abb. 7). Es fällt nun als erstes auf, dass alle Ereignisse, welche die Apophyse schädigen, z. B. Traumen, apo-metaphysäre Osteomyelitiden, vorzeitige Tuberositasversetzungen, unbedachte Drahtextensionen, lokale Radiotherapien oder selten auch einmal ein Morbus Schlatter, zu einem negativen Slope und damit zu einem schwierig zu behandelnden Genu recurvatum [5] führen (Abb. 7b). Des Weiteren ist bekannt, dass konstitutionell bindegewebslaxe Kinder und Jugendliche dazu neigen, in Rekurvation zu stehen und zu gehen. Dies entspannt den Kniestreckapparat und erklärt somit, warum bei dieser Bevölkerungsgruppe ein tendenziell verminderter Slope beobachtet wird.
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Zusammenfassend kann also postuliert werden, dass die Tibiaapophyse nicht zug-, sondern druck- und scherbeansprucht wird. Ihr kommt im Wachstum eine steuernde Funktion zu. Sie entscheidet über den Slope des Tibiaplateaus und gibt damit vor, wie stabil sich das Kniegelenk in der Sagittalebene verhält.
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Die Calcaneusapophyse
Erst in jüngerer Zeit sind Arbeiten erschienen, die sich mit der Wachstumsdynamik der Fersenbeinapophyse beschäftigen. Sie zeigen auf, dass der Calcaneus ähnlich in die Länge wächst, wie dies an langen Röhrenknochen zu beobachten ist [21], und ähnlich in Stadien verknöchert wie der Beckenkamm ([19]; Abb. 8).
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Betrachtet man Lage, Form und Struktur der Fersenbeinapophyse, so kann man erkennen, dass sich diese leicht konvex gekrümmt entlang der Achse des Tuber calcanei vorschiebt und metaphysenseits starke, quer verlaufende Rillen aufweist. Die Rillen, die sich in der Seitprojektion girlandenförmig darstellen, lassen darauf schließen, dass an der Calcaneusapophyse mehr als an anderen Apophysen überlagernde Scherkräfte wirken, wie dies für Wachstumsfugen allgemein beschrieben wurde ([18]; Abb. 8). Die Wachstumsrichtung der Ferse nach dorsokaudal ist erklärbar, wenn man die beim Gehen aktiv wirksamen Kräfte der Achillessehne und die dabei gegenziehenden passiven Kräfte des plantaren Bandapparates miteinander verrechnet ([13]; Abb. 9). Der Fuß kann hierbei – ähnlich dem Hüftgelenk – als zweiarmiger Hebel angesehen werden, dessen Kraftarm vom Drehpunkt des oberen Sprunggelenks im Corpus tali bis zum Ansatz der Achillessehne reicht, und dessen Lastarm sich in der – von starker Beanspruchung gekennzeichneten – terminalen Standbeinphase des Gehens bis maximal zum Metatarsalköpfchen I schiebt. Da sich das Drehmoment des Kraftarms aus der Multiplikation der Hebelarmlänge und der Kraft der zugehörig wirksamen Muskulatur zusammensetzt, hilft eine lange Ferse Kraft zu sparen. Tatsächlich hat Schultz [24] in einer anthropologischen Studie nachweisen können, dass der humane Fuß gegenüber demjenigen von Menschenaffen relativ längere Fersen und damit günstigere Rückfußhebel aufweist. Der humane Kraftarm beträgt annähernd 40 % der Lastarmlänge, derjenige von Menschenaffen nur ca. 20–30 % des Vorfußhebels.
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Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass das Wachstum der Calcaneusapophyse die Länge und Stellung der Ferse vorgibt und damit das Drehmoment des Rückfußhebels beeinflusst. Dementsprechend kommt auch dieser dritten großen Apophyse des Skelettsystems die Rolle zu, auf das benachbarte Gelenk zu wirken.
Fazit für die Praxis
Wenn die großen Apophysen des Beines zu wenig beansprucht, fehlbeansprucht oder geschädigt werden, muss man nicht befürchten, dass sich dies auf das Längenwachstum des Beines auswirkt. Es besteht jedoch die Gefahr, dass sich die Hebelarmverhältnisse und die Gelenkgeometrie der zugeordneten benachbarten Gelenke so stark verändern, dass das Gelenk nicht mehr funktionsfähig bleibt. So kann sich am Hüftgelenk eine zunehmende Dezentrierung entwickeln, die rechtzeitig durch Beckenosteotomien und/oder Femurosteotomien verhinderbar ist. Das Kniegelenk tendiert zum starken Genu recurvatum, das dann einer anspruchsvollen operativen Therapie mittels dorsaler Epiphyseodese oder ventral aufklappender Tibiakopfosteotomie bedarf. Ein im Wachstum steilgestellter Calcaneus führt zu einem funktionell äusserst ungünstigen Hackengang, sodass auch hier abflachende Rückfußarthrodesen erforderlich werden.
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Einhaltung ethischer Richtlinien
Interessenkonflikt
B. Heimkes gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.
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